Warum die Berichterstattung über Till Lindemann so ekelig ist wie seine Pornos
Seite 2: Alles bleibt im Vagen, die Redaktion sichert sich rechtlich ab
- Warum die Berichterstattung über Till Lindemann so ekelig ist wie seine Pornos
- Alles bleibt im Vagen, die Redaktion sichert sich rechtlich ab
- Wie glaubwürdig sind die Akteure in diesem Skandal?
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Nun kann man zu Recht über die Backstage-Kultur bei Konzerten diskutieren. Oder über Lindemanns Verhältnis zu Frauen und das Frauenbild in seinen Videos – dazu gleich mehr. Ebenso darüber, ob die deutsche Rechtslage Frauen ausreichend vor den beschriebenen Situationen schützt.
Oder man macht es wie NDR und SZ: Man zettelt eine Kampagne an, mit viel Emotion und Formulierungen, die sich bei genauerem Lesen als heiße Luft entpuppen.
Die offensichtlich nicht belastbaren Aussagen von Cynthia A. gehören dazu. Aber auch Sätze wie: "Den Reporterinnen und Reportern liegen zudem weitere Aussagen von Zeuginnen an Eides statt sowie zahlreiche Chat-Protokolle vor."
Aha, denkt man an dieser Stelle, jetzt wird es konkret. Doch dann der Nebensatz: Es handele sich um Chatnachrichten, "die Teile der Vorwürfe unterstreichen sollen". Welche Teile? Das weiß man nicht.
Und was bedeutet das Verb "sollen" in dem Satz? Es drückt aus, so der Duden, "dass der Sprecher nicht für den Wahrheitsgehalt dessen einsteht, was er als Nachricht, Information oder dergleichen weitergibt".
Um es klar zu sagen: NDR und Süddeutsche haben hier eine Story herausgehauen, die schlichtweg nicht ausgereift ist. Die Redaktionen hätten genauer hinterfragen müssen, ob sie genügend Material und Beweise zusammen haben, um Lindemann und seine Band damit zu konfrontieren. So aber werden fehlende Fakten kaschiert und durch Skandalisierung kompensiert.
Denn hier geht es nicht um die Diskussion der Rechtslage oder um die Frage, welches Frauenbild in bestimmten Kreisen einer weitgehend von Kokain und Sex bestimmten Eventkultur vorherrscht. Sondern es geht um mutmaßliche Opfer einerseits sowie Lindemann und sein beruflichen und privates Umfeld andererseits.
Was also bisher bleibt, ist eine an Shitstorms und Cancel Culture orientierte Verdachtsberichterstattung. Diese erzeugt zwar viel Aufmerksamkeit. Die negativen Folgen und Gefahren dieser Berichterstattung überwiegen aber, denn sie:
1. untergräbt den Rechtsstaat, weil sie im wahrsten Sinne des Wortes vorverurteilt;
2. setzt die mutmaßlichen Opfer unter Druck, ihre Vorwürfe untermauern zu müssen; für sie gibt es nun kein Weg mehr zurück;
3. fokussiert einen Einzelfall, ohne die grundlegenden Probleme – Backstage-Kultur, Rechtslage etc. – hinreichend zu diskutieren, um künftige, tatsächliche Opfer effektive zu schützen;
4. rückt die mutmaßlichen Täter schon jetzt derart in den Fokus, dass sie ohne eine rechtsstaatlich festgestellte Schuld konkrete Sanktionen erleiden;
5. schaden, falls sich die Vorwürfe nicht erhärten, dem Schutz von Frauen vor sexueller Gewalt nachhaltig.
Aber Daten prüfen und Urteile abwarten, das ist nicht das Gebot der Stunde. Denn jetzt werden Fakten geschaffen! Allen voran der Verlag Kiepenheuer & Witsch, der Lindemann bisher verlegt hatte. Am Freitag beendete der kurz "Kiwi" genannte Verleger die Zusammenarbeit und merzte Lindemann geradezu von seiner Seite aus. Seither taucht er weder in der Autorenliste auf, noch wird sein Band "100 Gedichte" noch angeboten.