Warum die Inflation ein gefährliches politisches Machtspiel offenbart
Wall Street, Regierungen und Zentralbanken haben sich verzockt. Jetzt droht Insolvenz oder unkontrollierte Inflation. Die Macht des billigen Geldes muss eingedämmt werden.
Die Schuldzuweisungen angesichts steigender Preise halten an. War es zu viel Zentralbankgeld, das zu lange in den Umlauf gebracht wurde, das die Inflation in Gang brachte? War es China, wohin der Großteil der Produktion verlagert worden war, bevor die Pandemie das Land lahmlegte und die globalen Lieferketten unterbrach? War es Russland, dessen Einmarsch in die Ukraine einen großen Teil der weltweiten Versorgung mit Gas, Öl, Getreide und Düngemitteln gekappt hat? War es eine schleichende Abkehr von der Sparsamkeit vor der Pandemie hin zu uneingeschränkter finanzieller Großzügigkeit?
Es gibt eine Antwort, die in der Diskussion nie berücksichtigt wird: Alles und nichts von alledem ist schuld an der Misere.
Für einschneidende Wirtschaftskrisen gibt es häufig mehrere Erklärungen, die alle richtig sind, aber am Thema vorbeigehen. Als die Wall Street 2008 zusammenbrach und die weltweite große Rezession auslöste, wurden verschiedene Erklärungen angeboten: die Aushöhlung der Regulierungsbehörden durch Finanzinvestoren, die in der kapitalistischen Randordnung an die Stelle der Industriellen getreten waren; eine kulturelle Neigung zu riskanten Finanzgeschäften; das Versagen von Politikern und Wirtschaftswissenschaftlern, zwischen einem neuen Paradigma und einer massiven Blase zu unterscheiden; und auch andere Theorien. Alle waren berechtigt, aber keine traf den Kern der Sache.
Das Gleiche gilt auch heute. Die "Wir-wussten-es-ja-schon-immer"-Monetaristen (Wirtschaftstheoretiker, die in der Regulierung der Geldmenge und Angebotspolitik zentrale Stellgrößen der Wirtschaft sehen, Telepolis), die eine hohe Inflation vorhersagten, seit die Zentralbanken 2008 ihre Bilanzen massiv erweitert hatten, erinnern mich an Linke (wie ich), die 2008 eine Freude empfanden, weil sie schon länger den nahenden Tod des Kapitalismus vorhergesagt hatten – wie eine stehen gebliebene Uhr, die zweimal am Tag richtig geht.
Sicherlich haben die Zentralbanken durch die Schaffung riesiger Überziehungskredite für die Banker in der falschen Hoffnung, dass das Geld in die Realwirtschaft tropfen würde, eine historische Inflation bei den Verbraucherpreisen verursacht (boomende Aktien- und Immobilienmärkte, der Krypto-Währungswahn und so weiter).
Aber die monetaristische Geschichte kann nicht erklären, warum es den großen Zentralbanken von 2009 bis 2020 nicht einmal gelang, die in der Realwirtschaft zirkulierende Geldmenge zu erhöhen, geschweige denn die Verbraucherpreisinflation auf ihr Zwei-Prozent-Ziel zu drücken. Etwas anderes muss die Inflation ausgelöst haben.
Die Unterbrechung der auf China ausgerichteten Lieferketten spielte eindeutig eine wichtige Rolle, ebenso wie der Einmarsch Russlands in der Ukraine. Aber keiner der beiden Faktoren erklärt den abrupten "Regimewechsel" des westlichen Kapitalismus von der vorherrschenden Deflation zu ihrem Gegenteil: alle Preise steigen gleichzeitig.
Das würde es nötig werden lassen, dass die Lohninflation die Preisinflation überholt und so eine sich selbst verstärkende Spirale in Gang gesetzt wird, bei der die Lohnsteigerungen zu weiteren Preissteigerungen führen, die wiederum die Löhne wieder ansteigen lassen, ad infinitum. Nur dann wäre es vernünftig, wenn die Zentralbanker von den Arbeitnehmern verlangen würden, dass sie sich "für das Team einsetzen" und von höheren Lohnabschlüssen absehen.
Aber heute ist es absurd, von den Arbeitnehmern zu verlangen, auf Lohnsteigerungen zu verzichten. Alles deutet darauf hin, dass die Löhne im Gegensatz zu den 1970er Jahren viel langsamer steigen als die Preise, und dennoch hält der Preisanstieg nicht nur an, sondern beschleunigt sich.
Was ist also wirklich los? Meine Antwort: Ein über ein halbes Jahrhundert sich hinziehendes Machtspiel, angeführt von Unternehmen, Wall Street, Regierungen und Zentralbanken, ist gründlich schiefgegangen. Infolgedessen stehen die Verantwortlichen in westlichen Staaten nun vor einer unmöglichen Wahl: Entweder sie treiben Großkonzerne und sogar Staaten in den Bankrott oder sie lassen die Inflation unkontrolliert weiterlaufen.
50 Jahre lang hat die US-Wirtschaft die Nettoexporte Europas, Japans, Südkoreas, dann Chinas und anderer Schwellenländer gestützt, während der Löwenanteil der ausländischen Gewinne auf der Suche nach höheren Renditen an die Wall Street floss. Auf dem Rücken dieses Kapital-Tsunamis, der nach Amerika strömte, bauten die Finanzinstitute aus privatem Geld Vermögens-Pyramiden (z. B. aus Optionen und Derivaten), um die Unternehmen zu finanzieren, die ein globales Labyrinth aus Häfen, Schiffen, Lagerhäusern, Lagerplätzen sowie Straßen- und Schienentransporten aufbauten. Als der Crash von 2008 diese Pyramiden zum Einsturz brachte, war das gesamte finanzialisierte Labyrinth der globalen Just-In-Time-Lieferketten gefährdet.
Um nicht nur die Banker, sondern auch das Labyrinth selbst zu retten, sprangen die Zentralbanker ein und ersetzten die Pyramiden der Finanzinstitute durch öffentliches Geld. Währenddessen kürzten die Regierungen die öffentlichen Ausgaben, Arbeitsplätze und Dienstleistungen. Das bedeutet nichts anderes als ein verschwenderischer Sozialismus für das Kapital sowie harte Sparmaßnahmen für die Arbeitnehmer.
Die Löhne schrumpften, Preise und Gewinne stagnierten, aber die Preise für die von den Reichen erworbenen Vermögenswerte (und damit ihr Vermögen) schnellten in die Höhe. So sanken die Investitionen (im Verhältnis zum verfügbaren Bargeld) auf einen historischen Tiefstand, die Kapazitäten schrumpften, die Marktmacht wuchs, und die Kapitalisten wurden sowohl reicher als auch abhängiger vom Geld der Zentralbanken als je zuvor.
Es war ein neues Machtspiel. Der traditionelle Kampf zwischen Kapital und Arbeit um die Erhöhung ihres jeweiligen Anteils am Gesamteinkommen durch Gewinnaufschläge und Lohnerhöhungen ging weiter, war aber nicht mehr die Quelle eines Großteils des neuen Reichtums.
Nach 2008 führte die allgemeine Sparsamkeit zu niedrigen Investitionen (Geldnachfrage), die in Verbindung mit der reichlichen Liquidität der Zentralbanken (Geldmenge) den Preis des Geldes (Zinssätze) nahe null hielten. Da die Produktionskapazitäten (auch im Wohnungsbau) zurückgingen, gute Arbeitsplätze rar waren und die Löhne stagnierten, triumphierte der Wohlstand auf den Aktien- und Immobilienmärkten, die sich von der Realwirtschaft abgekoppelt hatten.
Dann kam die Pandemie, die eine große Veränderung mit sich brachte: Die westlichen Regierungen waren gezwungen, einen Teil der neuen Geldströme der Zentralbanken zu den Bevölkerungen in Lock-Downs zu leiten, und das in Volkswirtschaften, die im Laufe der Jahrzehnte ihre Produktionskapazitäten erschöpft hatten und nun obendrein mit kaputten Lieferketten konfrontiert waren.
Als die von der Pandemie eingeschränkten Massen einen Teil ihres Urlaubsgeldes für knappe Importe ausgaben, begannen die Preise zu steigen. Unternehmen mit großem Reichtum "auf dem Papier" reagierten, indem sie ihre immense Marktmacht (die sich aus ihrer geschrumpften Produktionskapazität ergab) ausnutzten, um die Preise in die Höhe zu treiben.
Nach zwei Jahrzehnten einer von den Zentralbanken unterstützten Bonanza steigender Vermögenspreise und zunehmender Unternehmensverschuldung, das die Welt nach 2008 im Sinne der herrschenden Klasse neu ausrichtete, war eine kleine Preisinflation alles, was es brauchte, um das Machtspiel zu beenden. Und was passiert jetzt?
Wahrscheinlich nichts Gutes. Um die Wirtschaft zu stabilisieren, müssen die Entscheidungsträger zunächst die enorme Macht beenden, die einigen Wenigen verliehen wurde, durchgesetzt in einem politischen Prozess mit "Papiervermögen" und Billigkrediten. Aber die Wenigen werden ihre Macht nicht kampflos aufgeben, selbst wenn es bedeutet, mit der Gesellschaft im Schlepptau unterzugehen.
Dieser Artikel erscheint in Kooperation mit Project Syndicate. Übersetzung: David Goeßmann.