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Warum ein radikaler Intellekt benötigt wird

Graffiti in Zagreb. Foto: Branko Radovanović / CC BY-SA 4.0

Hoffentlich nicht der Letzte seiner Art: der "US-Dissident" Noam Chomsky

Vor Kurzem wurde bekannt, dass das US-Militär im laufenden Jahr mehr Bomben über Afghanistan abgeworfen hat als jemals zuvor [1]. Natürlich fehlen weiterhin viele Zahlen und Fakten. Die Daten stammen nämlich vom Pentagon selbst. In der Vergangenheit waren sie fehlerhaft und unvollständig und zwar ziemlich oft. Es kann also sehr wohl möglich sein, dass zu einem anderen Zeitpunkt viel mehr Bomben abgeworfen wurden, etwa im Jahr 2002, aus dem es gar keine Daten gibt.

Der gegenwärtige Kenntnisstand ist allerdings der beschriebene, und er sollte mehr als nur besorgniserregend sein. Viel hört und liest man allerdings nicht darüber. Es gibt keine Empörung, weder in Washington noch in den Hauptstädten der verbündeten Staaten, die den Afghanistan-Krieg seit fast zwei Jahrzehnten mittragen.

Mittlerweile ist der Krieg am Hindukusch der längste, den die Vereinigten Staaten in ihrer Geschichte geführt haben. Als er begann, waren viele Menschen dafür. Jene wenigen, die sich nach den Anschlägen des 11. Septembers 2001 gegen den "War on Terror" aussprachen, wurden vom Kriegsgeschrei schnell übertönt.

Noam Chomsky war einer von ihnen. Bereits zum damaligen Zeitpunkt engagierte sich der MIT-Professor seit fast einem halben Jahrhundert gegen jene Kriege, die von seiner Regierung initiiert wurden. Als Chomsky auf Einladung von Aktivisten nach Pakistan - einem der wichtigsten Verbündeten der US-Regierung - reisen wollte, um gegen den Krieg im Nachbarland zu sprechen, wurde ihm ein Einreisevisum verweigert.

Auf Chomskys kritische Haltung hatte dies allerdings keinerlei Auswirkung. Stattdessen blieb er das, wofür ihn viele bis heute bewundern: ein kritischer Zeitgenosse, dessen Intellekt in unseren Breitengraden weiterhin als Rarität und als absolute Ausnahmeerscheinung wahrgenommen wird. Im nächsten Monat wird Chomsky neunzig Jahre alt.

Er ist ein Gigant, der mehrere Generation beeinflusst hat und der nicht nur von seinen Lesern, Bewundern und Anhängern respektiert wird, sondern auch von vielen seiner politischen Gegner. Was Chomsky sagt, gilt - oder wird zumindest in irgendeiner Art und Weise deutlich aufgenommen.

Von Noam Chomsky und Emran Feroz ist gerade das Buch "Kampf oder Untergang! Warum wir gegen die Herren der Menschheit aufstehen müssen" [2] im Westend Verlag erschienen. In diesem Buch spricht Chomsky über die großen Fragen: Warum herrscht auf unserer Welt weiterhin so viel Ungleichheit? Leben wir bereits in der Dystopie? Steht die Menschheit am Rande der Selbstauslöschung? Warum begehren die "99 Prozent" nicht gegen die "Eliten", die "Herren der Menschheit", wie Chomsky sie einst nannte, auf?

Der, der Lula im Gefängnis besucht

Zur Ruhe gesetzt hat sich Chomsky allerdings noch lange nicht. Dies wurde abermals vor wenigen Wochen deutlich. Während weite Teile der westlichen Welt sich kaum für die jüngsten Präsidentschaftswahlen in Brasilien interessierten und elitäre Wirtschaftskreise den neofaschistischen Jair Bolsonaro als "ihren Kandidaten" favorisierten, reiste er gemeinsam mit seiner Frau Valeria ins Land und stattete den eingesperrten Ex-Präsidenten Lula da Silva einen Besuch im Gefängnis ab.

Dieser ist kein einfacher Inhaftierter, sondern wurde vielmehr von den neoliberalen Eliten, die die Macht im Land abermals an sich gerissen haben, nach einem fadenscheinigen Prozess im vergangenen Jahr ins Gefängnis befördert. Seitdem gilt er als erster politischer Gefangener Brasiliens seit dem Ende der Militärdiktatur.

Daran wird sich auch in naher Zukunft nichts ändern, wie das Ergebnis der Wahlen deutlich gemacht hat. Gewonnen hat nämlich ebenjener Bolsonaro, der von einigen Beobachtern als "Trump der Tropen" bezeichnet wurde. De facto trifft diese Beschreibung nicht ganz zu. Bolsonaro ist nämlich ein bekennender Rechtsextremist und glühender Faschist, der von all den demokratischen Entwicklungen, die Brasilien in den letzten Jahrzehnten durchgemacht hat, nichts hält - und zwar absolut gar nichts.

Stattdessen möchte er die Diktatur des Militärs wiederaufleben lassen, die indigene Bevölkerung dem Erdboden gleichmachen und voll im Dienste jener stehen, die seinen Sieg erhofften, darunter auch Washington und die Wall Street.

Mit dem Sieg Bolsonaros ist jenes schlimmste Szenario eingetreten, vor dem Chomsky während seines Besuchs in Brasilien gewarnt hat. Bereits zuvor hat er regelmäßig darauf hingewiesen, dass es wortwörtlich fünf vor zwölf sei. Konkret bedeutete dies, dass die Menschheit ihrem Untergang geweiht sei, sofern sich in politischer Hinsicht nicht bald etwas verändern würde.

Verantwortlich hierfür war vor allem die Wahl eines "infantilen Größenwahnsinnigen", wie Chomsky Donald Trump bezeichnete. Trump, so Chomsky, habe das Potenzial, die ganze Welt zu zerstören, während er gleichzeitig auf Twitter eine Schimpftirade nach der anderen ablässt.

Dass Chomskys Warnungen vor Trump, Bolsonaro und Konsorten um einiges lauter sind als die von anderen Beobachtern, wird nicht nur seiner Rolle, sondern auch seinen persönlichen Erfahrungen gerecht. Chomsky ist seit fast einem Jahrhundert präsent ist und sich - wie er selbst sagt - seiner Verantwortung in der Welt bereits im frühen Kindheitsalter bewusst geworden ist.

Viele von uns, vor allem Menschen aus meiner eigenen Generation, kennen hauptsächlich den alten Chomsky. Er wirkt wie ein gutmütiger Universitätsprofessor, der für uns alle da ist, ein Methusalem, neben dem selbst die 68er jung und naiv aussehen.

Erster Essay gegen Faschismus im Alter von zehn Jahren

Der junge Chomsky veröffentlichte seinen ersten Artikel in einer Schülerzeitung. Er war damals zehn Jahre alt und schrieb über den Aufstieg des Faschismus in Europa. Hitlers Reden konnte er im Radio hören und obwohl er sie in sprachlicher Hinsicht nicht verstand, so bemerkte er die deutliche Begeisterung der Scharen, die sich um den "Führer" versammelten. Sympathien für die Nazis gab es auch in Chomskys Nachbarschaft in Philadelphia, in der vor allem Iren und Deutsche lebten. Seine Familie gehörte zu den wenigen Juden in der Umgebung.

Jahre später zog es Chomsky gemeinsam mit seiner damaligen Ehefrau Carol nach Israel, wo sie einige Zeit lang in einem eher linkspolitischen Kibbuz lebten. Doch auch hier begann der damals aufstrebende Linguist die vorherrschenden Verhältnisse in Frage zu stellen. Der Rassismus, zum Beispiel gegenüber dunkelhäutigen Juden aus nahöstlichen Staaten, entging ihm nicht.

Ähnlich verhielt es sich mit den zahlreichen Vertreibungen der palästinensischen Bevölkerung, die im Laufe der Entstehung des israelischen Staates stattgefunden haben. Nachdem Chomsky Israel den Rücken gekehrt hatte, wurde der Nahostkonflikt zu seinem wichtigsten politischen Themenfeld. In einer Zeit, in der sich in den USA niemand für die Rechte der Palästinenser interessierte, prangerte Chomsky die israelische Politik, die von Washington bis heute vehement unterstützt wird, lautstark an.

Seine Debatten mit Persönlichkeiten wie dem liberal-zionistischen Juristen und Publizisten Alan Dershowitz gelten bis heute als legendär. Chomskys Haltung zu Israel und Palästina, anderen globalen Konflikten sowie seine stetigen Appelle für eine kritische Aufarbeitung der amerikanischen Geschichte - allen voran in Bezug auf die Sklaverei und den Genozid an den Indianern - wurde auch anhand seines intellektuellen Freundeskreises deutlich, darunter etwa der Historiker Howard Zinn, der Literaturkritiker Edward Said oder der Politikwissenschaftler Eqbal Ahmad. Sie alle verband ein radikaler Zeitgeist, der die vorherrschenden Verhältnisse zutiefst in Frage stellte und dem nach Frieden und Gerechtigkeit verlangte.

Mit fast neunzig Jahren ist Chomsky mittlerweile der Letzte von ihnen. Die Ausdauer, die er weiterhin an den Tag bringt, ist mehr als beachtlich, vor allem, wenn man den Umgang des amerikanischen Establishments mit seiner Person in Betracht zieht. Denn während Chomsky jüngst in Brasilien teils wie ein Superstar empfangen wurde, unter anderem auch von Politikern wie dem Präsidentschaftskandidaten Fernando Haddad, wird er in der eigenen Heimat gemieden.

Es sind nicht CNN und Co., die Chomsky eine Plattform bieten und ihn interviewen, sondern vor allem unabhängige, alternative Medien. Für den Linguistik-Professor, der mittlerweile in Tucson an der Universität von Arizona lehrt, ist ein solcher Umgang keine Überraschung. Regelmäßig betont er, dass etwa chinesische, iranische oder russische Dissidenten vom Westen zelebriert werden, während man die Kritiker in den eigenen Reihen verdrängt und verachtet.

Als großer Intellektueller gilt man in der westlichen Hemisphäre nur, wenn man selbst an den Hebeln der Macht sitzt oder die Position der Mächtigen bedient und verstärkt. Als Paradebeispiel hierfür nennt Chomsky niemand Geringeren als den ehemaligen US-Außenminister Henry Kissinger, der trotz seines Ruhestandes regelmäßig an elitären Polittreffen teilnimmt und von hochrangigen Politikern hofiert wird - und dies trotz der Verbrechen, die er im Laufe seiner Amtszeit ausgeübt hat und die mittlerweile kaum noch von irgendjemandem bestritten werden.

Notwendige Radikalität

Die Kritik an Noam Chomsky selbst ist weitläufig bekannt. Stets wundert man sich darüber, warum er vor allem die USA und die westliche Gesellschaft so stark kritisiert, während er die Verbrechen anderer Staaten und Regime unbeachtet lässt. Die Antwort darauf klingt allerdings umso schlüssiger.

Als Intellektueller - oder als jemand, der sich in einer ähnlichen Position befindet - trägt man in erster Linie die Verantwortung für das Handeln der eigenen Regierung oder der eigenen Gesellschaft. Es liegt demnach auch nahe, dass der Amerikaner Chomsky mit seiner Haltung am ehesten eine Auswirkung auf die amerikanische Gesellschaft hat und dort etwas verändern könnte - und nicht etwa in der chinesischen oder russischen. Die dortigen Dissidenten, und auch das betont Chomsky oft, richten sich ja auch in erster Hinsicht gegen die eigenen Machtstrukturen.

Trotz aller Genialität gibt es natürlich auch Kritik an Chomsky. Selbst viele seiner Mitstreiter und Anhänger betrachten etwa seine Haltung zum Bürgerkrieg in Kambodscha, zum Balkankrieg sowie jüngst auch zum Krieg in Syrien als problematisch. Wer Chomsky kennt, weiß allerdings auch, dass er stets an eine Debatte interessiert ist, sofern diese nicht emotionalisierend und auf einer persönlichen Ebene geführt wird.

In Anbetracht der Umstände lässt sich allerdings vor allem folgendes feststellen: Noam Chomsky gehört zu den Letzten seiner Art. Sein Intellekt sowie seine radikal-kritische Haltung gehören in der heutigen Welt - allen voran in der westlichen - zu einer Rarität, die dringend benötigt wird. Was Chomsky sagt, ist oft unbequem, und das ist auch gut so.

Im Laufe seines Lebens hat Chomsky mit dieser Haltung mehrere Generationen beeinflusst, und kaum jemand, der sich mit den wichtigen Fragen unserer Zeit kritisch befasst, hat sich nicht auch mit Chomsky auseinandergesetzt und dessen Schriften verschlungen.

Dies ist weltweit der Fall gewesen, egal ob in den USA und in Europa oder in der Türkei, im Iran oder in Afghanistan. Das Vermächtnis, das Chomsky hinterlassen wird, ist riesig - ebenso die damit verbundenen Aufgaben. Es liegt an uns, der jungen Generation, all dies ehrenhaft fortzusetzen.

Noam Chomsky, Emran Feroz: "Kampf oder Untergang! Warum wir gegen die Herren der Menschheit aufstehen müssen", 192 Seiten, Westend Verlag, 2. November 2018


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Links in diesem Artikel:
[1] https://www.forbes.com/sites/niallmccarthy/2018/11/13/the-u-s-never-dropped-as-many-bombs-on-afghanistan-as-it-did-in-2018-infographic/amp/?__twitter_impression=true
[2] https://www.westendverlag.de/buch/kampf-oder-untergang/