Warum es Ohrwürmer gibt
Melodien nisten sich im Vorderhirn ein und beeinflussen uns mehr, als wir vermuten
"Musik, Emotionen und Gehirn bilden eine mächtige Einheit", sagte der Neurophysiologe Petr Janata. "Obwohl nur eine Region im Großhirn das Musikalische spiegelt, verbergen sich im Hintergrund weitere Funktionen, die für unser Wohlbefinden wichtig sind oder die Richtung vorgeben, in der emotionale und nicht-emotionale Eindrücke verarbeitet werden." So das neueste Ergebnis der Hirnforschung, über die er und seine Mitarbeiter vom Dartmouth College in Science berichten.
Die Versuchspersonen sind musikerfahren und können die Töne danach unterscheiden, ob sie von einer Flöte oder einer Klarinette gespielt werden. Ferner erkennen sie Noten, die nicht in die Tonalität hineinpassen. Unter diesen beiden Aufgaben erstellen die Hirnforscher Magnetresonanzbilder (fMRI) und zeigen, dass mit dem Hören nicht nur das schon vorher bekannte Hirnzentrum für Akustik angesprochen wird, sondern vieles mehr in Bewegung gerät: Kräftige Ströme fließen in verschiedene Regionen der oberen sowie mittleren temporalen Hirnwindungen.
Die Melodie stimuliert ein Netzwerk, das auf Zonen übergreift, die von den Wissenschaftlern in ihren bisherigen Experimenten isolierten Merkmalen zugeordnet werden, nämlich der Aufmerksamkeit, dem Erinnerungsvermögen und der emotionalen Reaktion. Die richtige Musik, auch das ist wissenschaftlich bewiesen, bewegt uns weitaus mehr als die Sprache oder unzusammenhängende Einzeltöne.
Sind acht musikerfahrene Personen für solchermaßen globale Feststellungen repräsentativ? Immerhin ist das musikalische Empfinden subjektiv und von Vorlieben geprägt. Tatsächlich gibt es eine Einschränkung. Das verbindende Element für die Versuchsteilnehmer ist das Musikverständnis aus westlicher Tradition: Trotz aller Vielfalt beruht das musikalische Empfinden auf dem harmonischen Klang. Arnold Schönberg, der Theoretiker der westlichen Musik, hat 1946 in seinem Werk "Die formbildenden Tendenzen der Harmonie" auf die Grundlagen hingewiesen und einen Faden aufgenommen, den J. S. Bach in seinem "Musikalischen Opfer" intuitiv durchspielt: Rätselkanons, deren Einsätze von den Spielern selbst herausgefunden werden müssen, sowie kanonische Fugen.
Daraus haben Musiktheoretiker die Möglichkeit geschaffen, die Modulation der Tonalität bildhaft aufzuzeichnen. Angefangen hat es mit dem Möbiusband, der Papierrolle, auf der statt Noten die wechselseitigen Beziehungen notiert werden. Krumhansl und Kessler benutzten psychoakustische Experimente, aus denen sie mit dem Torus ein dreidimensionales Modell entwickelten, auf dem die Töne einer Melodie hierarchisch angeordnet sind. Dominant sind Töne, die nachklingen, das Gefühl eines Schlussakkordes vermitteln oder konkordant bleiben. Weiter unten in der Hierarchie rangieren Töne, die im melodischen Zusammenhang weniger konsistent oder dissonant sind.
Auf diese Vorarbeiten gründen sich die Untersuchungen von Janata und Mitarbeitern. Sie standardisieren die subjektive Empfindung, indem sie eine Melodie verwenden, die im Sinne eines klaren geometrischen Modells komponiert ist.
Jeffrey Birk, der Komponist der synthetischen 8-Minuten-Sequenz, setzt "24 keys" im Sinne des nicht enden wollenden Torus in Klang. Das Ergebnis macht das Besondere der wissenschaftlichen Untersuchung aus: Die Hirnforscher können drei Vektoren miteinander verbinden, nämlich das geometrische Modell der Melodie, die Beantwortung der Fragen sowie die ins Bild gesetzte Reaktion des neuronalen Netzwerkes.
"Musik ist ein so begehrter Stimulus; sie ist nicht lebensnotwendig, und dennoch zieht sie uns in ihren Bann, und wir brauchen sie," schwärmt Petr Janata - gewiss nicht persönlich unbelastet, ist er doch mit der Sängerin und Texterin Katie Henry verheiratet. Unverkennbar ist, dass Menschen mit musikalischem Feeling die rostromediale Region ihres Vorderhirns in Gang halten. Im Unterschied zur Sprache oder zum Riechen wird durch die Musik ein weit gefächertes Netzwerk aktiviert, und mehr noch: Die von der Melodie gemappte Region unterliegt von Tag zu Tag deutlichen Variationen.
Das ist eine dynamische Topographie, die erklärt, warum die Musik das eine Mal zum Tanzen anregt, zu anderer Zeit nur zum Lächeln, indem wir uns an sie erinnern, oder warum sie überhaupt den Wunsch weckt, nach der Melodie zu tanzen.
Petr Janata.
Die Ergebnisse und weitere Resultate aus einer zweiten Studie, die kürzlich im Journal Cognitive, Affective and Behavioral Neuroscience publiziert wurde, zeigen: Wir wissen viel zu wenig über die Biologie der emotionalen Einflüsse auf unser Denken und Handeln. Bisher versuchen die Neurophysiologen, ihre Experimente so abstrakt wie möglich zu gestalten, um schwierig interpretierbare Einflüsse zu unterdrücken. Die von Janata und Mitarbeitern gewählte Transformation der subjektiv empfundenen Musik in ein berechenbares Modell ist ein beachtlicher Schritt vorwärts und zugleich der Stimulus, mehr als bisher nach verwertbaren mentalen Modellen zu suchen.
Die Mathematik in der Musiktheorie hat gezeigt, dass begnadete Musiker und Komponisten ihre Melodien um einen oder mehrere Referenztöne organisieren. Wenn dabei ein Ohrwurm herauskommt, ist es für den Hörer etwas Rekursives: Die Melodie will und will nicht aus dem Kopf gehen, solange sich daran Erinnerungen klammern. "Wie beim Squash," sagt Petr Janata, "auch im Gehirn jagen die Gedanken wie getrieben mal da, mal dorthin." Ob auf derselben Bahn, ob herumirrend oder zufällig springend? Noch gibt es darauf keine Antwort.