Warum für moderne Industriestaaten Kriege bedrohlicher sind

AKW Three Mile Island, USA. Bild: DOE Photo

Wer Krieg vermeiden will, muss die Folgen im Blick haben. Nach der Landesverteidigung muss noch etwas übrig bleiben, meint unser Autor. Die Risiken seien erheblich.

Hochindustrialisiert und extrem verwundbar, so lauten die kennzeichnenden Attribute der heutigen Zivilisation in Europa. Dichte Ballungszentren mit großer Industriekonzentration prägen im Besonderen die Situation in Mitteleuropa.

Es hat sich eine Lebens- und Arbeitswelt entwickelt, die durch Komplexität, Vernetzung, Arbeitsteilung, Mobilität, Automation und Information gekennzeichnet ist.

Rolf Bader ist Diplom-Pädagoge und Offizier a.D. der Bundeswehr.

Die Interoperabilität fast aller Arbeitsbereiche durch verschiedenste Kommunikations- und automatisierte Informationssysteme trägt zwar zur Produktions- und Effizienzsteigerung bei, erhöht aber gleichzeitig die Störanfälligkeit und Verwundbarkeit des Gesamtsystems.

Die Gefahren durch Cyberangriffe auf lebenswichtige Versorgungseinrichtungen einer Gesellschaft wie Strom, Wasser und Logistik sind allgegenwärtig.

Hacker-Angriffe auf die EDV-Systeme des Deutschen Bundestages, Stadtverwaltungen, Banken und Industrieunternehmen waren erfolgreich.

Eine Unterbrechung des Kühlsystems von Atomkraftwerken - trotz redundanter Absicherung - wäre ein Super-GAU-Szenario mit unabsehbaren Folgen.

Die Leistungsfähigkeit und Stärke der hochentwickelten Industriestaaten hängen ab vom Funktionieren einer zivilen Infrastruktur, die hochgradig verletzlich ist und bereits mit nichtatomarer Munition und "intelligenten" Waffenträgern – niedrig fliegende, gelenkte Drohnen, Raketensysteme – ausgeschaltet werden kann.

Ohne diese Infrastruktur sind Industriestaaten handlungsunfähig. Allein ein längerer Stromausfall würde die gesamte Infrastruktur lahmlegen und alle wichtigen Lebens- und Arbeitsbereiche einer Gesellschaft empfindlich beeinträchtigen.

Durch gezielte Angriffe droht der Kollaps

Um aber die wichtigsten und großen Elektrizitätswerke und die Schaltzentralen zu zerstören, bedarf es keiner Atomwaffen.

Es reichen "chirurgische" Einsätze mit zielgenauen konventionellen Waffen. Nicht nur den wichtigen Industrieanlagen, auch den lebenswichtigen Bereichen der Trinkwasser-, Fernwärme- und Nahrungsmittelversorgung der Bevölkerung droht der Kollaps.

Eine Zivilisation ohne Strom bedeutet Chaos und Desorganisation des gesellschaftlichen Lebens. Es reicht völlig aus, nur die lebenswichtigen Nervenzellen der Zivilisation zu zerstören, um den ökonomischen und ökologischen Kollaps eines Staates herbeizuführen.

Schon in Friedenszeiten sind die potenziellen Risiken hoch industrialisierter Staaten allgegenwärtig: Vor allem in der Nähe von Großstädten und Ballungszentren sind Industriekomplexe angesiedelt, die bei technischen Unfällen das Leben vieler Menschen gefährden können.

Die Katastrophen von Seveso, Bophal, Tschernobyl und Fukushima sind ein Indiz für die Gefährlichkeit, die von Großtechnologien ausgehen kann.

Industriekatastrophen dieser Art kennen keine nationalen Grenzen noch soziale Schranken. Sie kennen nicht einmal zeitliche Grenzen und können Generationen von Menschen treffen.

Die Irreversibilität der erzeugten Folgen ist ein wesentliches Novum.

Besonders die Atomenergie und die chemische Industrie zählen im Besonderen zu diesen Großtechnologien.

Die geographische Betrachtung der industriellen Struktur Europas zeigt, welches Ausmaß die Ansiedelung chemischer Industrieanlagen vorrangig am Rand oder in der Nähe dicht besiedelter Gebiete erreicht hat.

Industrielle Giftstoffe werden zur Gefahr

In solchen Industrieregionen der Chemie werden heute nichtmilitärische Giftstoffe als Vor-, Zwischen- oder Finalprodukte in Tonnagen hergestellt, weiterverarbeitet, gelagert und transportiert.

Die Beherrschbarkeit der von der chemischen Industrie ausgehenden Risiken ist nur unter Friedensbedingungen realisierbar.

Ein weiteres Risiko sind die in Betrieb befindlichen Atomkraftwerke in 13 Staaten der Europäischen Union.

Obwohl immer wieder behauptet wird, der Schutzmantel der Reaktorblöcke wäre auch bei einer direkten Einwirkung konventioneller Waffen noch intakt, sind Zweifel angebracht.

Es ist eher davon auszugehen, dass mit einer Beschädigung zu rechnen ist. Die Gefahr einer Kernschmelze besteht im Kriegsfall auch schon bei einem längeren Ausfall der Stromversorgung und der Kühlung der Reaktoren.

Die Analyse ließe sich mit etwa gleichen Resultaten auf alle wichtigen Lebensbereiche ausdehnen. Denn auch in der Versorgungs- und Wasserwirtschaft, im Transport-, Kommunikations- und Informationsbereich, im Gesundheitswesen, im Kultur-, Bildungs- und Sozialbereich einer Gesellschaft wären bei einem konventionellen Krieg gravierende Störungen zu erwarten.

Moderne Industriestaaten und ihre Gesellschaften sind somit nur noch unter Friedensbedingungen lebens- und funktionsfähig.

Das sollte für Deutschland Maxime und handlungsleitend sein. Das Bemühen um Rüstungskontrolle, Abrüstung und Entspannung sind und bleiben besonders in Krisen eine zentrale Aufgabe der internationalen Sicherheits- und Friedenspolitik.

Es bedarf verstärkt diplomatischer Initiativen, um Verhandlungen zu befördern. Dazu kann Deutschland einen wichtigen Beitrag leisten.

Rolf Bader, Kaufering (Obb). 1950, Diplom-Pädagoge, ehem. Offizier der Bundeswehr; ehem. Geschäftsführer der Deutschen Sektion der Internationalen Ärzte*innen für die Verhütung des Atomkrieges/Ärzte*innen in sozialer Verantwortung e.V. (IPPNW)

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