Warum ich mich auf die ukrainische Gegenoffensive freue

Screenshot aus der im Text beschriebenen Szene. Bild: Руслан Севастопольский

Seit Monaten wird über die bevorstehende Gegenoffensive der ukrainischen Armee diskutiert. Erwartung von Politikern und Medien geschürt. Warum ich die Hoffnung dennoch nicht verlieren möchte.

Eine große Frage überschattet den Nato-Gipfel in Vilnius: Was ist nötig, damit diese Gegenoffensive erfolgreich ist? Und damit zusammenhängend: Und sind unsere Erwartungen nicht überzogen?

Ich habe kürzlich ein kurzes Video von der Front gesehen. Es waren schreckliche Bilder. Ich entschuldige mich im Voraus bei den Lesern für eine so blutige Beschreibung. Aber es ist die Wahrheit und muss berichtet werden.

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Die Bilder stammen von einer Drohne. Mitten auf einer grünen Wiese ist eine Gruppe ukrainischer Soldaten zu sehen, etwa zehn Mann und ein gepanzerter Mannschaftstransporter Bradley.

Andrii Vlasov, Experte für digitales Marketing und Kommunikation, Mitglied des Journalistenverbandes der Ukraine.

In den ersten Sekunden ist nicht klar, was hier vor sich geht. Doch dann versteht man: Die Soldaten sind in einem Minenfeld gefangen und versuchen, im zu entkommen.

Mehrere Soldaten liegen im Feld, sie sind bereits schwer verwundet, offensichtlich von Minen gesprengt. Andere Soldaten versuchen in das verminte Gebiet vorzudringen, zu ihren Kameraden zu kriechen; um ihnen zu helfen, um sie zu evakuieren.

Doch auch sie werden in die Luft gesprengt! Ein paar Schritte - eine Explosion, ein anderer Soldat geht ein paar Schritte - wieder eine Explosion. Es ist gut zu sehen, wie nach den Explosionen die unteren Gliedmaßen der Soldaten zerfetzt sind, sie ziehen verzweifelt Aderpressen heraus, um die Blutung zu stoppen. Blut rinnt aus den abgetrennten Beinen.

Einige Soldaten kriechen zum Panzerfahrzeug und klettern hinein, hinter ihnen eine breite Blutspur.

Es ist nur ein kurzes Video von einem winzigen Frontabschnitt. -Mehrere schwer verwundete ukrainische Soldaten in fünf Minuten.

Und die Länge der aktiven Frontlinie mit der russischen Armee beträgt etwa 1.500 Kilometer! Und diese ganze Frontlinie ist von den Russen schwer vermint, sie haben mehrere Verteidigungslinien aus schweren Befestigungen gebaut - tiefe Gräben, Unterstände, andere technische Bauten. Soldaten und Material, die zum Angriff übergehen, sind leichte Ziele für die zahlreichen russischen Geschütze.

Deshalb kann die ukrainische Gegenoffensive nicht schnell und episch sein wie der Angriff der Kavallerie Alexanders des Großen auf Dareios.

Buchstäblich jeder Meter des befreiten Gebietes ist mit Blut getränkt und unter großen Mühen erkämpft worden.

Nachrufe, Nachrufe, Nachrufe

In den Tagesmeldungen des ukrainischen Generalstabs heißt es: "Wir sind 700 Meter vorgerückt." Oder: "Wir haben weitere 300 Meter zurückgelegt." Oder: "Wir haben den Rand des Dorfes X erreicht".

Trockene Zahlen, hinter denen immer wieder Nachrufe, Nachrufe und weitere Nachrufe stehen.

Ich sehe sie jeden Tag. Fotos von ukrainischen Männern und Frauen, die im Krieg gefallen sind. Im Zivilleben waren 90 Prozent von ihnen nicht beim Militär und haben auch nie daran gedacht, es zu werden.

Unter den Toten sind Ärzte, Unternehmer, Lehrer, Schriftsteller, Journalisten, Programmierer, Opernsänger, Musiker, Ingenieure, Erfinder, Bauern - die Farben der Nation. Sie alle waren erfolgreich und glücklich in einem friedlichen Leben, jeder von ihnen hatte nahe Verwandte, Kinder im Hintergrund. Nicht selten findet man Nachrufe auf Vater und Sohn, die im Krieg gefallen sind, auf Brüder, die in derselben Einheit als Soldaten gedient haben.

Laut einer aktuellen Umfrage haben 78 Prozent der Ukrainer einen Verwandten, Freund oder Bekannten, der im Krieg gefallen ist. Und das ist leider noch nicht das Ende.

Wenn die ukrainische Armee aufhört zu kämpfen, werden die Russen die Ukraine vollständig besetzen und ihr Versprechen einlösen, Millionen Ukrainer zu vernichten. Die Ukraine wird sterben.

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Und dann sind die baltischen Staaten und die Länder Mitteleuropas an der Reihe. Wenn die russische Armee aufhört zu kämpfen und ihre Truppen einfach aus der Ukraine abzieht, wird Russland nichts Schlimmes passieren. Es wird nur das Leben seiner Soldaten retten.

Die ukrainische Armee muss ihr Land und Europa verteidigen, denn die Ukrainer haben keine andere Wahl als zu kämpfen.

Wenn die Entscheidungsträger in Europa und in den USA diesen Umstand erkennen, sollten sie der Ukraine solche Waffen geben, in solcher Menge und so schnell, dass sie das Leben der ukrainischen Soldaten retten und die Russen zwingen, den Krieg aus Angst vor einer totalen Niederlage zu beenden.

Und natürlich die Nato, das muss man mit Blick nach Vilnius hinzufügen. Die Ukraine sollte Mitglied dieser Organisation werden. Die ukrainische Armee ist heute die fähigste, erfahrenste und motivierteste in Europa, ihre Ostflanke der Verteidigung. Das ist ein gewichtiges Argument!

Andrii Vlasov ist Experte im Bereich digitales Marketing und Kommunikation. Er ist Mitglied des Journalistenverbandes der Ukraine. Zusammen mit seiner Frau, seinen Kindern und seinem Vater lebt er seit 2022 in Deutschland.


Redaktionelle Anmerkung: Wir haben ein Video zu der im Text erwähnten Szene wieder entfernt.