zurück zum Artikel

Warum kam es zum rechtsnationalen Umschwung in Polen?

Die polnische Regierungschefin Beata Szydło von der PiS. Bild: P. Tracz/gemeinfrei

Das Ausland ist fassungslos, auch viele Polen, erst allmählich erwacht die polnische Zivilgesellschaft aus der Schockstarre

Es sind besorgniserregende Nachrichten, die seit der letzten Parlamentswahl im Oktober 2015 aus Polen kommen. Politiker und Journalisten europäischer Medien sind bestürzt. Polen macht wieder Schlagzeilen und namhafte Journalisten und Kommentatoren versuchen sich als Polen-Kenner und -Experten. Der Grundtenor ist jener der völligen Fassungslosigkeit. Wie konnte es passieren? War alles bisher Erreichte in Polen bloß nur eine Fassade, die nun zu bröckeln beginnt?

Wolfgang Müller-Funk wollte in einem Kommentar [1] im österreichischen Standard den Polen und anderen "Osteuropäern" gar "unsere Werte" absprechen und ortete einen "neoautoritären, postkommunistischen Biedermeier" in Osteuropa. Aber wäre es nicht langsam an der Zeit, den Ursachen dieser Entwicklung auf den Grund zu gehen? Was ist dort eigentlich passiert und warum? Bisher wurden diese Fragen kaum beantwortet, ich möchte es im Folgenden versuchen.

Wer sind die PiS-Wähler?

Zuallererst muss festgehalten werden, dass nicht die Polen die nun absolut regierende Partei "Recht und Gerechtigkeit" (PiS) gewählt haben, sondern nur ein relativ kleiner Teil des polnischen Elektorats. Bei einer Wahlbeteiligung von 50% entfielen 37,6% der Stimmen für die PiS. Das bedeutet, dass gerade 19% bzw. 5.7 Millionen von 30 Millionen wahlberechtigten Polen für "Recht und Gerechtigkeit" gestimmt hatten. Aufgrund der Wahlarithmetik hat die PiS nun aber im Sejm, dem polnischen Parlament, die absolute Mehrheit.

Wer sind nun diese Wähler? Zunächst gibt es das Stamm-Elektorat der PiS, die konservativ-katholischen, meist älteren Menschen, in Polen auch geringschätzig Mohair-Mützen genannt (von den typischen Wollmützen, die von Kirchengängerinnen getragen werden). Diese Mindestrentner gelten als Wende-Verlierer, sie scharen sich gerne um Vater Rydzyks verschwörerischen und erzkonservativen Sender Radio Maryja und seine Ableger in vielen Pfarren (Familie des Radio Maryja). Sie sind über Kirchenkreise gut organisiert und vor den Wahlen, wie es auch jetzt der Fall war, gut mobilisierbar.

Sie sind die wahre "Armee der PiS". Die Zahl der Hörer und Hörerinnen wird mit ca. 1 Million beziffert. Diese Menschen haben die Liberalisierung und Modernisierung des polnischen Alltags oft nicht verkraftet, haben Angst vor dem Neuen und suchen Zuflucht im Altbekannten. Diese Sektierer sehen in Jaroslaw Kaczynski einen Erlöser von allem, was ihnen bedrohlich erscheint: der liberalen EU, einer vermeintlichen jüdischen Verschwörung, den Angriffen gegen die katholische Kirche, der Globalisierung.

Diesmal kamen aber auch neue Wählerschichten, auch viele junge Menschen hinzu. Die Wahlstrategen der PiS haben der Partei im letzten Wahlkampf ein neues, liberaleres Gesicht verpasst, haben die Blut- und Boden-Propaganda und die Verschwörungstheorien rund um den Absturz der Präsidentenmaschine über Smolensk, die zum PiS-Grundrepertoire gehörten, elegant umschifft. Die Partei gab sich sozial und mit dem Duo Duda-Szydlo beinahe jugendlich-moderat. Die Wahlkampagne war modern, mit US-amerikanischen Anleihen.

Jaroslaw Kaczynski und einige radikale Gesichter wie Antoni Macierewicz wurden im Wahlkampf geschickt versteckt, um jüngere Menschen nicht abzuschrecken. Diese Wähler haben gewiss nicht für einen Staatsumbau, die Entmachtung des Verfassungsgerichts oder einen Kulturkampf gestimmt, vielmehr wurden sie durch soziale Versprechen, etwa 500 Zloty Kindergeld, Senkung des Pensionsantrittsalters, die Umwandlung der Franken-Kredite, die hunderttausende junge Familien vor fast zehn Jahren zum Wohnungskauf aufnahmen, oder Abschaffung der sog. Müllverträge, unter denen Millionen junger Menschen unterbezahlt und oft nicht pensionsversichert arbeiten, buchstäblich gekauft.

Die neuen PiS-Wähler haben aber auch für einen Wechsel in der Politik gestimmt. Nach acht Jahren liberaler Regierungen unter der Bürgerplattform (PO) waren sie der Arroganz der Macht überdrüssig. Viele dieser Wähler fühlen sich nun, nachdem die PiS ihr wahres Antlitz enthüllt hat, nicht selten verraten.

Kehrtwende im Wirtschaftswunderland

Polen wurde in der EU als wirtschaftsliberaler Musterschüler angesehen. Nun fragen sich viele in Brüssel, wie es in diesem Wirtschaftswunderland plötzlich zu einer derart drastischen Machtverschiebung kommen konnte. Polen wies seit 1992 ununterbrochen positive Wachstumsraten auf, selbst in der Krise verließ es nie den Wachstumspfad.

Noch vor der Aufnahme in die EU glich das Land einer riesigen Baustelle, ab 2004 fließen zusätzliche Milliarden Euro in die Infrastruktur. Tausende Kilometer neuer Autobahnen und Schnellstraßen sind entstanden, moderne Hochgeschwindigkeitszüge verbinden Großstädte miteinander, die Fahrgäste ergießen sich aus frisch renovierten Bahnhöfen in die neu gepflasterten Fußgängerzonen, die von internationalen Kaufhäusern gesäumt sind.

Die meisten Polen haben diesen neuen Lebensstill freudig angenommen, verbringen mit ihren Familien die Sonntage, statt wie bisher in der Kirche, lieber in Einkaufszentren, essen zu Mittag im KFC oder Pizza Hut, stehen im Sommer in kilometerlangen Staus Richtung Ostsee und im Winter vor den Kurorten der Tatra. Die liberale Presse, wie auch das öffentliche Fernsehen, haben den Wirtschaftsliberalismus zu ihrem Credo erhoben, haben soziale Probleme und Armut vielfach ausgeblendet und jegliche System-Debatten unterdrückt.

Jeder alternativ Denkende wird gerne als "Komuch" (etwa "Kommunistenschwein"), jedes Infrage-Stellen des geltenden Systems als "Lewactwto", eine pejorative Bezeichnung des linken Gedankenguts abgetan. Der kritische polnische Sozialjournalismus, der etwa durch Ryszard Kapuscinski Weltruf erlangte, wurde durch Tratsch und Starkult ersetzt, durch Berichte über politische Intrigen und schlecht recherchierte Aufreger-Geschichten. Die Hauptnachrichten des polnischen Fernsehens sind zum puren Infotainment nach US-Vorbild verkommen, die ehemals kritischen Zeitungen, wie Adam Michniks einst links-liberale Gazeta Wyborcza wurden zur Propagandamittel der Vorgänger-Regierung.

Die Arroganz der Mächtigen gipfelte 2014 und 2015, nur wenige Monate vor den Präsidentschaftswahlen, in der sogenannten Abhöraffäre. In einem von der Politklasse frequentierten Warschauer Nobelrestaurant haben Kellner, angeblich aus eigenem Antrieb, ca. 900 Stunden Gespräche der führenden Politiker des Landes aufgezeichnet und sie einem Magazin zugespielt. Im vulgärsten Gossenjargon spotteten Regierungspolitiker über ihr Wahlvolk, machten bei Calamari und teurem Wein schmutzige Deals und Absprachen, einige gaben das Versagen des Staates offen zu. Premierminister Donald Tusk, der in keiner dieser Affären verwickelt war und bis zuletzt viel Vertrauen genoss, verließ Polen Richtung Brüssel im denkbar ungünstigsten Moment. Seine Nachfolgerin, die integre, wenn auch glücklose Ewa Kopacz, wurde danach zur Verwalterin des Schadens aus der Abhöraffäre, die liberale Regierungspartei PO war am Ende.

Die Schattenseiten des Erfolgs

Bei all der Euphorie vergas man sowohl in Polen, als auch im EU-Ausland, dass längst nicht alle Polen von der rasanten Entwicklung profitiert haben, dass bedeutende Teile der Bevölkerung abseits der Warschauer Wolkenkratzer und der glänzenden Fassaden in Armut verharrten.

Der Brutto-Durchschnittslohn beträgt offiziell 4.200 Zloty, das wären knapp 1000 Euro. Doch das Hauptstatistikamt veröffentlichte vor 2 Jahren eine Untersuchung, wonach die meisten Arbeitnehmer in Polen 2200 Zloty brutto verdienen, das sind netto ca. 1600 Zloty, knapp unter 400 Euro im Monat. Demnach würden nur 19% der Untersuchten, meist Angestellte und Arbeiter in großen staatlichen Betrieben, tatsächlich den erwähnten Brutto-Durchschnittslohn erhalten. Eine Lehrerin mit 15-jähriger Berufserfahrung kommt auf ca. 450 Euro netto im Monat.

Die Lebenshaltungskosten in Polen liegen nur ca. 15% unter jenen in Österreich oder Deutschland. Lebensmittel, Treibstoffe und Wohnraum sind etwas günstiger, Strom, Gas oder Luxusartikel wie Autos oder Unterhaltungselektronik kosten mehr. Über 20% der Beschäftigten, v.a. junge Menschen, arbeiten mit sog. Müllverträgen, meist sind sie nicht rentenversichert. Nach österreichischer oder deutscher Definition würden somit gut 80% der Polen auch 25 Jahre nach der Wende im Prekariat leben, noch weit unter Hartz IV oder der Mindestsicherung.

Zum Vergleich: Ein anerkannter Flüchtling in Österreich erhält mit der bedarfsorientierten Mindestsicherung im Monat das Doppelte eines polnischen Ärztegehaltes. Auch darüber wird in den polnischen und europäischen Medien gerne hinweggesehen. Die Flüchtlingsthematik, die im polnischen Wahlkampf letztlich nur ein Randthema blieb, muss auch in diesem Zusammenhang gesehen werden. Die Polen schuften als billige Arbeitskräfte für westliche Konzerne, die Arbeitszeiten in Polen gehören zu den längsten weltweit, es entgeht ihnen nicht, dass ihre Kollegen jenseits der Grenze oft ein Vielfaches für die gleiche Arbeit erhalten, der Braindrain nach Westen hält unvermindert an.

Der Vater der polnischen Wirtschaftsreformen der Wendezeit und Galionsfigur der Liberalen Leszek Balcerowicz meinte jüngst in einem Interview für die Gazeta Wyborcza auf die Frage, wie man den Schwachen in der Gesellschaft helfen könnte: "Wenn sich jemand die Ohren abfrieren will, können wir es ihm nicht verbieten." Er bezeichnet die Müllverträge als antikapitalistische Propaganda. Der für seine scharfe Zunge bekannte PO-Politiker Stefan Niesiolowski kommentierte vor zwei Jahren die Statistik, wonach fast eine Million Kinder in Polen unterernährt seien, mit den Worten: "Das ist unmöglich. Früher haben wir Ampfer am Straßenrand und Früchte von den herumstehenden Bäumen gesammelt und wir waren alle satt. Warum tut das niemand mehr?" Viele Gebiete, vor allem im Osten des Landes, haben vom Boom der Großstädte ebenfalls weniger profitiert, die Arbeitslosigkeit an der "Ostwand" blieb hoch, die Jungen verließen das Land massenhaft Richtung Westen. Wlodzimierz Karpinski, der Schatzminister in der Regierung Tusk, sagte in einem abgehörten Gespräch zu Strukturfonds für die Entwicklung des Ostens: "Scheiß auf Ostpolen." Es sind auch viele verarmte Ostpolen, die der PiS ihre Stimme gaben.

Der Absturz der PO war vorauszusehen. Aufgrund der polnischen Erfahrung der jahrhundertelangen Fremdherrschaft hatte die Macht schon immer etwas Anrüchiges, Negatives an sich. "Die da oben, an den Futtertrögen" werden mit großer Skepsis beäugt, die Wahlbeteiligung lag nie über 60 Prozent, meist unter 50 Prozent.

Es war eine absolute Ausnahmeerscheinung, dass Donald Tusks Bürgerplattform die Parlamentswahlen zweimal hintereinander gewann. Das lag am Charisma des Premierministers, aber Tusk war auch ein Meister der PR. Er hatte dem Land ein modernes Antlitz verpasst, er fand für seine "grüne Insel" breite Unterstützung bei den urbanen Mittelschichten, die im rasanten Tempo mit gesellschaftlichen Tabus brachen. Sie übersahen dabei, dass das Land gesellschaftlich auseinanderdriftete.

Der "Kulturkampf" zwischen den aufgeklärten, europäisch denkenden und liberalen Kräften und den klerikalen, rückwärtsgewandten "Traditionalisten" tobt bereits seit den Wendejahren, diese Spaltung war selbst in den Solidarnosc-Jahren spürbar, wenn auch durch einen gemeinsamen Feind, den es zu besiegen galt, verschleiert. Die Ersteren hatten immer die Oberhand, während die Rechtskonservativen stets irgendwo bei 25 % laborierten. Nun sind die Fronten so verhärtet wie noch nie zuvor, der Bruch geht nicht selten quer durch Familien.

So sind auch die spontanen Massendemonstrationen auf den Straßen der Großstädte bereits wenige Wochen nach der Machtübernahme durch die PiS zu erklären. Die meisten Polen hatten genug von den Machenschaften der PO, boykottierten angesichts der fehlenden Alternative und einer empfundenen Machtlosigkeit einfach die Wahlen. Nie hätten sie aber vermutet, dass diese von ihnen oft belächelten Mohair-Mützen von der "Sekte des heiligen Wracks", wie die PiS wegen der Verschwörungsgeschichten rund um den Absturz der Präsidentenmaschine von ihren Opponenten genannt wurde, Ernst machen, dass sie ihren Staat kidnappen würden. Erst langsam erwacht die Zivilgesellschaft aus der Schockstarre.

Wie geht es nun weiter?

Es gibt mehrere Szenarios. Polen ist, auch wenn dieser Vergleich gerne fällt, nicht gleich Ungarn, die PiS genießt keine breite Unterstützung. Die Proteste sind wohl erst der Anfang. Aufgrund der Kälte und der Feiertage sind ihnen viele noch fern geblieben.

Die Kritik und der Druck aus dem Ausland gibt vielen in Polen Hoffnung, könnte aber bei so manchen politisch Uninteressierten auch in eine Art "Jetzt-erst-Recht"-Stimmung umschlagen, denn einiges an dieser Kritik ist schlecht recherchiert. Vor allem richtet sie sich gegen eine politische Fraktion, während die Fehler der Vorgängerregierung nicht angesprochen werden. Lech Walesa warnt mit seiner ihm eigenen unüberlegten Radikalität vor einem Bürgerkrieg. So weit wird es wohl nicht kommen, aber es ist zu befürchten, dass es zu Gewaltausbrüchen kommen wird.

Die überwältigende Mehrheit der Polen ist nun gegen den eingeleiteten Staatsumbau und wird sich die mühsam erkämpften Freiheiten nicht so einfach wegnehmen lassen. Schon jetzt bezeichnet Jaroslaw Kaczynski die Protestierenden als "die schlimmste Sorte von Polen", sie würden ein Gen des Staatsverrates in sich tragen, er spricht von Dieben und Kommunisten, er könnte später zu schärferen Mitteln greifen.

Polen hat eine sehr lebendige Medienszene, unzählige private Radio, -Fernsehsender und Printmedien entziehen sich der staatlichen Kontrolle. Es ist auch nicht auszuschließen, dass Präsident Duda und die Premierministerin Szydlo, zusammen mit anderen moderaten Abtrünnigen (die es in der PiS sehr wohl gibt), der ständigen Einflussnahme durch ihren Parteivorsitzenden eines Tages überdrüssig werden, sich gegen ihn wenden und ihn entmachten.

Auch von Donald Tusk wird ein starkes Comeback erwartet. Nach dem Ende seiner EU-Ratspräsidentschaft könnte er wie ein "Erlöser auf dem weißen Pferd" nach Polen zurückkommen und die nächsten Präsidentschaftswahlen für sich entscheiden.

Letztlich könnte auch die wirtschaftliche Situation die Lage beeinflussen. Die Herabstufung Polens durch die Ratingagentur Standard & Poor's, die damit verbundene Abwertung des Zloty, die weitere Verteuerung der Franken-Kredite, selbst eine von Polen unverschuldete Verschlechterung des wirtschaftlichen Umfelds im benachbarten Ausland könnten der PiS zugeschrieben werden. Sollte die PiS dennoch die ganze Legislaturperiode durchhalten, wird sie dem Land einen immensen Image-Schaden zufügen und die Gesellschaft noch tiefer spalten. Eines ist dennoch sicher: Spätestens 2019 wird sie Geschichte sein.


URL dieses Artikels:
https://www.heise.de/-3378147

Links in diesem Artikel:
[1] http://derstandard.at/2000026976723/Der-unsichtbare-Vorhang