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Was bedeutet der Fall von Bachmut in der Ukraine wirklich?

Kämpfer der Wagner-Söldnergruppe schwenken auf einem Gebäude an einem unbekannten Ort im Ukraine-Krieg die Flaggen Russlands und der Wagner-Gruppe. Screenshot eines Videos vom 20. Mai 2023, veröffentlicht anlässlich Erklärung von Prigoschin bei Übernahme von Bachmut. Bild: Screenshot Wagner Footage / CC BY

Die neue Realität vor Ort könnte das Engagement der Nato eskalieren. Wie sind die F-16-Kampfjet-Lieferungen und die diplomatischen Chancen zu bewerten? Antworten von Anatol Lieven und George Beebe.

Berichten zufolge haben die Russen nach monatelangen Kämpfen die ostukrainische Stadt Bachmut eingenommen [1]. Dies geschieht zu einer Zeit, in der die Staats- und Regierungschefs der Welt der Ukraine mehr Hilfe und Waffen – darunter hochmoderne F-16 aus amerikanischer Produktion – zusagen, in der Hoffnung, dass die ukrainischen Streitkräfte in der Lage sein werden, im Frühjahr die lang erwartete Gegenoffensive zu starten.

Was der offensichtliche Sieg für Russland tatsächlich bedeutet und wie er die Kriegsszenerie verändern könnte, auf diese Fragen antworten die führenden Russland-Experten des Quincy-Instituts in den USA, Anatol Lieven und George Beebe.

Was lässt sich außerdem aus dem Transfer von F-16-Kampfflugzeugen [2] in die Ukraine schließen, und besteht angesichts der neuen Fakten vor Ort die Gefahr einer Eskalation zu einem weiter reichenden Konflikt zwischen der Nato und Russland? Was bedeutet das für diejenigen, die von den Kämpfen weg und zu einem Waffenstillstand kommen wollen?

Das Interview führt Kelley Beaucar Vlahos, Redaktionsleiterin des US-Onlinemediums Responsible Statecraft.

Berichte schildern, dass die Russen nach vielen Monaten die Stadt Bachmut eingenommen haben. Was bedeutet das taktisch und strategisch für beide Seiten?
George Beebe: Ich denke, die eigentliche Dimension der Bedeutung dieses Sieges wird sich erst in einiger Zeit herausstellen. Viele Militärexperten haben argumentiert, dass Bachmut an sich strategisch nicht wichtig ist, dass es nicht zu einem Durchbruch für die Russen führen wird, der einen schnellen Vormarsch auf weitere ukrainische Städte ermöglicht, eine Einkreisung als Option eröffnet oder die Fähigkeit, die ukrainische Verteidigung insgesamt zu durchbrechen, schafft. Ich glaube nicht, dass das passieren wird.
Direktor für Grand Strategy bei Quincy Institute.
Die gewichtigere Frage ist, ob die Entscheidung der Ukraine, Bachmut trotz seiner mangelnden strategischen Bedeutung mit allen Mitteln zu verteidigen, dazu führen wird, dass die Fähigkeit der Ukraine, anderswo in der Ukraine eine neue Gegenoffensive zu starten, eingeschränkt wurde – etwas, was man seit Langem plant und worüber schon lange öffentlich gesprochen worden ist.
Eine Reihe von westliche Militärexperten, darunter auch Vertreter des Pentagons, haben die Ukrainer seit geraumer Zeit zu einem geordneten Rückzug aus Bachmut gedrängt, um ihre Männer und ihre Munition für den Einsatz in wichtigeren Schlachten in der Zukunft zu erhalten.
Doch Selenskyj setzte sich im Wesentlichen über diesen Rat hinweg und beschloss, mehr Truppen – darunter einige der besten ukrainischen Truppen – zu entsenden, um zu versuchen, Bachmut zu halten. Er hat das in theatralischer Weise getan.
Sie erinnern sich, dass er bei seinem Besuch in Washington im vergangenen Dezember eine Fahne aus Bachmut mitbrachte, von denjenigen, die die Stadt verteidigten. Er überreichte sie als Symbol für die Entschlossenheit der Ukraine, die Stadt zu halten und die russischen Streitkräfte zurückzuschlagen. Nun, das ist alles gescheitert.
Jetzt ist klar, dass das, was die ukrainische Regierung in die Verteidigung der Stadt gesteckt hat, am Ende umsonst war. Welche Auswirkungen das auf die Fähigkeit der Ukraine haben wird, Russland zurückzudrängen, bleibt abzuwarten, aber ich vermute, dass heute viele in Washington die Köpfe schütteln und sich fragen, was sich Selenskyj dabei gedacht hat.
Anatol Lieven: Dem stimme ich in jeder Hinsicht zu. Was ich noch hinzufügen möchte, ist, dass wir nicht genau wissen, wie viel Schaden die russischen Streitkräfte durch diesen sehr langen Zermürbungskampf erlitten haben. Sie haben sicherlich auch schwer gelitten.
Anatol Lieven ist Senior Research Fellow für Russland und Europa am Quincy Institute.
Meiner Meinung nach hat die entscheidende Frage nichts mit den Kämpfen selbst zu tun. Es geht vielmehr darum, was es für das Prestige von Jewgeni Prigoschin und der von ihm geleiteten Wagner-Gruppe bedeutet. Wird es tatsächlich seine Position in der russischen Innenpolitik stärken?
Denn es ist natürlich schon merkwürdig, wenn die Wagner-Gruppe sagt, dass sie Bachmut an die russische Armee übergeben werde, als ob sie eine verbündete Truppe darstellt, die überhaupt nicht unter russischem Militärkommando steht. Nun werden sie die Stadt also mit einer sehr großzügigen Geste an die Russen übergeben, was eine wirklich bemerkenswerte Angelegenheit ist. Und natürlich wird das im russischen Verteidigungsministerium die Wut auf Prigoschin weiter anheizen.
George Beebe: Dem stimme ich zu. Und ich möchte hinzufügen, dass Putin bei der Verkündung des Falls von Bachmut tatsächlich Wagner genannt hat – und ich glaube nicht, dass er das schon einmal getan hat.
Er versucht, einen schmalen Grat zu beschreiten, um Wagner und Prigoschin für die nationalen Ziele Russlands einzuspannen, ohne gleichzeitig einen potenziellen politischen Rivalen zu schaffen, in gewisser Weise einen mythischen Kriegsheroen, dessen politischer Einfluss außer Kontrolle geraten könnte. Er versucht also, ein Gleichgewicht zu finden, und es ist nicht klar, wie sich das auswirken wird.

Wir befinden uns in einer Eskalationsdynamik

All das geschieht zu einer Zeit, in der die Vereinigten Staaten den Weg für den Transfer moderner Kampfflugzeuge, den F-16, geebnet haben und die G7-Führung der Ukraine gerade weitere Hilfe und Waffen zugesagt hat. Glauben Sie, dass sich die Nato jetzt stärker engagieren wird, um einen scheinbar russischen Sieg, so symbolisch er auch sein mag, zu verhindern? Ist damit der Weg für eine weitere Eskalation frei?
Anatol Lieven: Ich denke, das ist zweifellos die Absicht der Nato und der USA. Die Frage ist, ob es funktionieren wird. Und natürlich auch, wo die Ukrainer angreifen werden, denn die meisten haben erwartet, dass sie in Richtung Asowsches Meer vorrücken werden, um die russische Position in zwei Hälften zu teilen.
Aber nachdem sie das derart klar signalisiert haben, haben die Russen sehr viel Zeit erhalten, sich vorzubereiten. Und die Satellitenbilder zeigen mehrere russische Verteidigungslinien. Andererseits könnte die Ukraine bei einem erneuten Gegenangriff im Donbass einfach in eine weitere Zermürbungsschlacht verwickelt werden, ohne dass es zu einem Durchbruch kommt.
Die Nato versucht also, die Ukrainer zu stärken, und wenn die Russen die Ukrainer zurückhalten können und sie nicht durchbrechen, dann gibt es für Russland keinen großen Anreiz mehr, zu eskalieren.
Das Problem ist, wenn die Unterstützung der Nato funktioniert und die Ukrainer wirklich durchbrechen, dann besteht meiner Meinung nach die Möglichkeit, dass Russland eskaliert, und wir wissen nicht, wohin das führen wird.
George Beebe: Vollkommen richtig. Wir befinden uns in einer Eskalationsdynamik mit den Russen. Das tun wir schon seit geraumer Zeit. Jeder russische Vorstoß oder Eskalationsschritt wird vom Westen erwidert und umgekehrt.
Ich denke, einer der Punkte bei der Übergabe der F-16 – und es ist immer noch nicht klar, wie viele dieser Flugzeuge die Ukrainer erhalten sollen und wie schnell sie zu ihnen gelangen werden – ist, dass es für die Ukrainer schwierig sein wird, diese Flugzeuge ohne umfangreiche westliche Unterstützung zu betreiben.
Die Jets sind sehr wartungsintensiv und benötigen lange und relativ gut präparierte Start- und Landebahnen. Und davon haben die Ukrainer nur sehr wenige. Sie müssen also entweder die bestehenden Start- und Landebahnen in der Ukraine ausbauen, um diese Flugzeuge operieren zu können, oder sie müssen sie von den Luftwaffenstützpunkten der Nato-Länder aus starten lassen.
Beides ist problematisch, denn wenn sie die Start- und Landebahnen ausbauen, werden die Russen das sehen. Damit signalisieren sie ihnen im Wesentlichen, wo sie angreifen sollten, um die Fähigkeit der Ukraine, diese Flugzeuge zu nutzen, zu beeinträchtigen.
Und wenn sie von Nato-Luftwaffenstützpunkten aus operieren, dann werden die Russen eine schwere Entscheidung treffen müssen, ob sie die Stützpunkte angreifen, von denen aus diese Flugzeuge fliegen. Wie auch immer, die Ukrainer können die Kampfflugzeuge nicht selbst instand halten.
Sie werden diese Flugzeuge zur Wartung in Nato-Länder verschicken und zurückholen müssen. Oder der Westen wird eigene Wartungsmannschaften in die Ukraine schicken müssen, um die Wartung dort durchzuführen. Es ist ein Akt mit Eskalationspotenzial.
Meine Vermutung ist – ich habe keine Beweise dafür, es ist aber ein starker Verdacht – dass je mehr den Ukrainern die Luftabwehrraketen ausgingen, desto stärker wurde der Druck im Westen, der Ukraine F-16 zu liefern. Der Westen hat einfach nicht genügend Raketen, um sie der Ukraine bereitzustellen.
Um sicherzustellen, dass die Ukrainer nicht schutzlos gegen russische Luftangriffe sind, wird daher als einzige Möglichkeit angesehen, solche Kampfflugzeuge zur Verfügung zu stellen. Es zeigt auf negative Weise, wie der Westen den Zustand der ukrainischen Luftabwehr einschätzt.
Das ist ziemlich beängstigend. Sind wir Ihrer Einschätzung nach näher an einem Waffenstillstand oder heute viel weiter davon entfernt als noch letzte Woche, vor der Nachricht über die F-16 und der Übernahme von Bachmut durch die Russen? Wie groß ist Ihre Zuversicht, dass es in naher Zukunft tatsächlich zu diplomatischen Verhandlungen kommen könnte?
Anatol Lieven: In der Erklärung der G7 [3] wurde der vollständige Rückzug Russlands gefordert. Es wurde nicht ausdrücklich gesagt, dass Russland sich aus allen ukrainischen Gebieten Stand 2014 zurückziehen müsse. Aber es war sicherlich kein ermutigendes Zeichen für welchen Kompromiss auch immer.
Letztlich müssen wir aber abwarten, was auf dem Schlachtfeld passiert. Denn in den letzten Wochen und Monaten wurde immer wieder angedeutet, dass, wenn die Ukraine in diesem Jahr keinen großen Sieg erringt, Hilfe in dem jetzigen Umfang nicht aufrechterhalten werden kann.
George hat absolut Recht, dass der Westen nicht in der Lage ist, Luftabwehrraketen zu liefern. Es ist schließlich ein Krieg, und die Entwicklungen auf dem Schlachtfeld werden der entscheidende Faktor sein – oder das Ausbleiben von Fortschritten auf dem Schlachtfeld.
George, wollen Sie dem noch etwas hinzufügen?
George Beebe: Ich denke, dass die beiden Seiten im Moment sehr weit auseinander liegen. Weder die Ukraine noch Russland sind zu einem Kompromiss bereit. Die Erklärung der G7 und die Entscheidung Washingtons, die F-16 bereitzustellen, ermutigen mich nicht zu der Annahme, dass die Vereinigten Staaten auch nur annähernd versuchen werden, einen Kompromiss zu finden.
Das einzig Ermutigende in Bezug auf den Frieden ist, dass die anderen Teile der Welt – China, Brasilien, der Vatikan – offenbar mehr denn je bestrebt sind, einen Ausweg aus dieser Situation zu finden.
Ich danke Ihnen.

Das Interview erscheint in Kooperation mit Responsible Statecraft [4]. Übersetzung: David Goeßmann.

George Beebe ist Direktor für Grand Strategy beim Quincy Institute. Er verbrachte mehr als zwei Jahrzehnte in der US-Regierung als Geheimdienstanalyst, Diplomat und politischer Berater, unter anderem als Direktor der Russland-Analyse der CIA, als Direktor des Open Source Center der CIA und als Berater von Vizepräsident Cheney in Russlandfragen. Sein Buch "The Russia Trap: How Our Shadow War with Russia Could Spiral into Nuclear Catastrophe" warnt davor, wie die Vereinigten Staaten und Russland in eine gefährliche militärische Konfrontation stolpern könnten. Beebe war zudem Vizepräsident und Studiendirektor am Center for the National Interest.

Anatol Lieven ist Senior Research Fellow für Russland und Europa am Quincy Institute for Responsible Statecraft. Zuvor war er Professor an der Georgetown University in Katar und an der Abteilung für Kriegsstudien des King's College London. Er ist Mitglied des beratenden Ausschusses der Südasienabteilung des britischen Außen- und Commonwealth-Büros. Lieven ist Autor mehrerer Bücher über Russland und seine Nachbarländer, darunter "Baltic Revolution: Estonia, Latvia, Lithuania and the Path to Independence [5]" und "Ukraine and Russia: A Fraternal Rivalry" (Eine brüderliche Rivalität).


URL dieses Artikels:
https://www.heise.de/-9064333

Links in diesem Artikel:
[1] https://www.washingtonpost.com/world/2023/05/21/zelensky-bakhmut-biden-g7-aid/
[2] https://responsiblestatecraft.org/2023/05/21/f-16s-wont-fundamentally-alter-the-course-of-ukraine-war/
[3] https://pl.usembassy.gov/g7_statement_ukraine/
[4] https://responsiblestatecraft.org/2023/05/23/what-does-the-fall-of-bakhmut-in-ukraine-really-mean/
[5] https://www.amazon.de/Baltic-Revolution-Estonia-Lithuania-Independence/dp/0300060785/ref=sr_1_4?qid=1664279877&refinements=p_27%3AAnatol+Lieven&s=books&sr=1-4