Was bedeutet eigentlich Verschwörungstheorie?
Gedanken zu Begriff und Verwendung und ein Vorschlag
Verschwörungstheoretiker und deren Gegner werden vielleicht gleichermaßen enttäuscht sein: Hier geht es nicht um die Bewertung einzelner Ereignisse der letzten Jahre, sondern um methodische Fragen zum Begriff "Verschwörungstheorie", der immer häufiger Verwendung findet. Dazu lohnt aber doch ein Blick auf ein Beispiel in der Vergangenheit.
In ganz Westeuropa gibt es Geheimarmeen, die über riesige versteckte Waffenlager verfügen? Ohne jegliche demokratische Kontrolle? Sie veranstalten konspirative Treffen und sind an Terroranschlägen beteiligt? Dies klingt sicherlich nach einer Verschwörungstheorie. Allerdings hat sie sich in diesem Fall als zutreffend herausgestellt.
Der ehemalige italienische Ministerpräsident Andreotti räumte 1990 die Existenz dieses sogenannten Gladio-Netzwerkes ausdrücklich ein. Der Schweizer Historiker Daniele Ganser hatte in seiner Doktorarbeit die Existenz dieser sogenannten Stay-behind-Armeen der NATO in praktisch allen westeuropäischen Ländern nachgewiesen. Seine Ergebnisse sind deswegen besonders brisant, weil sie die Verstrickung dieser Netzwerke an terroristischen Anschlägen belegen.
Einen konkreten Fall hatte 1984 der Ermittlungsrichter Felice Casson aufgedeckt. 1972 waren bei einem Autobombenanschlag in Peteano drei Polizisten ermordet worden, für den man die linksgerichtete Untergrundorganisation Rote Brigaden verantwortlich gemacht hatte. Die öffentliche Empörung schadete der politischen Linken erheblich. Letztlich war die Aufdeckung der wahren Zusammenhänge jedoch Zufall; ohne einen engagierten Ermittler wie Casson wüsste vielleicht die Welt heute noch nichts von Gladio und ähnlichen Organisationen.
Anschläge auszuführen, um diese dem Gegner in die Schuhe zu schieben, bezeichnet man als "false flag" (unter falscher Flagge). Wenn Gewaltanwendung aus machtpolitischen Motiven heraus der Bevölkerung nicht zu vermitteln ist, haben Regierungen nicht selten zu diesem Instrument gegriffen. Nicht ausgeführt, aber durch Dokumente belegt, ist die sogenannte Operation Northwoods. 1962 hatte der Oberkommandierende der US-Streitkräfte, General Lemnitzer, vorgeschlagen, ein amerikanisches Kriegsschiff in die Luft zu jagen, um einen Vorwand für einen Angriff auf Kuba zu schaffen. Der damalige Präsident John F. Kennedy verwarf den Plan. Dies alles sind nur einige der inzwischen bekannten historischen Tatsachen.
Verschwörungstheorie und Verschwörungspraxis
Versetzt man sich in die entsprechende Zeit zurück, hätte man in Ermangelung von Evidenz die Hintergründe dieser Ereignisse als "Verschwörungstheorien" abtun können. Versuchen wir also eine Analyse. Was ist eine Verschwörung? Im direkten Sinne zunächst gemeinsames, meist illegales Handeln im Verborgenen. Verschwörer können im Übrigen auch mutig und verantwortungsvoll sein, wie zum Beispiel die am 20. Juli 1944 Beteiligten.
Menschen haben immer schon gemeinsame Ziele konspirativ verfolgt, etwa auch bei der organisierten Kriminalität. Insofern ist das Attribut "Verschwörung" ziemlich banal. In ihm liegt auch der irreführende Gebrauch Wortes: Nicht das konspirative Handeln soll betont werden, sondern "Verschwörungstheorie" impliziert heute meist eine nicht näher begründete Herabsetzung der Glaubwürdigkeit.
Die Geschichte zeigt, dass sich schon viele Verschwörungstheorien als wahr herausgestellt haben, man könnte von einer "Verschwörungspraxis" sprechen. Woher kommt also die negative Konnotation des Begriffs? Sie ist dann berechtigt, wenn eine Verschwörungstheorie schon als gesicherte Tatsache propagiert wird, obwohl die Beweislage noch unklar oder widersprüchlich ist. Die Argumente dafür geben dann oft eine monokausale, stereotype Sicht der Dinge wieder, die es sich zu einfach macht, manchmal mit den immer gleichen Feindbildern. Diese Definition von Verschwörungstheorie passt aber gerade nicht für den Fall, in dem eine offizielle Version eines Ereignisses hinterfragt und Widersprüche thematisiert werden. Vielmehr machen es sich dann diejenigen zu einfach, die jedwede Skepsis als "Verschwörungstheorie" bezeichnen.
Zweifel ist keine angenehme Voraussetzung, aber Gewissheit ist eine absurde.
Voltaire
Die unglaubwürdige Verschwörungstheorie kennzeichnet, dass der Kreis der im Verborgenen tätigen Personen nicht mehr genau definiert ist oder beliebig erweitert werden kann. Dazu wären die Verschwiegenheit einer unüberschaubaren Anzahl von Teilnehmern und flächendeckende geheime Informationskanäle nötig. Gegenargumente werden mit "unsichtbaren" Mechanismen erklärt, die die ursprüngliche Theorie mit willkürlichen Annahmen erweitern.
Die Tatsache, dass es keine Berichte über ein Ereignis gibt, wird als Beleg für die Richtigkeit gewertet, also Nicht-Evidenz in Evidenz verwandelt. Derartige Verschwörungstheorien machen sich selbst gegen neue Fakten immun, man kann sie als Flucht aus der Evidenz bezeichnen. Zu Recht gelten sie daher als unglaubhaft.
Verschwörungswissenschaft und verkannte Visionäre
Der Astronom Carl Sagan hat dies einmal mit der Theorie "Dinosaurier leben noch" parodiert:
Warum sieht niemand die Dinosaurier?
Sie leben in abgelegenen Gebieten in Afrika!
Warum sind sie nicht auf Satellitenbildern sichtbar?
Sie leben in Höhlen!
Wie kommen Sie dann an Nahrung?
Sie gehen nur nachts hinaus!
Warum findet man keine Knochen?
Diese verrotten besonders schnell!
Warum hört man von keinen Forschungen über diese Theorie?
Die etablierten Biologen verhindern diese!
Dieses nicht ganz ernst gemeinte Beispiel zeigt, dass es gar nicht so einfach ist, "Verschwörungstheorien" zu widerlegen, aber auch, dass die Glaubwürdigkeit mit der Anzahl der benötigten Hilfsannahmen sinkt.
Im Grunde handelt es sich hier um das Kriterium der mangelnden Falsifizierbarkeit des Wissenschaftsphilosophen Karl Popper. Wenn eine These durch nichts mehr widerlegt werden kann, ist sie nicht viel wert und wird zur Ideologie. Insofern entspricht die nicht falsifizierbare Theorie mit ihren Ausflüchten der (unglaubwürdigen) Verschwörungstheorie; das Element der Konspiration, obwohl in der direkten Bedeutung enthalten, ist sekundär und eigentlich irrelevant.
Dagegen ist es Teil der wissenschaftlichen Methode, dass alternative Hypothesen zur Erklärung eines Sachverhalts erwogen werden, auch wenn diese von der Sicht der Mehrheit abweichen. Der Mediziner Ignatz Semmelweis, der Mitte des 19. Jahrhunderts auf einer Entbindungsstation in Wien arbeitete, vermutete, dass die häufigen Todesfälle der Wöchnerinnen mit den Berührungen der untersuchenden Ärzte zu tun hatten, welche sich damals nicht die Hände wuschen. Obwohl es deutliche Anzeichen dafür gab, dass er Recht hatte, wurde Semmelweis verlacht und endete schließlich unter tragischen Umständen im Irrenhaus.
Heute würde man Semmelweis vielleicht vorwerfen, er würde aus zufälligen Koinzidenzen abwegige Schlüsse ziehen und ihn als Verschwörungstheoretiker bezeichnen. Damals hielt man jedenfalls den Gedanken für verrückt, die Krankheit werde durch winzige unsichtbare (!) Erreger übertragen, bis der berühmte Mikrobiologe Louis Pasteur diese unter dem Mikroskop entdeckte und vor der Akademie der Wissenschaften in Paris präsentierte. Aus diesem Beispiel geht auch hervor, dass das momentane Fehlen von Evidenz (unsichtbare Erreger) noch nicht gegen eine Hypothese spricht, solange die Beobachtung prinzipiell möglich ist.
Semmelweis war als Spinner bezeichnet worden, Kopernikus als ein Narr, und sogar Einstein hätte dieses Schicksal treffen können, hätte nicht der berühmte Max Planck dem Außenseiter eine Fachpublikation ermöglicht. Aber diese Geschichten, ebenso wie Alfred Wegeners Kontinentaldrift, die ein halbes Jahrhundert lang verspottet worden war, können nur mahnen, alternative Erklärungen ernst zu nehmen, auch wenn sie der Mehrheitsmeinung widersprechen. Dies gilt insbesondere, wenn sich die Situation widersprüchlich darstellt oder die akzeptierte Theorie noch keine befriedigende Erklärung liefert. Ohne die kreative Suche nach alternativen Erklärungen wären weder Lichtquanten noch die Gravitationstheorie entdeckt worden, wahrscheinlich befände sich die Menschheit noch in der Steinzeit.
Alle großen Wahrheiten begannen als Blasphemien.
George Bernard Shaw
Die Fähigkeit, Muster ohne zunächst kausalen Zusammenhang auf verschiedenen Gebieten wahrzunehmen, überraschende Assoziationen zu bilden, ist ein wesentliches, vielleicht das wichtigste Merkmal menschlicher Intelligenz. Selbstverständlich sind diese Fähigkeiten auch in der Kriminalistik, Zeitgeschichte und Politik nützlich.
Jeden neuen Gedanken von vorneherein als "Verschwörungstheorie" zur diffamieren stellt eine intellektuelle Kastration dar, deren Ziel es scheint, den Verstand am Arbeiten zu hindern. Wer mit dem Begriff Verschwörungstheorie um sich wirft, zeigt, dass ihm eigenes Denken fremd ist, und wer von Verschwörungstheoretikern spricht, will dies auch anderen verbieten.
Hypothesen sind Netze, nur der wird fangen, der auswirft.
Novalis
Verschwörungen und Märchen in schwarz-weiß
Dafür gibt es oft handfeste Interessen, mit denen es sich mehr lohnt, sich zu befassen als mit dem Vorwurf "Verschwörungstheorie". Aus dem oben Gesagten folgt eigentlich, dass der Begriff Verschwörungstheorie in der politischen Debatte überhaupt nicht vernünftig, geschweige denn nützlich, definiert werden kann. Sein Gebrauch deutet daher im besten Fall auf Uninformiertheit oder Autoritätsgläubigkeit hin.
Es wird aber schwer gelingen, die wenig durchdachte Verwendung des Begriffs, wie etwa bei Wikipedia, wieder zu eliminieren. Eher wird sich die Sprache ihren eigenen Weg bahnen und der Erkenntnis des Philosophen Ludwig Wittgenstein folgen: Die Bedeutung eines Wortes ist sein Gebrauch in der Sprache. Irgendwann wird der Ausdruck "Verschwörungstheorie" mehr über den Argumentierenden aussagen als über die Inhalte. Die Strategie, Hypothesen abzuwerten, wird sich dann als Bumerang erweisen, weil "Verschwörungstheorie" nun bedeutet: Hier gibt es etwas Interessantes zu erfahren, was Untersuchung und Nachdenken lohnt - auch wenn es der offiziellen Sicht widerspricht.
An allem zweifeln oder alles glauben sind gleichermaßen bequeme Lösungen.
Henri Poincare
Leider entfernt sich eine Diskussion über ungeklärte Ereignisse von jeder Rationalität, sobald der Begriff "Verschwörungstheorie" oder "Verschwörungstheoretiker" in den Raum geworfen wird. Eigentlich muss in diesem Fall die abwertende Konnotation mit gleicher Münze zurückgezahlt werden, um die Diskussion wieder in eine sachliche Balance zu bringen.
Ich schlage daher als Gegenpol zur Verschwörungstheorie den Begriff "Regierungsmärchen" vor. Die Definition wäre denkbar einfach: Alle Ereignisse, zu denen "Verschwörungstheorien" existieren, sind mögliche Regierungsmärchen. Als Pendant zum Verschwörungstheoretiker müsste man jene, die offizielle Informationen unkritisch übernehmen und Aussagen von Regierungssprechern für die reine Wahrheit halten, als "Regierungstrottel" bezeichnen.
Zwischen den Extremen der Verschwörungstheoretiker, für die die Welt völlig schwarz ist, und den Regierungstrotteln, denen sie vollkommen weiß erscheint, könnte sich dann wieder eine sachliche Diskussion entfalten, die die Grautöne und Unsicherheiten der realen Welt anerkennt.
Demnächst Teil 2: Die Forderung nach dem Nichtgebrauch des Verstandes hat Konjunktur
Dr. Alexander Unzicker ist Physiker, Jurist und Sachbuchautor. Bei diesem Text handelt es sich um Auszüge aus dem Buch "Wenn man weiß, wo der Verstand ist, hat der Tag Struktur - Eine Anleitung zum Selberdenken in verrückten Zeiten", das im Westend-Verlag erschienen ist.