Was das Bahnunglück in Burgrain mit dem Systemversagen der Bahn AG zu tun hat
Seite 4: Bilanz
Mit Blick auf die Halbjahresbilanz der Deutschen Bahn AG von Ende Juli muss alles getan werden, das Thema "Bahnunglück in Burgrain" weiter ins Rampenlicht der Öffentlichkeit zu stellen. Dieses Unglück ist charakteristisch für den Zustand der Schiene: Eingleisigkeit, verhinderter Ausbau und mangelhafte Infrastruktur als Resultat von Fahren auf Verschleiß sind bestimmend.
Bei der Untersuchung dieses Unglücks muss insbesondere vermieden werden, dass erneut die billige Tour "menschliches Versagen" oder "fehlerhafte Technik" gewählt wird. Auch im Fall Burgrain spricht viel dafür, dass hier Systemversagen vorliegt, bei dem die Bahnbeschäftigten in der unteren Hierarchie und deren Handeln sekundär sind.
Der Zustand der Schieneninfrastruktur befindet sich grundsätzlich in einem miserablen Zustand. Er verschlechtert sich von Jahr zu Jahr. Das steht in einem krassen Gegensatz zu dem Gerede von "Verkehrswende" und zu den lächerlichen Verweisen, man investiere in "die digitale Schiene".
In diesem Zusammenhang ist auch zu betonen, dass der Abbau der Zahl der Bahnbeschäftigten im produktiven Bereich und in früheren Jahren – im Vergleich zu 1994 gab es mehr als eine Halbierung – dazu führt, dass die Kolleginnen und Kollegen eine enorme Arbeitsbelastung haben. Sie sind es auch, die als Blitzableiter zu fungieren haben, wenn Züge ausfallen oder massiv unpünktlich verkehren, wenn Klimaanlagen nicht funktionieren, wenn im Speisewagen nur ein Sparprogramm angeboten wird oder wenn Züge die "Pofalla-Kehre"- oder "Scheuer-Wende" fahren, wenn also ganze Halte ausfallen oder Endhalte erst gar nicht mehr anfahren werden, um auf diese absurd-kreative Weise aufgebaute Verspätungen wieder abzubauen.
Nehmen wir hier nur das Beispiel des vormaligen Bahnchefs Rüdiger Grube, der vor sechs Jahren sagte: "Ich rechne damit, dass wir 2021, 2022 oder 2023 so weit sind, dass wir in Teilen unseres Netzes vollautomatisch fahren können." Dieser Oberste aller Bahner sagte also ernsthaft, dass es heute, 2022, dann in vielen Bereichen keine Lokführer mehr geben würde.15
Wie sieht die Lage Mitte 2022 aus? Wir haben die Situation, dass 1500 Lokführer fehlen. Dass Züge wegen Personalmangel ausfallen. Und dass kaum mehr jemand von Zügen ohne Triebfahrzeugführer faselt. Doch die verantwortungslosen Aussagen des damaligen Bahnchefs haben bis heute massive Auswirkungen. Niemand sucht sich einen Job, den es in "wenigen Jahren" nicht mehr geben soll.
Und so, wie es bei den Bahnbeschäftigten aussieht, so sieht es im Bereich Infrastruktur aus. Diese wird Jahr für Jahr abgebaut. Wir dokumentierten dies mit unserem letzten, dem vierzehnten Alternativen Geschäftsbericht Deutsche Bahn AG, der am 30. März 2022 in Berlin vorgestellt wurde.16
Der fortgesetzt hohe Anteil der Eingleisigkeit im gesamten Schienennetz – mitverantwortlich für tragische Unfälle – und das Schneckentempo bei der Erhöhung des Elektrifizierungsgrads im Schienennetz sind charakteristisch für das faktische Scheitern der Verkehrswende im Bereich Schiene. Selbst wenn es, wie jüngst bei der Südbahn (Ulm–Friedrichshafen–Lindau) zu einer umfangreichen Elektrifizierungsmaßnahme kommt, so sind der Konzern Deutsche Bahn AG und die Bundesregierung nicht in der Lage oder willens, einen relativ kurzen eingleisigen Abschnitt, denjenigen zwischen Friedrichshafen und Lindau, zu Zweigleisigkeit auszubauen, womit ein Flaschenhals bestehen bleibt.
Im Fall Burgrain dokumentierten wir darüber hinaus, dass mit einem Ausbau des Straßensystems an der Unglücksstelle für voraussichtlich alle Zeiten verhindert worden ist, dass die eingleisige und überlastete Schienenstrecke jemals zu Zweigleisigkeit ausgebaut wird. Der Unfall in Burgrain ist damit ein schlagendes Beispiel dafür, welche fatalen Folgen der Zielkonflikt Straße-Schiene haben kann.
Im Übrigen wackelt der Schwanz weiter mit dem Hund, will sagen: Der Konzern Deutsche Bahn AG macht auch unter Bundesverkehrsminister Volker Wissing das Gegenteil dessen, was sein Eigner, der Bund, immer wieder offiziell verlautbaren lässt: Er setzt primär auf Investitionen im Ausland und auf solche im Bereich Straße.
Ende Juni lautete eine Schlagzeile "Bahn kauft 1.900 Laster in Amerika" mit der sarkastischen Zusatzzeile "Goldene Zeiten für die Bahn auf der Straße?"17 Anfang Juli teilten die Deutsche Bahn AG und die Lufthansa stolz mit, die beiden Gesellschaften seien nun "Partner" – ab dem 1. August 2022 sei die Deutsche Bahn AG "intermodaler Partner der Star Alliance", in der weltweit 25 Fluggesellschaften zusammengeschlossen sind. Zum gleichen Zeitpunkt erfahren wir, dass im zweiten Quartal 2022 exakt 9.725 Züge komplett ausgefallen sind.18
Die Krise des Bahnkonzerns hat eine Dimension erreicht, bei der die sprichwörtliche Sicherheit im Bahnverkehr auf dem Spiel steht. Deshalb müssen alle Neubauprojekte – von denen ohnehin sehr viele Bahnverkehr zerstörend sind – solange aufs Abstellgleis gestellt werden, bis alle Langsamfahrstellen im Schienennetz beseitigt und einige hundert spezifische Sofortmaßnahmen zur Beseitigung von Flaschenhälsen und Gefahrenstellen umgesetzt wurden.