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Was den Ukraine-Krieg zur globalen Gefahr macht

Politik nimmt atomare Auseinandersetzung in Kauf. Akteure setzen auf Annahmen und Abschreckung. Was aber, wenn all dies versagt?

Ausgestorben: Zuviel Panzer, zu wenig Hirn

Postkarte der Friedensbewegung. Abgebildet war ein Dinosaurier.

Unser momentanes Sicherheitsgefühl beruht auf zwei Voraussetzungen: dem aus Gewohnheit entstandenen Empfinden, dass nichts Schlimmes passieren wird, da ja bislang nichts Schlimmes passiert ist und der Annahme, der Aggressor Putin sei ein rationaler, kühl kalkulierender und selbstbeherrschter Player in einem Spiel, bei dem es um Leben und Tod geht.

Dahinter steht eine Art Wette: Wird ein Atomkrieg ausbrechen und unser Leben auslöschen oder wird das nicht geschehen?

Wer darauf wettet, dass wir diesen Konflikt ungeschoren überleben, setzt auf folgende zwei Begründungen: zunächst auf eine Gewohnheit, denn seit Jahrzehnten hat die atomare Abschreckung niemals versagt und zweitens auf bestimmte Annahmen über den mentalen Zustand Putins, eines Autokraten, der zurzeit die Möglichkeit in Händen hält, der Zivilisation ein Ende zu setzen, nicht nur in Europa, sondern im schlimmsten Fall auf dem gesamten Globus.

Das Argument lautet: "Er ist doch nicht so verrückt, eine solche Katastrophe zu riskieren, die ihm gar nichts nützt!" Manchmal kommt noch etwas Drittes hinzu, meistens, wenn die ersten beiden Thesen zerpflückt worden sind: "Und wer sagt denn, dass ein Atomkrieg wirklich so furchtbar sein würde?" Ich komme später darauf zurück.

Auf den Atomkrieg vorbereiten

Zunächst einmal: Die verbreitete Sicherheit, dass ein Atomkrieg auf keinen Fall stattfinden wird, ist rational betrachtet nicht gedeckt. Der Glaubenssatz, nukleare Abschreckung funktioniere, das sei bewiesen und auch weiterhin garantiert, ist wahrscheinlich noch niemals von einem Abschreckungsexperten ernsthaft behauptet worden. Stattdessen das Gegenteil: Atomare Abschreckung – so Sicherheitsexperten – wird irgendwann fehlschlagen.

Man muss nicht Murphys Gesetz bemühen, nämlich, dass alles, was schiefgehen kann, auch irgendwann wirklich schiefgeht, um zu verstehen, dass Frieden, der auf atomarer Abschreckung basiert, auf Dauer eine Illusion ist. Dahinter steckt ein einfacher mathematischer Gedanke, den der Friedensforscher Horst Afheldt so ausdrückte1 [1]:

Soll die Abschreckung über lange Zeit glaubwürdig bleiben, muss die Wahrscheinlichkeit des Einsatzes der Waffen über lange Zeit größer als Null sein. Ist diese Wahrscheinlichkeit aber konstant größer als Null, so wird sie über sehr lange Zeiträume gleich Eins, der Krieg also sicher.

Freilich kann niemand sagen, wann der mathematisch "lange Zeitraum" in der Realität zu Ende ist. Abgelaufen sein kann er dummerweise gerade jetzt. Wie nach ihm viele andere ging daher bereits der US-Atomstratege der 1960-Jahre Herman Kahn davon aus, dass Abschreckung irgendwann versagen wird und der Atomkrieg unvermeidlich stattfindet.

Statt zu glauben, man könne ihn auf Dauer verhindern, solle man sich darauf vorbereiten.2 [2] Wie kommt es, dass wir uns gegenwärtig so selbstverständlich auf eine Überzeugung verlassen, die keine wissenschaftliche Basis hat und deren Gefahrenmomente wir einfach ausblenden?

Ist Putin ein rationaler Player?

Das zweite Argument, das landläufig und in den Medien beweisen soll, dass ein Atomkrieg nicht stattfinden wird, setzt auf die Vernunft. Die gesamte Abschreckungsstrategie beruht auf der Annahme, dass sich alle Beteiligten im Zweifelsfall rational verhalten.

Abgeschreckt werden kann nur jemand, der nüchtern zu kalkulieren versteht, der einsieht, dass die Kosten des Einsatzes von Atomwaffen den möglichen Nutzen bei Weitem übersteigen würden.

Daher heißt es: Putin ist ein vernünftiger Mensch, er sieht ein, dass ihm der Einsatz von Atomwaffen keinen Vorteil bringen wird. Doch woher wissen wir, ob und in welchem Ausmaß sich Putin von der Vernunft leiten lässt? Woher wissen wir, dass er die Lage überblickt und alles und auch sich selbst im Griff hat? Permanent hören wir ganz anderes. Er sei ein Despot, physisch und seelisch krank, machtbesessen und skrupellos sei er.

Immerhin war er gewissenlos genug, um die Ukraine völkerrechtswidrig zu überfallen. Die politische Psychologie kennt die Diagnose des Cäsarenwahns. Nicht nur bei Hitler konnte gefragt werden, inwiefern sich die illusionäre Selbstüberschätzung mancher Staatenlenker von der Psychose unterscheidet.

Das zentrale Merkmal psychotischer Zustände ist die Unfähigkeit, die Realität zu erkennen. Psychotiker verwechseln ihre Wahnideen mit der Wirklichkeit.

Im atomaren Abschreckungsspiel soll nun ausgerechnet Putin ein verantwortungsvoller Player sein, einer, dem wir vertrauensvoll unser Überleben in die Hände legen? Den wir mit der Machtvollkommenheit ausstatten, die Welt durch einen Atomkrieg ins Unglück zu stürzen?

Denn der Westen ist es, der Putin diesen Schachzug anbietet. Nicht indem er ihm rät, es zu tun, sondern durch die Erzeugung von Umständen, unter denen Russland ankündigt, es machen zu wollen.

Wer die Entscheidung über den Beginn eines Atomkriegs aber der Gegenseite zuschiebt, macht sich von seinem Kontrahenten abhängig, ohne dessen Handeln beeinflussen zu können.

Wer dagegen mitwirken will, wer den Gegner an der nuklearen Auseinandersetzung hindern möchte, könnte ernsthaft das Gespräch suchen, dringend Verhandlungen anbieten, alles tun, um das größte aller möglichen Übel abzuwenden. Das wäre der Versuch einer positiven Einflussnahme im Sinne des eigenen Interesses am eigenen Überleben.

Militärische Automatismen

Allerdings geschieht das Gegenteil. Es besteht nicht bloß darin, dass wir keine ernsthaften Verhandlungen anbieten und den Rest den Launen Putins überlassen.

Viel schlimmer noch: Wir sind aktive Provokateure im Vorlauf zu einer möglichen Katastrophe. Indem wir uns eskalierend Schritt für Schritt jener rote Linie annähern, die schließlich zum russischen Ersteinsatz von Nuklearwaffen führen könnte, reduzieren wir unsere eigene Sicherheit möglicherweise bis auf null.

Wir stimulieren und animieren den Gegner, indem wir ihn etappenweise bis an jene Schwelle drängeln, an der er die Selbstbeherrschung verliert oder an der schon lange der atomare Ersteinsatz geplant war. Letzteres wäre der Punkt, an dem sich seine Militärmaschine selbständig macht.

Strategische Planungen haben die Tendenz, im Krisenfall ein Eigenleben zu entwickeln. So unterlag der Beginn des Ersten Weltkriegs Automatismen, die Jahrzehnte vorher festgelegt worden waren und in die aktuelle Situation kaum mehr passten. In Deutschland gehörte der Schlieffen-Plan dazu. Dann handeln nicht mehr Politiker, sondern Militärs, die glauben mögen, ein Nuklearkrieg sei nun unumgänglich, weil dafür Pläne vorliegen.

Der Politik- und Risikoanalyst Alexander Dubowy beschreibt in der Berliner Zeitung sehr gut, wie der Westen zurzeit verfährt. Er betreibe ein "Spiel aus Versuch und Irrtum. Damit kann jede beliebige Handlung des Westens von Wladimir Putin zu jedem beliebigen Zeitpunkt als eine unverzeihliche Grenzüberschreitung ausgelegt werden."3 [3]

Es ist also Putins Sache zu entscheiden, wann er eine Grenzüberschreitung feststellt, die ihn zum Einsatz von Atomwaffen motiviert oder wann die in militärischen Planungen gezogene Grenze überschritten worden ist. Der Westen testet aus, verstärkt seine Provokationen und wartet.

Objektiv ist es ein kaltblütiges Spiel mit dem Leben der Menschen. Geht Putin nicht in die atomare Offensive, hätte der Westen gewonnen, andernfalls aber ist das Schicksal Europas und vielleicht auch der Welt besiegelt.

Brinkmanship

Dieses Verfahren ist nicht neu. Es gehört zum klassischen Werkzeug einer Außenpolitik, die ehemals den sowjetischen Kommunismus zurückdrängen und notfalls mit Stumpf und Stiel ausrotten wollte. Sie beruhte – so der US-Außenminister John Foster Dulles – auf der "Fähigkeit, bis an den Rand eines Krieges zu gehen, ohne in einen Krieg zu geraten. (…) Wenn man Angst davor hat, bis an den Rand des Abgrunds zu gehen, ist man verloren."4 [4] "Brinkmanship", eine Politik am Abgrund, wurde das genannt.

Brinkmanship fand vor allem während der Kuba-Krise statt. Präsident Kennedy und seine Berater waren sich vollkommen bewusst, dass man den Konflikt absichtlich so weit trieb, bis man das Weiße im Auge des Gegners sah und sich direkt in der Todeszone befand.

"Wir werden nicht verfrüht oder unnötigerweise einen weltweiten Nuklearkrieg riskieren, (…) aber wir werden vor diesem Risiko auch nicht zurückschrecken, wenn wir ihm gegenüberstehen", so John F. Kennedy am 22. Oktober 1962 vor 100 Millionen Fernsehzuschauern und Radiohörern.5 [5]

Im Gegensatz zu heute war das eine ehrliche Ansage. Heute dagegen betreibt man Brinkmanship und leugnet es zugleich. Man baut auf der verbreiteten Naivität und dem Unwissen der Bevölkerung auf, die sich unter dem Atomkrieg nichts mehr vorstellen kann oder bereit ist, die Gefahr einfach auszublenden.

Wann wird Putin losschlagen?

Aber noch einmal zurück zu Putin. Was vor allem könnte ihn oder seinen Militärapparat dazu bewegen, Atomwaffen einzusetzen? Zwei Motive sind es vor allem: Zunächst die Sorge um die Glaubwürdigkeit seiner eigenen Abschreckung. Wie im Westen überzeugt sie nur, wenn absolut klar ist, dass diese Waffe nötigenfalls auch verwendet wird.

Das entspricht einem bekannten Paradoxon der Abschreckungslogik. Auch wenn man Atomwaffen eigentlich nicht einsetzen möchte, muss man sich zugleich wild entschlossen zeigen, es im Zweifelsfall zu tun. Es reicht nicht zu drohen, man muss auch handeln wollen.

Dem entsprach die damalige britische Außenministerin Liz Truss, als sie im August 2022 betonte, sie sei jederzeit bereit, den Atomknopf zu drücken, wenn sie zur Premierministerin gewählt würde. Rhetorik ist hier wichtig, aber auch die Entschlossenheit.

Natürlich verschiebt sich das Kontinuum zwischen purer Rhetorik und böser Bereitschaft während einer Krise beachtlich. Jetzt kommt es zum Schwur. Immer nur drohen und niemals schießen – sollte man grundsätzlich so denken, erübrigt sich die atomare Bewaffnung. Und die ist gerade in Russland hochgradig modernisiert, enorm teuer und zudem der Stolz der Eliten. Dort wird ein Einsatz wenigstens der taktischen Waffen keineswegs als bedenklich eingeschätzt.

Das zweite Motiv ist der Machterhalt. Für Putin völlig ausgeschlossen ist die Niederlage. Der vom Westen angezielte Sieg über Russland wäre für ihn geradezu das Stichwort, jetzt Atomwaffen einzusetzen.

Es wäre mehr als ein Glücksfall, wenn ein Sieg des Westens nicht zugleich zumindest das Signal für den Weltkrieg wäre, der sehr rasch bis in den Nuklearkrieg eskalieren könnte. Denn Putin oder auch die ihn stützenden Eliten werden alles tun, um nicht als die Verlierer dazustehen. Als begossene Pudel werden sie sich nicht kampflos ergeben.

Überleben wir den Atomkrieg?

So bleibt nur noch die Selbstberuhigung, ein Atomkrieg werde nicht so zerstörerisch sein, wie früher einmal behauptet wurde. Tatsächlich ist ja schon zu Beginn des Kalten Krieges davon gesprochen worden, der Atomkrieg sei führbar, er sei zu begrenzen und ein Sieg mit Atomwaffen sei möglich.

Von der Wissenschaft ist diese Vorstellung aber wieder fallen gelassen worden, nachdem wahrscheinlich wurde, dass auch ein kleinerer Atomkrieg einen "nuklearen Winter" auslösen würde, der weltweite Hungersnöte im Gefolge hätte. Von einer Vernichtung der menschlichen Zivilisation zu reden, ist nicht übertrieben.6 [6]

Eigenartig ist es allerdings, dass die größte aller möglichen Gefahren, der die Menschheit ausgesetzt ist, so wenig zur Kenntnis genommen wird und das Glücksspiel einer Politik am Abgrund bei den Verantwortlichen offenbar kaum Befürchtungen auslöst. Umgekehrt hören wir: Angst sei ein schlechter Ratgeber. Man solle sich von den Drohungen Putins nicht einschüchtern lassen und einfach weiter eskalieren.


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[3] https://www.heise.de/tp/features/Was-den-Ukraine-Krieg-zur-globalen-Gefahr-macht-7470692.html?view=fussnoten#f_3
[4] https://www.heise.de/tp/features/Was-den-Ukraine-Krieg-zur-globalen-Gefahr-macht-7470692.html?view=fussnoten#f_4
[5] https://www.heise.de/tp/features/Was-den-Ukraine-Krieg-zur-globalen-Gefahr-macht-7470692.html?view=fussnoten#f_5
[6] https://www.heise.de/tp/features/Was-den-Ukraine-Krieg-zur-globalen-Gefahr-macht-7470692.html?view=fussnoten#f_6