Was die "StopptCOVID"-Studie des RKI aussagt – und was nicht

Seite 3: In vielen Fällen passen die Schlussfolgerungen nicht zu den Modellergebnissen

Wir haben gesehen, dass der Modellansatz in der RKI-Studie problematisch ist. Aber darüber hinaus sind auch wesentliche Schlussfolgerungen der Studie nicht durch deren eigene Modellergebnisse gesichert. Wie wir eingangs beschrieben haben, ist die erste Frage in Kausalanalysen, ob die Wirkung nach bzw. mit der angenommenen Ursache eingesetzt hat.

Die RKI-Studie weist aber selbst nach, dass eine Abschwächung des Infektionsgeschehens bereits einige Tage vor Etablierung vieler Maßnahmen einsetzte. Somit ist bereits der Nachweis, dass die Änderung im Infektionsgeschehen nach Einführung der Maßnahme erfolgte, nicht erbracht worden. Dieses Resultat ist nicht neu, sondern wurde bereits vielfach belegt, auch im Evaluationsbericht des Sachverständigenausschusses wird darauf in Kapitel 6.1.1.1 eingegangen.

Anstatt jedoch vor diesem Hintergrund die kritische Frage nach der tatsächlichen Effektivität von einzelnen Maßnahmen oder kompletten Lockdowns zu stellen, kehrt die RKI-Studie die Interpretation dieses Ergebnisses als Beleg für deren Wirksamkeit um – ein Schritt, der aus dem Modell heraus nicht nachvollziehbar ist.

Die Argumentation der Autorinnen und Autoren geht dahin, dass die Bevölkerung jene Maßnahmen antizipiert und "freiwillig" ihr Verhalten geändert habe – ein Einwand, den man schon häufiger gehört hat, der zunächst plausibel klingt, von dem aber bei genauerer Betrachtung nicht mehr bleibt als eine unbewiesene Behauptung.

Die RKI-Studie selbst liefert auch keinen Nachweis hierfür, obwohl es sich über etwa Mobilitätsdaten durchaus überprüfen ließe – und diese sprechen keinesfalls eine einheitliche Sprache. Wir haben in unserem Kommentar gezeigt, dass sich in bestimmten Fällen sogar Gegenbeispiele finden lassen, in dem Sinne, dass die Ankündigung von Maßnahmen sogar kontraproduktiv ist, weil dadurch Mobilität bzw. Kontakte erhöht wurden.

In keinem Fall belegt die RKI-Studie, dass solche freiwilligen Verhaltensänderungen stattgefunden haben – und erst recht nicht, dass diese Verhaltensänderungen dann das Infektionsgeschehen tatsächlich beeinflussten.

Weiterhin belegen die Modellergebnisse der RKI-Studie auch nicht, dass sämtliche Maßnahmen im gewünschten Sinne wirken. Im Gegenteil: Für einige Maßnahmen wird sogar (vermeintlich) nachgewiesen, dass sie kontraproduktiv sind, weil sie – im Modell – den R-Wert erhöhen.

Im RKI-Bericht werden diese "paradoxen Effekte", wie sie von den Autorinnen und Autoren genannt werden, nur an einer Stelle kurz erwähnt – erklärt werden sie nicht. Es ist natürlich prinzipiell denkbar, dass eine Corona-Maßnahme nicht nur keinen Einfluss haben, sondern sogar kontraproduktiv sein kann – dies wird vermutlich kaum bestritten, ist aber an dieser Stelle gar nicht so entscheidend.

Viel wichtiger ist, dass diese "paradoxen Effekte" bedeuten, dass für die betreffenden Maßnahmen die Hypothese einer infektionsreduzierenden Wirkung zu verwerfen ist. Es ist in wissenschaftlichen Arbeiten unbedingt zu erwarten, dass solche Ergebnisse nicht nur dargestellt bzw. kurz erwähnt, sondern auch inhaltlich interpretiert werden: Sind die betroffenen Maßnahmen vielleicht wirklich kontraproduktiv? Wenn ja, warum? Oder liegen vielleicht methodische Probleme vor, die für inhaltliche Fehlschlüsse verantwortlich sein können? Hierzu findet sich keine Reflexion im RKI-Bericht.

Das wäre auch deswegen wichtig, weil die diesbezüglichen Modellergebnisse zum Teil logisch widersprüchlich sind (siehe Abbildungen 22 und 23 in der RKI-Studie): Warum sollten Maßnahmen im Einzelhandel unterschiedlicher Eskalationsstufe bei 18-59-Jährigen das Infektionsgeschehen drosseln und bei Kindern und Jugendlichen sowie in der Altersgruppe 60+ das Gegenteil bewirken?

Es geht aus diesen Ergebnissen auch hervor, dass Masken im ÖPNV und im Einzelhandel bei Personen ab 60 Jahren das Infektionsgeschehen entschleunigen, aber in den anderen Altersgruppen deutlich verstärken – warum sollte das in der Realität so sein? Ist es überhaupt logisch möglich, dass Masken in einer Altersgruppe gegen Infektionen schützen und in einer anderen Altersgruppe Infektionen vorantreiben?

Oder: Warum sind Maßnahmen am Arbeitsplatz in der Gruppe von 18 bis 59 Jahren – also der mehrheitlich erwerbstätigen Bevölkerung – kontraproduktiv, während sie in der Arbeitsgruppe unter 18 Jahren den erwarteten bzw. gewünschten Effekt zeigen?

Aus wissenschaftlicher Perspektive gibt es hier nur zwei Möglichkeiten:

Entweder man sieht die Aussagekraft der Modellanalyse als ausreichend an – dann müssten solche Widersprüche aber inhaltlich aufgearbeitet bzw. erklärt werden, oder man führt diese widersprüchlichen Ergebnisse auf methodische Mängel zurück – das würde dann aber bedeuten, sämtliche Ergebnisse und den zu Grunde gelegten Modellansatz auf den Prüfstand zu stellen. In der RKI-Studie wird beides nicht gemacht.