"Was interessiert mich die Gabelstaplertechnik in Chicago?"
Die nach dem 11.9. gestartete Informationskampagne der USA in den arabischen Ländern erinnert an die Filme der Marshall Plan Motion Picture Section nach dem Zweiten Weltkrieg
Das von George C. Marshall in seiner Rede an der Harvard-Universität am 5. Juni 1947 entwickelte "European Recovery Program" (ERP) wurde von ihm als Feldzug gegen "Hunger, Armut, Verzweiflung und Chaos" bezeichnet und beruhte auf der Überzeugung, dass nur die Überwindung der Wirtschaftsmisere die Völker Europas gegen den Kommunismus immunisieren werde. Vor diesem Hintergrund entstanden unter Aufsicht der Marshall Plan Motion Picture Section zahllose Filme, die im Rahmen des Berlinale Sonderprogramms "Selling Democracy - Films of the Marshall Plan: 1947-1955" gezeigt wurden.
Bereits kurz nach den Anschlägen vom 11. September 2001 ließ die ehemalige Chefin von New Yorks größten Werbeagenturen Ogilvy & Mather und J. Walter Thompson in ihrer neuen Eigenschaft als Undersecretary of State for Public Diplomacy eine Weltkarte auf der Website des Weißen Hauses schalten, die grafisch aufzeigte, dass von der World Trade Center-Attacke nicht nur die USA, sondern die ganze Welt betroffen ist. Bis auf Alaska, Tibet und einem großen Teil von Afrika waren die verbleibenden 80 Nationen auf dieser Weltkarte mit blauer Farbe als Krisengebiet ausgewiesen, was eine nicht nur grenzen-, sondern auch beispiellose Mobilisierung der Weltgemeinschaft in Aussicht stellte.
Die kurz vor dem Ausbruch des Dritten Golfkrieges durch Margaret Tutwiler ersetzte "Queen of Branding" ließ Videos, Info-Broschüren und andere Medien folgen, die den nicht geringen Anspruch hatten, Demokratie in der muslimischen Welt zu "verkaufen". Wer sich die hehren Ziele dieser Informationskampagne vor Augen hält, wird sich gezwungenermaßen an ihren Vorläufer erinnern: Die im Zuge des Marshallplans lancierte Informationskampagne, die ähnliche Ziele mit vergleichbaren Mitteln verfolgte. Propagandaträger der "westlichen Werte" (Rainer Rother) waren damals Filme, die großen Stückzahlen produziert und über Landesgrenzen hinweg vertrieben wurden.
Nicht weniger als 250 Filme entstanden unter der Ägide des Marshallplans. Sie wurden in Kinos vor den eigentlichen Programmpunkten als eine Art Appetizer gezeigt, jedoch auch in Schulen, Kirchen, auf Arbeitsversammlungen und beim Militär. "Um den Bedarf der Spielstätten abzudecken", sagt Albert Hemsing, Leiter der Marshall Plan Motion Picture Section, "brauchten wir Hunderte von 16 mm Kopien in bis zu 13 Sprachfassungen." Finanziert wurde diese Kampagne aus den Mitteln der "Counterpart Funds", also der Gegenfinanzierung der europäischen Länder, die diese als Eigenanteil in Höhe der US-amerikanischen Hilfe aufbringen mussten.
Thematisch und formal lassen sich die Filme kaum über einen Kamm scheren. Beachtlich jedoch ist, dass die Auftraggeber aus den USA auf die Dienste von europäischen Regisseuren zurückgriffen, die wiederum ihre ganz persönlichen Themen aufgriffen. Das Motto ihrer Produktion brachte Filmemacher Georg Tessler zum Ausdruck, der im Rahmen des Berlinale Sonderprogramms "Selling Democracy - Films of the Marshall Plan: 1947-1955" auf einem Panel die folgende rhetorische Frage in die Diskussion warf: "Was interessiert mich die Gabelstaplertechnik in Chicago?" Tessler zu Folge waren es die lokalen Themen, die nicht nur die Regisseure am besten beherrschten, sondern die auch die Zuschauer am besten verstanden. Stuart Schulberg, ein Kollege von Albert Hemsing, erklärte einmal:
Qualität ist nur die halbe Schlacht an der Distributionsfront. Stil und Subtilität sind wesentliche Elemente [...] Ein ungeschriebenes Gesetzt sagt, dass der Marshall-Plan - und andere Aufklärungsziele - höchstens zweimal in einem kurzen Film und dreimal in einem längeren Film erwähnt werden durften. Wenn Amerikanern bei der Betrachtung der englischsprachigen Version der Filme die 'Botschaft' nicht deutlich genug vertreten scheint, sollten sie bedenken, dass die Europäer noch satt sind von den Propagandaphrasen des Herrn Goebbels.
Dem Selbstverständnis nach standen die Marshallplan-Regisseure weder im Dienst des Staates noch im Dienst der Wirtschaft, sondern im Dienst der europäischen Gemeinschaft. Und da ein wichtiges Ziel dieses Informationsprogramms die europäische Integration war, waren besonders solche Filme gefragt, die einer Nation vorführten, wie eine andere Nation soziale oder ökonomische Probleme löste. So ließ beispielsweise der Zeichentrickfilm "The Shoemaker and the Hatter" von den gleichen Künstlern, die später mit Orwells "Animal Farm" einen Klassiker des Genres drehen sollten, zwei Nachbarn miteinander streiten: einen Hutmacher und einen Schuster, die jeweils unterschiedliche Ansichten darüber haben, wie die Geschäfte nach dem Krieg wieder aufzunehmen seien. Nach zahlreichen Versuchen und vor allem jedoch den damit verbundenen Auslandsreisen beweist der Schuhmacher schließlich, dass der freie Handel beiden Wohlstand bringen kann.
Wer in Betracht zieht, dass die einzige Vorbedingung für die amerikanische Hilfeleistung darin bestand, dass die Völker Europas ihre Anstrengungen zum Wiederaufbau Europas miteinander abstimmen und sich aus der Zusammenarbeit eine weitergehende Integration der einzelnen Volkswirtschaften entwickeln sollte, was gemeinhin geschah und der Marshallplan heute vor allem deshalb als Wegbereiter der EU begriffen wird, dürfte verstehen, warum die Filme der Marshall Plan Motion Picture Section heute als semiotisches Erbgut der EU-Ikonografie gelesen werden können.
Wie ambivalent diese Ikonografie in ihrer Anlage war, lässt sich an dieser Stelle mit Blick auf ein Postermotiv der Marshall-Plan-Informationskampagne eigentlich nur andeuten: Es zeigt ein Schiff, dessen Segel aus allen europäischen Fahnen bestehen. Was wohl als Symbol der Einheit verstanden werden sollte, setzte einen durchaus aggressiven Akzent: Seiner Form nach ist es den Zeiten der europäischen Kolonialbewegung entsprungen, deren Produkt nicht zuletzt die Vereinigten Staaten von Amerika waren.