Was ist Armut? Probleme mit der Prozentrechnung

Seite 2: Bleibt der Anteil der "Armen" nach der Definition des Paritätischen Wohlfahrtsverbands konstant (Handelsblatt)?

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Um weitere Klarheit zu gewinnen, wende ich mich einer zweiten Kritik an der Methodik des Armutsberichtes aus den letzten Tagen zu. Ich werde weiter unten wieder auf Guido Kleinhubbert zurückkommen. Diesmal stammt das Zitat vom Handelsblatt. Man sollte glauben, dass eine der führenden Wirtschaftszeitungen Deutschlands in seiner Kritik der Methodik des Armutsberichtes etwas präziser ist als SPON und damit die Diskussion ergiebiger.

Doch was ist wirklich dran am "armen Deutschland"? Nach Definition der Verbände gilt als "arm", wer in einem Haushalt lebt, der über weniger als 60 Prozent des mittleren Haushaltseinkommens in Deutschland verfügt. Nach den jüngsten verfügbaren Daten aus dem Mikrozensus lag die Armutsschwelle demnach bei 917 Euro für einen Single und bei 1.926 Euro für einen Paarhaushalt mit zwei kleinen Kindern.

Allerdings sagt die so gemessene Quote mehr über die Einkommensverteilung in Deutschland aus als über tatsächliche Armut. Denn selbst wenn plötzlich für jeden Deutschen monatlich 10.000 Euro vom Himmel regnen sollten, bliebe der Anteil der "Armen" nach dieser Definition konstant.

Frank Specht im Handelsblattam 23.02.2016

Diskutieren wir das wieder an einem Beispiel. Die Zahlen sind wieder eine Modellrechnung, jedoch angelehnt an deutsche Daten zur Einkommensverteilung, also nicht völlig aus der Luft gegriffen.

Hier haben wir 100 Personen, jeweils 50 Personen haben ein Einkommen von unter bzw. über 1.500 €, dies ist also das Medianeinkommen. 60% davon sind 900 €, darunter herrscht Armut. Dies betrifft 15 Personen, also 15% der Gruppe. Die Zahlen kommen den Daten des Armutsberichts also recht nahe.

Folgen wir also dem Vorschlag des Handelsblattes und lassen Geld regnen. 10.000 € pro Person und Monat. Mit einem Einkommen von über 10.000 € pro Monat nähern wir uns der Gesellschaft der Ferrarifahrer von SPON. Guido Kleinhubbert und Frank Specht bewegen sich also in ihrer Kritik am Konzept des Armutsberichtes auf ähnlichen Bahnen. Der Anteil der Armen sollte sich nach dem Geldregen nicht ändern, jedenfalls behauptet das Frank Specht. Sehen wir zu, was passiert. Wir erhalten folgende neue Tabelle:

Diesmal teilt ein Einkommen von 11.500 € die Gruppe in zwei gleiche Hälften zu je 50 Personen. 60% von diesem neuen Medianeinkommen sind 6.900 €.

Überraschung! Alle Einkommen in der Gruppe, die sich über das Helikoptergeld freuen darf, haben ein Einkommen oberhalb der 60% Marge. Die Armut ist verschwunden. Übrigens reicht ein Geldsegen von 1.000 € um die Armut auf 5% zu senken, bei 1.100 € mehr Geld in der Lohntüte für jeden verschwindet die Armut vollständig, wie jeder leicht selber ausrechnen kann.

Überraschung? Natürlich nicht. Wenn man alle Einkommen um dieselbe Summe erhöht, bleiben die Unterschiede zwischen den Einkommen dem Betrag nach gleich. Sie ändern sich jedoch prozentual, da man den Basiswert der Prozentrechnung verändert hat. Oder anders herum formuliert: 60% des Medianeinkommens entsprechen vor und nach der Erhöhung dem Einkommen einer anderen Einkommensgruppe oder eben keiner, wenn es eine entsprechende Einkommensgruppe nicht gibt. Eine simple Dreisatzrechnung. Dass "der Anteil der 'Armen' nach dieser Definition konstant" bleibt, lässt man Geld regnen, wie Frank Specht vollmundig behauptet, ist also absoluter Nonsense und zeigt, dass Herr Specht beim Schreiben des Artikels die Grundlagen der Prozentrechnung nicht präsent hatte.

Ich haben oben (mit Dan Ma) angemerkt, dass das Konzept des Medianeinkommens für die meisten Menschen plausibler ist, als das Konzept des Durchschnittseinkommens. Diese Plausibilität gilt auch für den am Medianeinkommen orientierten Armutsbegriff. Anders als Guido Kleinhubbert und Frank Specht glauben machen wollen, erzeugt dieser Armutsbegriff kein statistisches Artefakt, so dass auch in absurden Situationen Armut herrschen würde. Es gibt keine Notwendigkeit, dass es in der Gesellschaft immer Menschen geben muss, die weniger als 60% des Medianeinkommens zu Verfügung haben. Im Gegenteil, diese Grenze ist ein Fingerzeig für die Politik, wo etwas aus dem Ruder läuft.

Worin besteht die Erkenntnisblockade, die es Guido Kleinhubbert und Frank Specht so schwer macht, das Konzept der relativen Armut im Armutsbericht richtig darzustellen? OK, Guido Kleinhubbert arbeitet bei SPON im Deutschland-Ressort, Wirtschaftskompetenz kann man also nicht unbedingt voraussetzen, jedoch ist Frank Specht Wirtschaftsredakteur beim Handelsblatt. Er sollte sich also auskennen.

  • Man möchte eine einseitige Voreingenommenheit vermuten. Wenn das Wort "Armut" fällt, blockiert das Denken.
  • Eventuell liegt es auch daran, dass das Konzept des Medianeinkommens einen impliziten normativen Fokus auf die Mittelschicht legt und nicht auf die extremen Gewinner.
  • Vielleicht liegt das Problem jedoch tiefer. Peter Mühlbauer hat vor einiger Zeit auf Telepolis auf das erschreckende Phänomen aufmerksam gemacht, das es in Deutschland einen weit verbreiteten Cult of Ignorance gegenüber der Mathematik gibt, dass "viele Leute geradezu stolz darauf sind, schlecht in Mathe zu sein" (Debatte über Mathematikverachtung). Um zu verstehen, dass die Zahl der Armen im Sinne des Armutsberichtes sinkt, wenn man alle Einkommen um einen gleichen Betrag erhöht, dazu bedarf es jedoch keiner höheren Mathematik. Die Kenntnis der Prozentrechnung reicht dafür völlig aus.
  • VieIleicht ist es aber auch weitaus banaler. Thomas Steinschneider, dem diese seltsame Denkblockade auch aufgefallen ist, erklärt den Vorgang durch den Genuss von zu viel Pinot Grigio.