Was ist Bewusstsein?

Seite 2: Kognitionswissenschaft des Bewusstseins

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Metapher hin oder her - in den Kognitionswissenschaften will man freilich nicht nur über Bewusstsein reden, sondern es auch erforschen. Wie man das tun kann, erklärte kürzlich der Neurophysiologie-Professor Andreas Engel in einem Artikel in Gehirn&Geist: Man zerlegt das große Problem in Komponenten, die sich einzeln untersuchen lassen, nämlich Wachheit (in Fachsprache manchmal: Vigilanz), Integration und Selektion. Dazu kommen laut Engel noch die Nebenaspekte Arbeitsgedächtnis und Motivation/Emotion.

Mit Integration ist gemeint, dass unser Nervensystem aus den unterschiedlichen und komplexen Wahrnehmungseindrücken der Sinnesorgane ein zusammenhängendes Erlebnis bildet: Wir sehen eben keine Fläche grüner, gelber, roter und violettfarbener Kleckse unter einem blauen Rechteck, sondern eine blühende Sommerwiese; dazu hören wir vielleicht noch das Summen von Bienen, das Zwitschern von Vögeln und das Rauschen von Blättern im Wind. Philosophen sprechen daher manchmal auch von der "Einheit" des Bewusstseins.

Tatsächlich gibt es eine vielversprechende neurowissenschaftliche Theorie darüber, wie diese Integrationsleistung zustande kommt: Es scheint, dass bestimmte Gehirnareale, die an der bewussten Wahrnehmung beteiligt sind, in einem schnellen Gleichtakt feuern, den so genannten Gamma-Oszillationen. Dazu kommt die Selektion, das heißt, dass wir in unserem Bewusstsein die Aufmerksamkeit auf etwas richten, etwa die Falter, die vor unseren Augen über die Wiese schmetterlingen.

Merke: Erstens, dieses Verb gibt es im Deutschen tatsächlich (vgl. auch niederländisch vlinderen). Zweitens, der philosophisch geneigten Leserin ist im letzten Absatz natürlich aufgefallen, dass eine Wendung wie "in unserem Bewusstsein die Aufmerksamkeit auf etwas richten" nicht unproblematisch ist: Wie kann etwas in unserem Bewusstsein sein, wenn dieses doch nur ein Oberbegriff für bewusste Prozesse ist? Was ist "Aufmerksamkeit"? Und wie richtet man diese auf etwas?

Ich gebe zu: Ich rede hier metaphorisch - aber ich bin auch nur Mensch, mein Wissen ist begrenzt und ich will diesen Beitrag auch noch zum Ende bringen.

Das Rätsel Bewusstsein bleibt

Zu all diesen Prozessen gibt es natürlich wissenschaftliche Untersuchungen, wurden bestimmte Eigenschaften und Orte des Nervensystems in Zusammenhang gebracht ... Doch bei allem Respekt für empirische Forschung: Nachdem man das große Ganze, den Oberbegriff Bewusstsein, in seine Teile zerlegt hat, hat man es nun mit der Schwierigkeit zu tun, die Teile wieder zu einem Ganzen zusammenzusetzen. Und hierzu schreibt etwa Andreas Engel:

Die Erforschung jeder dieser Teilfunktionen verzeichnete in den vergangenen Jahrzehnten außerordentliche wissenschaftliche Fortschritte. So kennen wir heute recht gut die Struktur und die Arbeitsweise der Hirnbereiche, die für Wachheit, sensorische Verarbeitung, Aufmerksamkeit, Gedächtnis und Emotionen zuständig sind. Weniger gut verstanden ist allerdings noch, wie all diese Teilfunktionen ineinandergreifen, so dass daraus letztlich Bewusstsein entsteht.

Andreas Engel

Es geht uns also ein bisschen wie Goethes Faust, der da klagt:

Habe nun, ach! Philosophie,
Juristerei und Medizin,
Und leider auch Theologie
Durchaus studiert, mit heißem Bemühn.
Da steh ich nun, ich armer Tor!
Und bin so klug als wie zuvor;
Heiße Magister, heiße Doktor gar
Und ziehe schon an die zehen Jahr
Herauf, herab und quer und krumm
Meine Schüler an der Nase herum -
Und sehe, daß wir nichts wissen können!

Ein Bindeglied zwischen Dr. Faust von 1808 und Andreas Engel könnte der Arzt und Physiologe Emil du Bois-Reymond (1818-1896) sein: In einem Aufsatz von 1880 formulierte er sieben große Welträtsel, von denen er die beiden Rätsel des Bewusstseins - wie Empfindendes aus Nicht-Empfindendem oder Denkendes aus Nichts-Denkendem entsteht - für prinzipiell unlösbar hielt. In seiner berühmten Rede von 1872 hatte er das so auf den Punkt gebracht: Ignorabimus! Lateinisch für: Wir werden es niemals wissen!

Ob sich die große Frage, was genau Bewusstsein ist und wie es genau funktioniert, jemals lösen lassen wird, wir wissen es nicht. Dennoch können wir festhalten, dass sich sowohl philosophisch als auch empirisch-wissenschaftlich heute schon viel über das Thema aussagen lässt. In der Praxis dürfte das aber am ehesten Patientinnen und Patienten zugutekommen, die an einer Bewusstseinsstörung leiden.

Verlorenes Orientierungswissen

Das heißt im Umkehrschluss aber auch: Wer sich von dieser Forschung Orientierungswissen für das eigene Leben erhofft, der sieht sich eher enttäuscht. Als Beispiel kann man hierfür die Pionierarbeit der Neurophysiologen David Hubel (1926-2013) und Torsten Wiesel (geb. 1924) anführen: Diese erzielten vor rund 60 Jahren einen Durchbruch zum Verständnis des visuellen Systems, also wie wir sehen können, und wurden dafür 1981 mit dem Nobelpreis für Physiologie oder Medizin ausgezeichnet.

Ist es jetzt so, dass wir in dieser Zeit gelernt hätten, mehr zu sehen, besser zu sehen, bewusster zu sehen, anders zu sehen? Leider nein. Der Gedanke der Schulung des Wahrnehmers würde am besten zur Phänomenologie oder introspektiven Psychologie passen - die mehr und mehr aus der wissenschaftlichen Fachwelt verdrängt wurden. Diese Disziplinen wurden den Standards "objektiven" Experimentierens und gesetzlicher Verallgemeinerbarkeit nicht gerecht: Damit wurde das Subjektive und das Individuelle, das die meisten Menschen am Rätsel Bewusstsein interessieren dürfte, gerade ausgeschlossen.

Da die westliche Wissenschaft und Philosophie auf dem Gebiet von Selbsterfahrung und lebensweltlichem Orientierungswissen nur noch wenig zu bieten hat, wenden sich eben immer mehr Menschen östlichen Lehren zu, die den Kontakt mit der Erfahrung und den Problemen der Alltagswelt nie verloren haben: So lässt sich meines Erachtens die steigende Beliebtheit von Achtsamkeit, Meditation, Qigong oder Yoga erklären. Das versucht man ansatzweise etwa durch "Mindfulness" wenigstens in die Psychotherapie zurückzubringen, nachdem man unsere eigene traditionelle phänomenologische Introspektion (wörtlich: Innenschau) als unwissenschaftlich diskreditiert hat.

Wem sollten aber Philosophie und Wissenschaft nutzen, wenn nicht den Menschen? Natürlich kann man die Mechanismen der Psyche auf Ebene von Gehirnarealen, Zellverbänden, Molekülen, Atomen … immer weiter und immer feiner analysieren. Ob man so die großen Fragen der Menschheit lösen kann und weiter kommt als Goethes Faust, das darf allerdings bezweifelt werden.

Dieser Artikel erscheint ebenfalls im Blog "Menschen-Bilder" des Autors.

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