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Was russische Atomwaffen in Belarus mit dem rheinland-pfälzischen Büchel zu tun haben

Russische Atomrakete Topol-M. Bild: Vitaly V. Kuzmin, CC BY-SA 4.0

Gut 10.000 Nato-Soldaten üben derzeit in Deutschland die Mobilmachung gegen einen Feind aus dem Osten. Das Manöver ist weniger fiktiv als dargestellt. Das hat auch verpassten Chancen zu tun. Ein Gastkommentar.

Noch bis zum 23. Juni findet europaweit die insgesamt zweiwöchige multinationale Übung Air Defender 2023 statt. Dabei trainieren 25 Staaten ihre Luftstreitkräfte - in der laut Bundeswehr-Website "größten Verlegeübung seit Bestehen der Nato" über Europa.

Mit bis zu 10.000 Soldaten und 250 Luftfahrzeugen soll ein deutliches Signal der "Bündnissolidarität und transatlantischen Verbundenheit" an Russland gesendet werden. Der Kriegsfall und der Bündnisfall nach Artikel 5 werden bis an die Grenzen Russlands, Weißrusslands und der Ukraine geübt.

Doch das Risiko eines zufälligen Aufeinandertreffens von Nato- und Russland-Streitkräften wird dadurch massiv erhöht. Vorfälle gab es bereits mehrfach.

So zum Beispiel im September 2022, als ein russisches Kampfflugzeug über dem Schwarzen Meer eine Rakete auf ein britisches Überwachungsflugzeug abfeuerte. Glücklicherweise versagte die Munition.

Befürworter der Übung argumentieren, dass dieses Militärmanöver ein starkes Signal sei, um Russland von einer Ausweitung des Krieges nach Westen abzuschrecken oder gar einzuschüchtern, in der Hoffnung, dass Putin aus Angst vor der Nato einlenkt.

Aber dann haben sie diesen Konflikt und die Haltung der russischen Regierung völlig missverstanden. Ein solches Manöver stärkt eher Putins Propaganda, dass nicht er, sondern der Westen der Aggressor sei.

Die Nato liefert ihm damit Stoff für sein Narrativ, mit dem er den nationalistischen Teil der russischen Bevölkerung hinter sich gebracht hat: Dass die Nato plane, sich weiter nach Osten auszudehnen und Russland einzukreisen oder gar anzugreifen.

Ich will hier in aller Deutlichkeit sagen: Es gibt keine Rechtfertigung für einen Angriffskrieg. Russland hat diesen Krieg gegen die Ukraine begonnen und muss ihn auch beenden.

Dennoch stehen auch alle europäischen Staaten in der Verantwortung, ihre Bevölkerung zu schützen, den Krieg nicht eskalieren zu lassen und endlich eine friedliche Lösung des schwelenden Konflikts zwischen der Nato und Russland zu finden.

Wir dürfen uns nicht "nur reaktiv" hinter Putins Aggression verstecken und darüber unsere eigenen Verpflichtungen vernachlässigen. Deshalb wäre ein Signal der Bereitschaft der westlichen Staatengemeinschaft wichtig, mit Russland über eine Deeskalation zu sprechen.

Im Mai 2023 hatten die Staats- und Regierungschefs der G7 in Hiroshima eine Chance, das zu tun. Im Vorfeld des Gipfels forderten 22 deutsche Partnerorganisationen der Internationalen Kampagne zur Abschaffung von Atomwaffen (Ican) Bundeskanzler Scholz in einem Brief auf, sich für den Beginn neuer nuklearer Abrüstungsverhandlungen einzusetzen.

Angesichts der Verschärfung der nuklearen Rhetorik, der angekündigten Stationierung russischer Atomwaffen in Weißrussland, der Aufkündigung von Rüstungskontrollabkommen und der allgemeinen Aufrüstung der Arsenale - insbesondere in den Atomwaffenstaaten - sei es notwendig, ein Zeichen der Deeskalation zu setzen.

Hiroshima-Papier der G7 mehr als enttäuschend

Eine indirekte Antwort kam in Form der "Hiroshima-Vision zur nuklearen Abrüstung" der G7-Staaten, die für die Ican-Partner mehr als enttäuschend war. Das Papier kündigt "konkrete Schritte zur Verstärkung der Abrüstungs- und Nichtverbreitungsbemühungen" an, "um das Endziel einer Welt ohne Atomwaffen und mit unverminderter Sicherheit für alle zu erreichen". Worin diese konkreten Schritte bestehen, wird jedoch nicht näher erläutert.

Trotz eines Besuchs im Friedensmuseum von Hiroshima, trotz Trauergesichtern und Kranzniederlegungen, trotz warmer Worte über das unermessliche Leid der Überlebenden - für die mächtigsten Staaten der Welt ist alles business as usual.

Die westlichen Atommächte haben hier eine wichtige Chance verpasst, der Welt zu erklären, dass sie einen Ersteinsatz von Atomwaffen kategorisch ausschließen. Und dass Atomwaffen niemals und unter keinen Umständen wieder eingesetzt werden dürfen. Die G20-Erklärung vom November 2022 war fortschrittlicher.

Das Papier besagte, dass "der Einsatz oder die Androhung des Einsatzes von Kernwaffen (…) unzulässig" ist. Im G7-Papier hieß es dagegen: "Russlands Drohungen mit dem Einsatz von Atomwaffen, ganz zu schweigen von einem möglichen Einsatz von Atomwaffen durch Russland im Zusammenhang mit seiner Aggression gegen die Ukraine, sind inakzeptabel". Auch China wird für seine "beschleunigte Aufrüstung ohne Transparenz und Dialog" kritisiert.

Seit wann sind Politikerinnen und Politiker der Meinung, dass sie Sicherheit und Abrüstung erreichen können, indem sie mit dem Finger auf andere zeigen?

Das einzig Neue an dieser "Vision" ist mehr Transparenz über die westlichen Atomwaffenarsenale (Großbritannien wird ab 2021 keine Informationen mehr über sein Arsenal veröffentlichen).

Ansonsten wird das Mantra der letzten 20 Jahre wiederholt: Ein Vertrag zur Beendigung der Produktion von spaltbarem Material für Waffenzwecke sei notwendig, der umfassende Teststoppvertrag müsse in Kraft treten (obwohl auch dieser von den USA blockiert wird) und das Prinzip der Nichtverbreitung von Atomwaffen über den Kreis der akzeptierten Atommächte hinaus. Als Schuldige werden die üblichen Verdächtigen ausgemacht: Nordkorea und Iran.

Kein Wort findet sich in dem Papier über die "Modernisierung" der westlichen Atomwaffenarsenale, die vor dem Einmarsch Russlands in die Ukraine in vollem Gange war. Keine Erwähnung der lange geplanten Stationierung von B61-12 Atombomben in Europa.

Als Teil eines breiten zivilgesellschaftlichen Bündnisses demonstriere ich seit Jahren gegen die Stationierung von US-Atomwaffen in Deutschland und das Prinzip der nuklearen Teilhabe.

So organisieren wir vom 4. bis 7. Juli ein Protestcamp in der Nähe des nordrhein-westfälischen Fliegerhorstes Nörvenich, wo die Bundeswehr mit dem Trägerflugzeug "Tornado" den Einsatz von Atomwaffen trainiert.

Traditionell fanden diese Proteste seit den 1990er-Jahren am Fliegerhorst in Büchel in Rheinland-Pfalz statt, wo die US-Atomwaffen im Rahmen der nuklearen Teilhabe Deutschlands bis zu ihrer "Modernisierung" stationiert waren.

Zwar haben sich alle G7-Staaten gegen eine nukleare Teilhabe Russlands mit Weißrussland ausgesprochen. Gleichzeitig müssen aber die USA ihre Atomwaffen aus fremden Territorien, auch aus Deutschland, abziehen, sonst wird hier mit zweierlei Maß gemessen.

Die Überlebenden von Hiroshima und Nagasaki und in den Teilen der Welt, in denen Atomwaffen zu "Testzwecken" eingesetzt wurden, verdienen mehr als Lippenbekenntnisse.

Die Verantwortung für die weltweite Abschaffung von Atomwaffen liegt nicht allein bei Russland, auch wenn Putins Regierung derzeit die aggressivste Nuklearpolitik der anderen Atomwaffenstaaten betreibt.

Eine glaubwürdige nukleare Abschreckungspolitik lebt von Drohungen - auch Trump war ein Meister darin. Es ist an der Zeit zu begreifen, dass noch mehr Abschreckung - ob konventionell oder nuklear - keinen Frieden schafft. Jetzt nicht und auch in Zukunft nicht. Es gibt keine Alternative zum mühsamen Weg der Diplomatie, des Dialogs und überprüfbarer Verträge.

Xanthe Hall, Abrüstungsreferentin, Internationale Ärzt:innen für die Verhütung des Atomkrieges (IPPNW)


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