Was schuldet der Staat seinen Bürgern?
Seite 3: Schwindende Privatvermögen mindern, steigende vergrößern die Staatsschulden
- Was schuldet der Staat seinen Bürgern?
- Geld ist alternativenlos geworden
- Schwindende Privatvermögen mindern, steigende vergrößern die Staatsschulden
- Steuern dienen nicht der Generierung von staatlichen Einnahmen
- Nationale Ausgleichszahlungen In Krisenzeiten
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Tatsächlich wird das Anwachsen der Staatsschulden gewöhnlicherweise als politische Un-fähigkeit wahrgenommen, die Summe öffentlicher Wohltaten mit den Einnahmen des Staates in Übereinstimmung zu bringen. So einleuchtend aber dem common sense der Grundsatz einer ausgeglichenen Haushaltsführung auch sein mag – spätestens, wenn in ihrem Namen eine Umlage der Staatsschulden auf seine Bürger vorgenommen würde, käme es zum Zusammen-bruch der Volkswirtschaft. Insofern zielt die periodisch erhobene Forderung nach Austerität gewöhnlich auch nur auf eine volkswirtschaftlich erträgliche Minderung des Anstiegs der Gesamtverschuldung. Und tatsächlich gelingt Staaten eine relative Entschuldung (ein Sinken des Verschuldungsgrades gemessen an einer volkswirtschaftlichen Kenngröße) über einen Komplex an Maßnahmen, die im Großen und Ganzen darauf hinauslaufen, dass der Staat für seine Schuldtitel Zinsen unterhalb der Inflationsrate zahlt, und die für gewöhnlich unter dem Titel der "finanziellen Repression" zusammengefasst werden, weil sie eine schleichende Ent-eignung der Sparvermögen bewirken.
Es gibt also einen inneren Zusammenhang zwischen staatlichen Schulden und privaten Ver-mögen. Wenn schwindende Privatvermögen die Staatsschulden mindern, lässt die Zunahme an Staatsschulden sie steigen. Diese Korrelation erzeugt durch den bereits erläuterten Um-stand, dass finanziell souveräne Staaten nicht insolvent werden können, gesicherte Vermö-genswerte.1 Jenseits der Staatsanleihen gibt es kein Vermögen – nicht einmal in so genannten Sachwerten wie Gold oder Immobilien –, das sich in anderem gründete als in einem allgemein geteilten Vertrauen auf seinen aktuellen Marktwert. Dieses Vertrauen aber ist, wie Börsencrashs und bank runs zu Genüge zeigen, als unzuverlässig einzuschätzen. Wie in jedem Schneeballsystem ist es (und damit auch der Wert spekulativen Vermögens) darauf angewiesen, nicht kollektiv eingelöst zu werden.
Insofern ist der Staat (und nur er) seinen Bürgern "Vermögen" im Sinne verlässlicher Hand-lungsoptionen schuldig. Die Schulden des Staates müssen die "Sicherheiten" seiner Bürger garantieren, die sein sonstiges "unsicheres" Vermögen unterfüttern. Vermögen in diesem grundlegenden Sinn stellt also eine reale Option dar – etwas, "auf das ich rechnen kann" im Unterschied zu spekulativem Vermögen, "mit dem ich rechnen kann". In diesem Sinn ist der Formulierung von Yeva Nersisyan und Randall Wray zuzustimmen:
Private debt is debt, but government debt is financial wealth to the private sector.
Gier und Angst
Betrachten wir nun den Unterschied zwischen demjenigen Privatvermögen, das den Schulden des Staates entspringt und aller anderen Vermögensbildung noch in einer anderen Hinsicht: Im Gegensatz zu den "sicheren", weil durch den Staat garantierten Vermögensanlagen wird alles andere, letztlich "spekulative" Vermögen von seinen Besitzern weniger in seinem Kon-sumwert denn als Option auf die Zukunft wahrgenommen. Die konsumierbare Gütermenge pro Kopf ist begrenzt – und dies weniger deshalb, weil, wie sich der Volksmund tröstet, auch der Reiche nur ein Schnitzel am Tag essen kann, sondern weil Schmuck, Kunstgegenstände und Ferienhäuser nicht in diesem Sinne "konsumiert" werden und insofern als wieder veräu-ßerbare Vermögens(reserve-)werte zur Verfügung stehen. Es bleibt die Frage nach dem Motiv, das Vermögende zur fortgesetzten spekulativen Vermehrung ihres Vermögens drängt. Wie ist es möglich, dass ein Blick auf den Kontoauszug den Lebensstandard steigert?
Georg Simmel untersucht in seiner "Philosophie des Geldes" den Geiz als das Phänomen des Konsumverzichts zur Sicherung möglichst vieler Möglichkeiten. Der Geizige kann sich nicht dafür entscheiden, für etwas Konkretes Geld auszugeben, weil er es dann für etwas anderes nicht mehr zur Verfügung hat. Psychoanalytisch gesehen behauptet er so seine anal-erotische "Potenz" (lat. "potentia": Möglichkeit, Macht).
In verwandter Weise konsumiert bzw. genießt der spekulativ Vermögende die Phantasie, umso mehr Wahlmöglichkeiten zu haben,je mehr Vermögen, uneingelöste "Möglichkeit" im modallogischen Sinne des Wortes, er besitzt. Es ist die Macht dieses Begehrens, die erklärt, warum es eine Variante der Geldschöpfung im weitesten Sinne gibt, die noch unheimlicher erscheint als diejenige des Fiatgeldes der Zentral-banken und seines Kredithebels durch die Geschäftsbanken: die so genannte "Vermögens-preisinflation".
Vermögen, etwa in Aktien oder Derivaten, das als hinterlegte Sicherheit für einen Kredit durchaus dessen Grundlage sein kann, bedarf nur eines minimalen Bezuges zur Welt des umlaufenden Geldes. Es reicht ein einziges "reales" Aktiengeschäft, eine Kursfeststellung, um gleichzeitig alle Aktien dieses Wertes um den gleichen Preis steigen zu lassen. Spekulation ist daher kein Nullsummenspiel im Sinne einer Wette, in der Gewinn des einen der Verlust des anderen wäre, sondern ein überdimensionales, legales Schneeballsystem, das ein scheinbar unbegrenztes Vermögenswachstum ("die Hausse nährt die Hausse") und im entgegengesetzten Fall eben auch eine entsprechende Vermögensvernichtung möglich macht.
Der Gefahr des Platzens einer "Blase" (eigentlich nur die massenhafte – und damit scheiternde – Probe aufs Exempel, ob man seine Vermögenswerte zu einem gegebenen Marktpreis tatsächlich zu Geld machen kann) wohnt also jeder spekulativen Hausse inne, sei's in Aktien, Gold, Immobilien oder gar – wie von 1630-37 in Holland – in Tulpenzwiebeln. Getrieben durch den Antagonismus von Gier und Angst sind die Finanzmarkte inhärent instabil. Diese Instabilität wird aber zu einer zunehmende Bedrohungen für das Finanz- und Wirtschaftssystem im Ganzen. Dieser Gefahr muss mit Finanzmarktregulation, Vermögens-besteuerung und auch mit dem Mittel der Geldmengenpolitik begegnet werden.
Merkwürdigerweise aber bezieht die traditionelle Finanztheorie die Akteure an den Finanz-märkten in ihre Überlegungen zur Geldmengensteuerung nicht oder nur indirekt mit ein. Diese widersinnige Nichtbeachtung hat einen methodischen Grund. Die mainstream economy betrachtet spekulatives Vermögen, in seiner Summe nicht genau bekannt, starken Schwankungen seiner Wertschätzung unterworfen und aus diesen Gründen schwer operationalisierbar, nicht als Geld im engeren Sinne.
Wenngleich diese Unterscheidung möglich ist, muss sie doch wirklichkeitsfremd genannt werden. In einer Ökonomie, in der alles, was in Geldeswert ausgedrückt werden kann, an Geldes statt in Zahlung gegeben werden kann, sollte die Unterscheidung von "Geld" und "Vermögen" keine wesentliche Bedeutung mehr beanspruchen können. So hat etwa auch das gegebene Versprechen eines Staates zur vollen Deckung der Spareinlagen seiner Bürger wie jede Bürgschaft einen bestimmten Wert und vermehrt so, ebenso wie andere "geldwerte Vor-teile", letztlich die Geldmenge. Selbst also die berühmte Unterscheidung Kants zwischen den hundert möglichen und den hundert wirklichen Talern (die nicht in ihrer Sachhaltigkeit, son-dern in ihrer Existenz liegt), wird im Zeitalter des alles umgreifenden Fiatgeldes unscharf.
Positivistisches Selbstmissverständnis der neoklassischen Wirtschaftswissenschaft
Für die neoklassische Ökonomie sind das abstruse Vorstellungen. Geld existiert für sie in defi-nitorisch eindeutiger Weise. Geldmengen (M0-M3) werden als operable Größen verstanden. Das wohl bekannteste Beispiel für eine solche Operationalisierung ist die vom Monetarismus behauptete Inflationssteuerung über die Geldmenge M3, in Wahrheit eine bloße Annahme (die Bundesbank spricht von M3 als "Indikator"). Einiges spricht dagegen, dass die Inflation sich ernsthaft um die von der Bundesbank so genannte "weit abgegrenzte Geldmenge" M3 kümmert, die gegenüber allem geldwerten Vermögen lediglich einen kleinen Anteil darstellt. Immerhin aber lässt sich ihre Summe ohne größere Schwierigkeiten in Erfahrung bringen und, wenn auch nur im begrenzten Maße, beeinflussen.
Man fühlt sich als Außenstehender an die Anekdote erinnert, die einen Mann unter einer Laterne nach seinem Schlüssel suchen lässt. "Sind Sie denn sicher, dass Sie ihn hier verloren haben?", fragt ihn ein Vorbeikommender. "Nein", lautet die Antwort. "Aber nur hier kann ich etwas sehen."
Eine solche selbstgewählte Begrenzung der Wirklichkeitswahrnehmung liegt letztlich im posi-tivistischen Selbstmissverständnis der neoklassischen Wirtschaftswissenschaft als einer Naturwissenschaft auf mathematischer Grundlage begründet. Argumentierte noch John May-nard Keynes als Sozialwissenschaftler, für den etwa Fragen der Verteilungsgerechtigkeit einen wesentlichen Bestandteil der ökonomischen Theorie ausmachten, wollte die Neoklassik demgegenüber "wertfrei", dafür aber exakt arbeiten, d.h. mittels Formeln berechnen.
Hierzu bedurfte und bedarf es einiger folgenschwerer Grundannahmen, die bis heute die Ökonomie und insbesondere die Finanzmarkttheorie von der Wirklichkeit abschneiden: etwa, dass der Markt immer einem Gleichgewicht zustrebt (Ökonomie und insbesondere der Finanzmarkt sind tatsächlich eher als eine Aufeinanderfolge von Krisen zu verstehen) oder dass Menschen ökonomisch rational handeln (jede psychoanalytische Studie belehrt darüber, dass Geld und Gier zusammenhängen). Ebenso wenig kann man – so etwa, wie man früher Worte als bloße Abbilder von Gedanken verstand – Geld im Zeitalter seiner Fiat-Existenz noch als bloßen Repräsentant eines unterliegenden Wertes ansehen. Doch unter der Herrschaft dieser im Grunde naiven Vorstellung wird bis heute vom neoklassischen Mainstream zur Geldschöpfung nur zugelassen, was sich definitorisch (etwa im Gegenwert des Wirtschaftswachstums) dafür qualifiziert hat.
Die monetaristischen Geldmengenwachstumsformeln der Notenbanken sind deshalb, aber auch noch aus einem anderen Grund, in ihrer Wirkung auf die Realität begrenzt: Eine Ausweitung der Geldmenge seitens der Notenbanken hat nämlich noch nicht einmal notwen-dig eine Ausweitung der Geldmenge M3 zur Folge. Diese unterliegt nur in einer Teilmenge der Kontrolle der Notenbanken.
Der weitaus größere Teil der Geldschöpfung geschieht durch die prozyklische Ausweitung des Kreditvolumens der Geschäftsbanken. Will man aber Geldmengenpolitik nicht durch Ausblendung dieses und des weiteren Umstands, dass sich Geld im spekulativen Vermögen gewissermaßen von selbst vervielfältigt, von vornherein den Finanzmärkten überlassen, die eine effiziente Geldmengenpolitik ja regulieren soll, müsste der Staat zumindest die Geldmengenschöpfung der Geschäftsbanken einschränken.
Gegenüber der herrschenden banking theory, die private Geldschöpfung zulässt, stellt die currency theory diese im Übrigen historisch keineswegs neue Forderung, die in jüngster Zeit die Gestalt der Forderung nach einer hundertprozentigen Mindestreserve für Geschäftsbanken angenommen hat. Denn dadurch, dass der Staat sein Geldschöpfungs-monopol de facto an die Geschäftsbanken abgegeben hat, begibt er sich nicht nur des Löwen-anteils des Gewinns aus der Geldschöpfung. Er verzichtet auch grundsätzlich auf eine effi-ziente Geldmengenpolitik. Die Zinspolitik von Notenbanken allein kann dieses Manko nicht beheben. Maßnahmen zur Wiederherstellung des staatlichen Geldschöpfungsmonopols wären daher ebenso zu diskutieren wie etwa eine weitergehende Besteuerung von Spekulations-geschäften. Wir dürfen dabei nur nicht vergessen, wozu.