Was sind Ursachen von Depressionen?
- Was sind Ursachen von Depressionen?
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Ein offener Brief an die Stiftung Deutsche Depressionshilfe
Laut einer Pressemitteilung der Stiftung Deutsche Depressionshilfe "erkranken jedes Jahr in Deutschland 5,3 Millionen Menschen an einer behandlungsbedürftigen, unipolaren Depression". Das wären rund 6,5% der Bevölkerung, wobei Frauen mehr als zweimal so häufig betroffen sind. Dazu kommt, dass bei den Frühberentungen psychische Störungen eine immer größere Rolle spielen: Laut Deutscher Rentenversicherung ging es 1983 nur bei 8,6% der Fälle um Depressionen und andere psychische Störungen. 2002 waren es schon 28,5%, 2016 gar 42,9%."
Diese Zahlen mögen genügen, die gesellschaftliche Bedeutung des Themas zu unterstreichen - und damit meine ich nicht primär die vermeintlichen Kosten für das Sozialwesen und die Wirtschaft (Verursachen psychisch Kranke finanziellen Schaden?). Das Leiden für die Betroffenen und ihre Angehörigen kann enorm sein - und auch wenn die Zahl der Selbsttötungen sich seit den frühen 1980ern auf jährlich rund 10.000 beinahe halbiert hat, ist es immer noch tragisch, wenn sich ein Mensch aus Verzweiflung das Leben nimmt.
Über 60% betroffen
Daher ist es zu begrüßen, dass die Stiftung Deutsche Depressionshilfe zusammen mit der Deutsche Bahn Stiftung das Wissen über das Thema erforschen und verbessern will. Am 28. November wurden nun die Ergebnisse der Befragung "Deutschland-Barometer Depression" präsentiert. Es gebe "eklatante Wissenslücken" in der Bevölkerung. Vor allem würden Depressionen zu wenig als Erkrankung im medizinischen Sinne angesehen. Auch über die Ursachen irrten sich viele Menschen. Ein Grund, sich die Ergebnisse und ihre Interpretation genauer anzuschauen.
Zunächst ist auffallend, dass von den knapp über 2.000 repräsentativ Befragten mehr als 60% mit Depressionen zu tun hatten: So gaben 22,9% an, dass bei ihnen schon einmal diese Störung diagnostiziert wurde; bei 36,6% war ein Angehöriger oder Bekannter betroffen; 3,3% behandelten oder berieten Menschen mit Depressionen. So bleibt nur eine Minderheit von 37,1%, die nach eigenen Angaben noch keinen direkten Kontakt mit der Störung hatte.
Biologie angeblich unterschätzt
Die Mehrheit der Befragten hatte also schon persönliche Erfahrungen mit Depressionen. Man sollte daher davon ausgehen, dass sie relativ gut über das Thema informiert waren. Dennoch zieht die Stiftung Deutsche Depressionshilfe ein ernüchterndes Fazit:
Das Deutschland-Barometer Depression zeigt, dass in der deutschen Bevölkerung die Bedeutung von belastenden Lebensereignissen für die Entstehung von depressiven Erkrankungen überschätzt und gleichzeitig die Bedeutung der Veranlagung unterschätzt wird. Nahezu alle Deutschen sehen die Ursachen der Depression in Schicksalsschlägen (96 Prozent) und Belastungen am Arbeitsplatz (94 Prozent). Dass die Depression auch biologische Ursachen hat, ist dagegen weniger bekannt. So kennen nur 63 Prozent die große Relevanz der erblichen Komponente der Depression. Nur zwei Drittel wissen, dass während der Depression der Stoffwechsel im Gehirn gestört ist.
Stiftung Deutsche Depressionshilfe
Diese Botschaft wurde von den Medien aufgegriffen. So berichtete etwa das ZDF am selben Tag:
Lediglich 66,3 Prozent der Bevölkerung und 85 Prozent der Betroffenen sehen eine Stoffwechselstörung im Gehirn als mögliche Ursache für eine Depression. Der Großteil der Befragten sieht belastende Lebensereignisse wie Schicksalsschläge und Probleme mit Mitmenschen oder am Arbeitsplatz als häufigsten Auslöser für eine Depression.
Spiegel Online machte daraus gar "enorme Wissenslücken". Zusammen mit dem (angeblich falschen) Denken über die Ursachen der psychischen Störung wird die Befragung auf einer Infografik zusammengefasst, in der es auch um die Wirkungsweise von Psychopharmaka und die Therapiemöglichkeiten geht:
Meinungen über Ursachen
Diskutieren wir hier nicht die Idee, Schokolade oder Zusammenreißen würde gegen Depressionen helfen. Immerhin hatten auch nur knapp 20% der Befragten diese Überzeugung - bei denjenigen mit persönlicher Erfahrung mit Depressionen übrigens nur 13,8% (Schokolade oder Süßes) beziehungsweise 4,7% (sich zusammenreißen). Kommen wir stattdessen zu einem ernsthafteren Punkt: Was sind die Ursachen der Störung? Und wie gezielt wirken die Medikamente?
Die Stiftung beziehungsweise ihre Vertreter spielen hier zwei Sichtweisen gegeneinander aus: Schicksalsschläge, Belastungen am Arbeitsplatz und Probleme mit Mitmenschen gegenüber Stoffwechselstörung im Gehirn und Vererbung. Bei der Befragung ergab sich folgendes Bild, reduziert auf diese fünf Aspekte von insgesamt elf:
Wir sehen, dass bereits in der Gesamtbevölkerung alle fünf Faktoren zu den relevanten Ursachen von Depressionen zählen: jeweils über 60%, bei den Betroffenen sogar über 70%. Die deutlichsten Unterschiede zwischen beiden Gruppen gibt es tatsächlich für die biologischen Ebene: rund 63% bzw. 66% gegenüber 77% und 85%. Dass die Betroffenen stärker an den genetisch-neuronalen Einfluss glauben, dürfte an deren Kontakte mit Experten liegen, die ihnen entsprechende Erklärungen anboten, oder auch an der Erfahrung, dass es einem nach einer Behandlung mit Antidepressiva besser ging.
Biologische gegen psychosoziale Ursachen
Wie dem auch sei, alle fünf Faktoren gelten als relevant - laut Berichten der Stiftung werden allerdings die psychosozialen Ursachen (Schicksalsschläge, Arbeitsstress, Probleme) überbewertet, die biologischen (Stoffwechsel, Gene) unterbewertet. Schauen wir uns daher die entsprechenden Tatsachenbehauptungen im Detail an.
Das war, erstens, in der Pressemitteilung die Aussage: "Dass die Depression auch biologische Ursachen hat, ist dagegen weniger bekannt… Nur zwei Drittel wissen, dass während der Depression der Stoffwechsel im Gehirn gestört ist." Und, zweitens, auf der Grafik: "Depression hat immer auch biologische Ursachen" sowie "Antidepressiva … wirken gezielt gegen die in der Depression gestörten Funktionsabläufe im Gehirn."
Es geht also entscheidend um biologische Ursachen. Ohne hier ganz grundlegend zu werden und die Frage aufzuwerfen, was eigentlich Ursachen sind und wie man sie misst (den Autoren der Pressemitteilung möchte ich aber doch mit auf den Weg geben, noch einmal über den Unterschied zwischen Korrelation, also gleichzeitigem Auftreten, und Kausalität nachzudenken), möchte ich auf Folgendes hinaus:
Entweder denkt man sich den Geist als ohnehin biologisch bedingt (abhängig vom Nervensystem), dann gibt es sowieso für alle psychischen Vorgänge, also auch psychische Störungen, biologische Ursachen; und dann wäre die Feststellung, dass Psychisches biologische Ursachen hat, schlicht trivial. Oder man lässt diese schwierige, metaphysische Frage außen vor und unterscheidet auf der Ebene der Prozesse, die auf die Psyche einwirken können, etwa psychosozial gegenüber biologisch.
Angebliches Missverhältnis
Dieses Denken scheint dem Standpunkt der Stiftung Deutsche Depressionshilfe zu unterliegen, wenn sie kritisiert, Menschen würden den psychosozialen Beitrag über- und den biologischen unterschätzen. Aufgrund der Befragung können wir das sogar quantifizieren: Rechnet man für die fünf genannten Faktoren die Mittelwerte für psychosozial und biologisch aus, dann ergibt sich folgendes Bild:
Der Forderung der Stiftung ist also, dass die Werte für die Biologie höher und für das Psychosoziale niedriger sein sollten. Dem möchte ich erwidern: Stimmt das denn? Natürlich wird seit Jahrzehnten, ja mehr als einem Jahrhundert nach den Ursachen psychischer Störungen wie Depressionen gesucht. Um die Situation kurz zusammenzufassen sei gesagt, dass man mit dem psychiatrischen Diagnosehandbuch DSM-III von 1980 Aussagen über die Ursachen - in der Fachsprache: Ätiologie - der Störungen entfernt hat.
Abschied von der Ursachenlehre
Damals löste sich die amerikanische Psychiatrie, gefolgt von vielen anderen Teilen der Welt, vom psychodynamischen Ansatz Sigmund Freuds. Dieser galt zunehmend als wissenschaftlich überholt. Warum wurde aber die Ätiologie, die Lehre von den Ursachen, aus der sogenannten Psychiatrie-Bibel entfernt? Weil man einräumen musste, dass man die Ursachen der psychischen Störungen nicht kannte; oder dass das Wissen hypothetisch und umstritten war.
Jetzt ist es aber so, dass auch mehr als 30 Jahre später in der neuesten Auflage des Handbuchs, dem DSM-5 von 2013, Aussagen über die Ursachen immer noch fehlen; und zwar, weil man sie immer noch sucht. Außerdem ist es trotz größter Bemühungen und finanzieller Mittel bisher nicht gelungen, für auch nur eine einzige der mehreren hundert unterschiedenen psychischen Störungen einen verlässlichen Biomarker zu finden, das heißt, ein Merkmal im Körper/Gehirn, mit dem man die Störung diagnostizieren könnte. Was weiß also die Stiftung Deutsche Depressionshilfe, was der internationalen Forschergemeinde bisher entgangen ist?