Was war "Matrix". Und warum?
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Von der Avantgarde zum Mainstream: Ein Blick zurück aus Anlass des Kino-Starts von "Matrix Resurrections"
"Nimmst Du die blaue oder die rote Pille?" Das ist auch hier wieder die Frage: "Willst Du die Welt so sehen, wie andere sie Dir vorgaukeln wollen. Oder wie sie wirklich ist?" Manche Dialog-Passagen aus dem ersten "Matrix"-Film klingen heute wie Ausschnitte aus der letzten Querdenker-Veranstaltung.
Die philosophischen Fragen, die "Matrix Resurrections", dem neuesten Science-Fiction-Fantasy-Abenteuer des "Matrix"-Universums, zugrunde liegen, sind die zwar gleichen wie zum Auftakt 1999, in einem anderen, weit zurückliegenden Jahrtausend. Und wie damals werden die im Grunde sehr tiefen Probleme vor allem mit halbautomatischen Waffen beantwortet, mit atemberaubenden, bezwingend-verführerischen Bildern und mit vielen Zitaten aus der Populärkultur: "Alice im Wunderland" ist wie einst die Hauptreferenz.
Dazu die Geschichte des "Zauberer von Oz", Edgar Allen Poe und Sigmund Freud, Friedrich Nietzsche und Platons "Höhlengleichnis", die Bibel und allerlei mehr. Ja: Wie schon 1999 Telepolis-Leser bemerkten, kann man viele Grundprämissen auch bei Philip K. Dick und Stanislav Lem finden, und irgendwie hat sogar Rainer Werner Fassbinder in "Welt am Draht" die gleiche Geschichte erzählt.
Der Beginn eines Alptraums
Trotzdem: "Matrix" war 1999 "groundbreaking", wie es die Amerikaner nennen. Selten gab es in den letzten Dekaden einen Film, der Kino und Popkultur ähnlich veränderte. Es gab ein "vor Matrix" und ein "danach".
"Folge dem weißen Kaninchen" – dieser Befehl eines mysteriösen Anrufers und das Tattoo des Tierchens auf der Schulter einer Frau waren für Thomas der Beginn eines Alptraums: Agenten verfolgten ihn, sein Leben verflüchtigte sich binnen Stunden, und er wurde hinabgesogen in eine zweite Welt, von der er zuvor nichts ahnte, und aus der es kein Zurück gab. Thomas stürzt in das "rabbit hole", doch wie einst Alice landete er weich in einem Wunderland, in dem einerseits Träume wahr wurden und doch zugleich kein Horror ausgelassen wurde.
Matrix Resurrections (21 Bilder)
Das Wort, das den Filmen den Titel gibt, ist vieldeutig. Nicht nur Stammmutter bedeutet "Matrix", Mutterboden und Eiweißhülle der Chromosomen, sondern auch eine komplexe lineare Anordnung in der Mathematik und eine Matrizenrolle zur Vervielfältigung von Botschaften. So vieldeutig wie dieser Titel ist der ganze Film.
Denn "Matrix" ereignet sich auf mehreren Ebenen. Oberflächlich betrachtet ist es ein Action-Film, der in der Zukunft spielt. Im Mittelpunkt steht Computerhacker Thomas, der in Kontakt mit einer Untergrundgang gerät. Sehr bald erfährt er, was es mit der Welt, in der er zu leben glaubt, tatsächlich auf sich hat: Sie ist bloßer Schein. Die wahren Herrscher der Erde sind verselbstständigte Maschinen.
Die Menschen dienen ihnen nur noch als versklavte "Batterien", die durch eine künstlich erzeugte Welt – die der unsrigen zum Verwechseln ähnlich sieht – bei Laune gehalten werden. Wenige Rebellen kämpfen für die Befreiung der Menschheit. Als sich Thomas der Gruppe anschließt und den Kampf aufnimmt, beginnt für ihn erst der wahre Sturz ins Wunderland. Er muss lernen, reale und scheinbare Welt zu unterscheiden und sich in beiden perfekt zu bewegen. Er muss als freier Mensch, als "Neo" quasi neu geboren werden.
Mehr konnte man von einem Film kaum verlangen
Georg Seeßlen verglich in seinem immer noch sehr lesenswerten und als E-Book erhältlichen Buch "Die Matrix entschlüsselt" diese Erfahrung mit dem Erwachsenwerden eines Teenagers, der erst lernen muss, "was das Leben wirklich ist".
"Matrix" erzählt ganz klassisch die archetypische Geschichte einer Selbstbefreiung und Reise ins Unbekannte aufs Neue, Zeitgemäße. Er erzählt ein Vater-Sohn-, Erzieher-Schüler-Verhältnis in der Beziehung Neos zum Rebellen Morpheus und ein freudianisches Dilemma, in dem es um Traum und Wirklichkeit, Freiheit und Zwang, um Opfer und Wiedergeburt geht.
Die erstaunliche Qualität von Matrix aber liegt nicht primär in der intelligenten, anspielungsreichen und dabei doch immer ironisch-gelassenen Story. Sie besteht aus den atemberaubenden Bildern, in die diese modernen Mythen gefaßt sind.
Beeinflusst von Filmklassikern, etwa alten Film Noir-Thrillern der Vierzigerjahre, ebenso wie von postmodernen Hongkong-Movies, mit Anleihen bei der visuellen Sprache der Comic Strips, aber auch bei Zeichnungen der schwarzen Romantik englischer "Gothic Tales", gelang dem Regie-Brüderpaar Andy und Larry Wachowski ein sensationelles Hollywood-Debüt. Matrix war klug, aufregend, poetisch und innovativ – mehr konnte man von einem Film kaum verlangen.
Die Wahrheit hat die Seiten gewechselt
Nach mehr als zwei Dekaden kehrt das "Matrix"-Universum nun auf die Kinoleinwand zurück. Und wieder ist es ein Film wie ein Drogentrip. Dabei gilt: Alles ist gleich, aber nichts ist dasselbe. Denn die Welt ist eine grundsätzlich andere geworden.
Seit 1999 hat sich das Kino komplett verändert: Superhelden und Fantasy-Welten sind von Randexistenzen für seltsame infantile Nerd-Communitys zum Mainstream der Medienwelt geworden: Erwachsene lesen Märchen und Kinderbücher, während ihre erwachsen gewordenen Kinder entweder gar nicht mehr lesen oder angeekelt vor der Realitätsflucht der Boomer den neuesten Weltklimabericht studieren und auf der Straße bei den Fridays mitmarschieren.
Effekte, die damals sensationell waren, sind selbstverständlich geworden, so wie das Misstrauen gegenüber der Realität der Bilder, digitale Techniken haben uns gelehrt, dass alles, was wir sehen, eine Simulation sein könnte. Das Kino als Ganzes scheint zur Matrix, zum Ort des Irrealen geworden.
Die Wahrheit hat die Seiten gewechselt. Subversiv ist heute der Glaube an die Fakten der sinnlichen Erfahrung.