Was war "Matrix". Und warum?

Bild: © 2021 Warner Bros. Entertainment Inc. and Village Roadshow Films North America Inc.

Von der Avantgarde zum Mainstream: Ein Blick zurück aus Anlass des Kino-Starts von "Matrix Resurrections"

"Nimmst Du die blaue oder die rote Pille?" Das ist auch hier wieder die Frage: "Willst Du die Welt so sehen, wie andere sie Dir vorgaukeln wollen. Oder wie sie wirklich ist?" Manche Dialog-Passagen aus dem ersten "Matrix"-Film klingen heute wie Ausschnitte aus der letzten Querdenker-Veranstaltung.

Die philosophischen Fragen, die "Matrix Resurrections", dem neuesten Science-Fiction-Fantasy-Abenteuer des "Matrix"-Universums, zugrunde liegen, sind die zwar gleichen wie zum Auftakt 1999, in einem anderen, weit zurückliegenden Jahrtausend. Und wie damals werden die im Grunde sehr tiefen Probleme vor allem mit halbautomatischen Waffen beantwortet, mit atemberaubenden, bezwingend-verführerischen Bildern und mit vielen Zitaten aus der Populärkultur: "Alice im Wunderland" ist wie einst die Hauptreferenz.

Dazu die Geschichte des "Zauberer von Oz", Edgar Allen Poe und Sigmund Freud, Friedrich Nietzsche und Platons "Höhlengleichnis", die Bibel und allerlei mehr. Ja: Wie schon 1999 Telepolis-Leser bemerkten, kann man viele Grundprämissen auch bei Philip K. Dick und Stanislav Lem finden, und irgendwie hat sogar Rainer Werner Fassbinder in "Welt am Draht" die gleiche Geschichte erzählt.

Der Beginn eines Alptraums

Trotzdem: "Matrix" war 1999 "groundbreaking", wie es die Amerikaner nennen. Selten gab es in den letzten Dekaden einen Film, der Kino und Popkultur ähnlich veränderte. Es gab ein "vor Matrix" und ein "danach".

"Folge dem weißen Kaninchen" – dieser Befehl eines mysteriösen Anrufers und das Tattoo des Tierchens auf der Schulter einer Frau waren für Thomas der Beginn eines Alptraums: Agenten verfolgten ihn, sein Leben verflüchtigte sich binnen Stunden, und er wurde hinabgesogen in eine zweite Welt, von der er zuvor nichts ahnte, und aus der es kein Zurück gab. Thomas stürzt in das "rabbit hole", doch wie einst Alice landete er weich in einem Wunderland, in dem einerseits Träume wahr wurden und doch zugleich kein Horror ausgelassen wurde.

Matrix Resurrections (21 Bilder)

Bild: © 2021 Warner Bros. Entertainment Inc. and Village Roadshow Films North America Inc.

Das Wort, das den Filmen den Titel gibt, ist vieldeutig. Nicht nur Stammmutter bedeutet "Matrix", Mutterboden und Eiweißhülle der Chromosomen, sondern auch eine komplexe lineare Anordnung in der Mathematik und eine Matrizenrolle zur Vervielfältigung von Botschaften. So vieldeutig wie dieser Titel ist der ganze Film.

Denn "Matrix" ereignet sich auf mehreren Ebenen. Oberflächlich betrachtet ist es ein Action-Film, der in der Zukunft spielt. Im Mittelpunkt steht Computerhacker Thomas, der in Kontakt mit einer Untergrundgang gerät. Sehr bald erfährt er, was es mit der Welt, in der er zu leben glaubt, tatsächlich auf sich hat: Sie ist bloßer Schein. Die wahren Herrscher der Erde sind verselbstständigte Maschinen.

Die Menschen dienen ihnen nur noch als versklavte "Batterien", die durch eine künstlich erzeugte Welt – die der unsrigen zum Verwechseln ähnlich sieht – bei Laune gehalten werden. Wenige Rebellen kämpfen für die Befreiung der Menschheit. Als sich Thomas der Gruppe anschließt und den Kampf aufnimmt, beginnt für ihn erst der wahre Sturz ins Wunderland. Er muss lernen, reale und scheinbare Welt zu unterscheiden und sich in beiden perfekt zu bewegen. Er muss als freier Mensch, als "Neo" quasi neu geboren werden.

Mehr konnte man von einem Film kaum verlangen

Georg Seeßlen verglich in seinem immer noch sehr lesenswerten und als E-Book erhältlichen Buch "Die Matrix entschlüsselt" diese Erfahrung mit dem Erwachsenwerden eines Teenagers, der erst lernen muss, "was das Leben wirklich ist".

"Matrix" erzählt ganz klassisch die archetypische Geschichte einer Selbstbefreiung und Reise ins Unbekannte aufs Neue, Zeitgemäße. Er erzählt ein Vater-Sohn-, Erzieher-Schüler-Verhältnis in der Beziehung Neos zum Rebellen Morpheus und ein freudianisches Dilemma, in dem es um Traum und Wirklichkeit, Freiheit und Zwang, um Opfer und Wiedergeburt geht.

Die erstaunliche Qualität von Matrix aber liegt nicht primär in der intelligenten, anspielungsreichen und dabei doch immer ironisch-gelassenen Story. Sie besteht aus den atemberaubenden Bildern, in die diese modernen Mythen gefaßt sind.

Beeinflusst von Filmklassikern, etwa alten Film Noir-Thrillern der Vierzigerjahre, ebenso wie von postmodernen Hongkong-Movies, mit Anleihen bei der visuellen Sprache der Comic Strips, aber auch bei Zeichnungen der schwarzen Romantik englischer "Gothic Tales", gelang dem Regie-Brüderpaar Andy und Larry Wachowski ein sensationelles Hollywood-Debüt. Matrix war klug, aufregend, poetisch und innovativ – mehr konnte man von einem Film kaum verlangen.

Die Wahrheit hat die Seiten gewechselt

Nach mehr als zwei Dekaden kehrt das "Matrix"-Universum nun auf die Kinoleinwand zurück. Und wieder ist es ein Film wie ein Drogentrip. Dabei gilt: Alles ist gleich, aber nichts ist dasselbe. Denn die Welt ist eine grundsätzlich andere geworden.

Seit 1999 hat sich das Kino komplett verändert: Superhelden und Fantasy-Welten sind von Randexistenzen für seltsame infantile Nerd-Communitys zum Mainstream der Medienwelt geworden: Erwachsene lesen Märchen und Kinderbücher, während ihre erwachsen gewordenen Kinder entweder gar nicht mehr lesen oder angeekelt vor der Realitätsflucht der Boomer den neuesten Weltklimabericht studieren und auf der Straße bei den Fridays mitmarschieren.

Effekte, die damals sensationell waren, sind selbstverständlich geworden, so wie das Misstrauen gegenüber der Realität der Bilder, digitale Techniken haben uns gelehrt, dass alles, was wir sehen, eine Simulation sein könnte. Das Kino als Ganzes scheint zur Matrix, zum Ort des Irrealen geworden.

Die Wahrheit hat die Seiten gewechselt. Subversiv ist heute der Glaube an die Fakten der sinnlichen Erfahrung.

Neo braucht Therapie

Der größte Trumpf dieses vierten "Matrix"-Films ist auch dessen größte Gefahr: Denn "Matrix Resurrections" ist kein einfaches Sequel, keine schlichte Fortsetzung, kein nächstes Kapitel der Geschichte, sondern – auch hierin bleibt man den Vorgängerfilmen treu – eine neue Dimension.

Es beginnt mit einer Szene, die fast komplett der Auftaktszene im allerersten "Matrix" entlehnt ist: Thomas Anderson/"Neo" (Keanu Reeves) wird aus einer anderen Realitätsebene kontaktiert und weiß zunächst nicht, wie ihm geschieht. Bald stellt sich heraus: Ein paar Jahre nach Ende des letzten "Matrix"-Films, "Revolutions", braucht ein gealterter, unter Burnout-Symptomen leidender, äußerlich ungepflegter, wie ein Penner gekleideter, innerlich zerstörter Neo eine Therapie.

Bild: © 2021 Warner Bros. Entertainment Inc. and Village Roadshow Films North America Inc.

Er hat Angststörungen, weil er sich seiner eigenen geistigen Gesundheit nicht mehr sicher ist - und wer die drei Vorgängerfilme kennt, ahnt, warum. Regelmäßige Besuche beim Analytiker sollen ihm nun dabei helfen, sich wieder in der Welt (?) zurechtzufinden. In dieser ist Neo ein Software-Entwickler, der eine erfolgreiche Computerspiel-Trilogie kreiert hat. Und diese Trilogie heißt – genau: "Matrix".

Längst kontrollieren die Konzerne diese Franchise, und bereits in den ersten Minuten dieses Films heißt es: "Unsere geliebten Chefs wollen eine Fortsetzung der Trilogie. Sie werden es mit oder ohne dich tun." – dies ist die erste von vielen Metaebenen, die dieser Film öffnet: Ironisch bis sarkastisch kommentieren die Dialoge auch die "Sequelitis" in Hollywood, und führen damit zugleich eine neue Realitätsebene in das Universum ein: Die virtuelle Welt, die von der Matrix erschaffen wurde, enthält ihre eigene Version einer Matrix. Damit wird auch die "reale Welt" der Vorgängerfilme zu einer möglichen Simulation degradiert.

Einmal mehr muss Thomas/Neo darum "dem weißen Kaninchen folgen" und all seiner persönlichen Probleme zum Trotz die wahre Welt in der scheinbaren finden. Hierbei begegnet er einer neuen jungen Hacker-Generation, wie der smarten Bugs (Jessica Henwick, bekannt aus "Star Wars", ist die große Entdeckung und Bereicherung dieses Films), die umgekehrt auf der Suche nach dem Einen, der von ihr so verehrten Legende Neo ist.

Zugleich begegnet er auch seiner alten Kampfgefährtin Trinity (Carrie-Anne Moss) – oder ist diese doch nur die exaltierte Vorstadt-Ehefrau und Mutter von drei Kindern namens Tiffany, die eine Vorliebe für superstarke Motorräder pflegt?

Die reale Zeit seit den ersten Filmen - und zugleich die vergangenen Handlungsebenen mit ihren Zeit- und Raum-Reisen - führen zu dem so interessanten wie irritierenden Ergebnis, dass hier gealterte Darsteller mit ihrem jungen Alter-Ego in den zahlreichen Rückblicken, sowie mit digitalen Verjüngungen und Neubesetzungen auf der Leinwand zusammentreffen. Letztere liegen nicht in jedem Fall auf der Hand: Der ehemalige "Morpheus"-Darsteller Lawrence Fishburne stand zur Verfügung, wurde aber nicht gefragt, sondern durch Yahya Abdul-Mateen ausgetauscht.

Warum auch nicht? Auch das Geschlecht der Wachowskis hat gewechselt - als ob der erste Film auch auf seiner Herstellungsebene nur eine Matrix gewesen sei. So verschränken sich alle Ebenen.

Die Prämisse aller bisherigen "Matrix"-Filme ist die der Diktatur des Scheins der Realität in der Realität, dem Wahren im Falschen und der Entlarvung des Trugs. Diese Prämisse führt dazu, dass sich wie bei einer russischen "Matroschka"-Puppe in jedem Film die scheinbare Realitätsebene als nur ein subtilerer Betrug erschließt, und die Haupt-Figuren ein immer komplexere Welt- und Selbstreflexion haben.

Willkommen in der Wüste der Theorie!

Aber die Frage ist, inwieweit alle Realität, alle Fakten verfügbar sind? Können wir immer wiederauferstehen und quasi neu geboren werden. Oder sind die konstruktivistische Prämisse nicht am Ende nur eine postmoderne, avancierte Version eines alten Mystizismus und esoterisches Abrakadabra?

Gibt es anstelle "der Wüste des Realen" (Jean Baudrillard) nicht eher eine Wüste der Theorie?

Die Züricher Kulturwissenschaftlerin Elisabeth Bronfen, die fraglos zu den schlauesten Köpfen der Poststrukturalisten gehört, erkannte die Vorläufer der "Matrix" schon sehr früh im Märchen. In der "schicksalhaften Geste des Aufbegehrens" (Bronfen) verbirgt sich nicht nur die Einsicht "in die Notwendigkeit der Kontingenz", der auch die postmoderne Attacke auf die Moderne anheimfällt, sondern alte pubertäre Revolte und neuer Infantilismus.

Vielleicht sind Neo und seine Mitkämpfer ja Rebellen, die aus übermäßiger Chomsky-Lektüre die falschen Schlüsse gezogen haben und zu Vorläufern des bösen Clowns Donald Trump geworden sind, und jetzt an einer neuen Querfront basteln?

Bronfens Beschreibung von Neos Bewusstseinszustand, dem das "Ich ein Fremdkörper" geworden ist, der unter dem "Gefühl der Entortung" leidet und den "Zustand des wahren Wissens" sucht, ist ebenso schlüssig, wie seine Antwort, anstelle der blauen Viagra-Pille vom Gott des Schlafs (Morpheus) die "rote" Durchschlafkapsel einzuwerfen.

Der größte Trumpf dieses vierten "Matrix"-Films ist auch dessen größte Gefahr: Denn "Matrix Resurrections" ist kein einfaches Sequel, keine schlichte Fortsetzung, kein nächstes Kapitel der Geschichte, sondern – auch hierin bleibt man den Vorgängerfilmen treu – eine neue Dimension.

Was bei solchen Existenzweisen und Lebensformen nach zwei Jahrzehnten herauskommt, führt "Matrix Ressurections" nun vor: Burnout, Realitätsverlust, Therapie...

Der alte Zauber fehlt

Visuell ist auch dieser Film wieder "state-of-the-art", ein adäquater Reboot, das Computerspiel-Ästhetik mit Comic-Optik mischt.

Die Handlung teilt sich in einen erstem, recht "philosophischen" und dialog-dominierten Teil und eine zweite Hälfte, die von konventioneller Action geprägt ist. Immer wieder gibt es Ausschnitte aus den alten Filmen, recyceltes, als "Rückblick" etikettiertes Material. Unter diesem Aspekt, der wieder aufgewärmten Metaebene und das Recyceln von Zuschauer-Erfahrungen, die gute 20 Jahre alt sind, gibt es eine erstaunliche Ähnlichkeit zwischen "Matrix Resurrections" und dem letzten "Spider-Man"-Film.

Das ist weit besser gelungen, als bei jenem; es ist kurzweilig und verrät die alten Filme nicht. Zugleich bleibt vieles pure Nostalgie. Der alte Zauber will sich bei alldem nicht recht einstellen; aber vielleicht ist das auch zuviel verlangt. Nur den wenigsten ist es vergönnt, das Kino in ihrem Leben mehr als einmal zu erfinden.

Literaturhinweis:
Georg Seeßlen: "Die Matrix entschlüsselt"; Berlin 2003