Wechsel in der Armeespitze der Ukraine: Der Sturz des Eisernen Generals
Schon maximal getrennt: Selenskyj (li.), Saluschnyj (re.) bei Ehrung Gefallener. Bild: President of Ukraine, CC0 1.0
Walerij Saluschnyj muss Führung der Streitkräfte aufgeben. Ernennung seines Nachfolgers ist nicht nur wegen Sowjet-Hintergrunds umstritten. Warum es in der Truppe rumort.
Es war ein Ende mit Ansage: Seit Wochen, fast Monaten wurde über ein Zerwürfnis zwischen dem ukrainischen Präsidenten, Wolodymyr Selenskyj, und seinem obersten General, Walerij Saluschnyj, berichtet. Am Donnerstag gab Selenskyj nun bekannt, dass General Saluschnyj abgesetzt worden ist.
Zwei Jahre nach Beginn des russischen Angriffs auf die Ukraine ist die Lage für Kiew verfahren: Die Erfolge gegen die russischen Invasionstruppen bleiben im erhofften Ausmaß aus, die Armee kämpft mit ernsten Personalproblemen und aus den USA kommt keine neue Finanzhilfe, von notwendigen Waffensystemen ganz zu schweigen.
Nun also ein bedeutender Wechsel in der ukrainischen Militärführung, wie es ihn seit dem russischen Einmarsch vor fast zwei Jahren kaum gegeben hat. Selenskyj lobte Saluschnyj für seine Leistungen, betonte aber die Notwendigkeit "dringender Veränderungen", um den Krieg zu gewinnen. General Oleksandr Syrskyj, bisher Chef der Bodentruppen, wird Saluschnyjs Posten übernehmen.
Der Wechsel an der militärischen Spitze erfolgt in einer kritischen Phase des Krieges, in der die Ukraine mit verstärkten russischen Angriffen und schwindender internationaler Unterstützung konfrontiert ist.
Es ist unklar, ob General Saluschnyj zurückgetreten ist oder entlassen wurde. Seine Popularität war sowohl im Militär als auch in der Bevölkerung hoch, und seine Entlassung könnte auf interne Spannungen hindeuten.
Die Entscheidung ist in der ukrainischen Bevölkerung sehr umstritten. Wurde Saluschnyj seines Amtes enthoben, weil er zu einer Gefahr für die politische Führung geworden ist? Er selbst dementiert Ambitionen auf ein politisches Amt - und welches könnte das sein, wenn nicht das des Präsidenten? Aber wer würde angesichts der massiven und wachsenden Probleme derzeit ein politisches Spitzenamt in Kiew und damit die Verantwortung für das drohende Scheitern übernehmen?
50 Milliarden Euro: Die EU als Rettungsanker der Ukraine
Die EU hat der Ukraine ein Hilfspaket in Höhe von 50 Milliarden Euro zugesagt, um die Finanzkrise des Landes abzumildern. Diese Unterstützung ist entscheidend, da weitere Finanzhilfen aus den USA derzeit ausbleiben.
Die jüngsten militärischen Strategien und Entscheidungen, wie die mögliche Mobilisierung von bis zu einer halben Million Mann, haben zu Meinungsverschiedenheiten zwischen Selenskyj und Saluschnyj geführt.
Saluschnyj, auch bekannt als der "Eiserne General", wurde für seine entschlossene Führung während des Krieges anerkannt, insbesondere als die ukrainischen Streitkräfte die russischen Truppen vor Kiew zum Rückzug zwangen und Teile des nordöstlichen Territoriums zurückeroberten.
Diesen Erfolgen stehen Niederlagen gegenüber, wie die gescheiterte Gegenoffensive im Süden. Saluschnyj betonte die Notwendigkeit modernerer Waffen und Technologien für die Ukraine.
Oleksandr Syrskyj: Held der Ukraine oder Taktiker?
Oleksandr Syrskyj wiederum wird für bedeutende Erfolge auf dem Schlachtfeld seit der großangelegten russischen Invasion anerkannt, aber auch mit dem größten Fehler in Verbindung gebracht – der verlustreichen Verteidigung von Bachmut.
Syrskyj, 1965 östlich von Moskau geboren, absolvierte die Höhere Militärkommandoschule in der russischen Hauptstadt und diente im Artilleriekorps der Armee. In den 1980er-Jahren zog er in die Ukraine und stieg nach der Unabhängigkeit des Landes in der ukrainischen Armee auf.
Er führte Truppen in der entscheidenden Schlacht von Debalzewe im Jahr 2015. Die Niederlage von Debalzewe führte zu einem Waffenstillstand, der den Separatisten in den östlichen Gebieten des Donbass in die Hände spielte.
Trotz der Niederlage wurde Syrskyj für seine "außerordentlichen Verdienste bei der Verteidigung der Souveränität und Sicherheit des Staates" ausgezeichnet. 2019 wurde er zum Oberbefehlshaber der ukrainischen Bodentruppen ernannt und leitete Operationen im Donbass.
Syrskyj und der Schatten der Sowjetzeit: Zweifel an seiner Taktik
Viele Analysten und ukrainische Militärs sehen in seiner Taktik Einflüsse seiner sowjetischen Militärausbildung und bezweifeln, dass seine Ernennung den von Präsident Selenskyj gewünschten neuen Ansatz bringt.
Zwar werden Syrsky einige der größten militärischen Erfolge der Ukraine seit Beginn der Invasion zugeschrieben, etwa die Abwehr russischer Truppen um Kiew im März 2022 und die Befreiung großer Teile des Nordostens im Herbst desselben Jahres. Selenskyj wurde oft bei Präsidentenbesuchen in den befreiten Städten gesehen, ein Zeichen der engen Zusammenarbeit zwischen den beiden.
Bachmut: Syrskyjs taktische Fehlentscheidungen und Verluste
Während seiner Führung der Bodentruppen in der blutigen zehnmonatigen Schlacht um Bachmut zwischen 2022 und 2023 traf Syrskyj jedoch auch Entscheidungen, die zu hohen Verlusten führten. Soldaten an der Front sagten, er hätte Monate vor der russischen Eroberung der Stadt einen taktischen Rückzug befehlen sollen. An der Front nannte man ihn den "Schlächter".
Die angeblichen Erfolge in Bachmut blieben aus, und auch andere nach der russischen Besetzung zurückeroberte Gebiete gingen wieder verloren.
General Syrskyj: Vom Helden zum 'Schlächter' der ukrainischen Armee
Auch deshalb sorgt die Ernennung Syrskyjs für Unruhe in den Reihen des ukrainischen Militärs. Viele Soldaten äußerten ihre Bestürzung in privaten Chatgruppen und öffentlich in den sozialen Medien, schrieb die Financial Times in einem ausführlichen Porträt.
"Wir sind alle erledigt", schrieb ein Soldat auf X. Dies, so der Mann weiter, spiegele die Stimmung in einer privaten Chatgruppe von Kameraden wider, die alle Phasen der Verteidigung von Bachmut mit Syrsky durchlebt hätten.
Syrskyjs Führungsstil: Bankrott oder taktisches Genie?
"General Syrskyjs Führung ist bankrott, seine Anwesenheit oder seine Befehle sind demoralisierend und untergraben das Vertrauen in die Befehlskette", zitiert die Financial Times einen ukrainischen Reserveoffizier. "Sein unerbittliches Streben nach taktischen Gewinnen führt ständig zum Verlust wertvoller menschlicher Ressourcen", fügte er hinzu.
Präsident Selenskyj hatte kürzlich erstmals von einer Pattsituation gesprochen. Die Veränderungen in der militärischen Führung seien Teil umfassenderer Reformen. "Es geht nicht um Namen und schon gar nicht um Politik. Es geht um unser Armeesystem, um die Führung der Streitkräfte der Ukraine und darum, die Erfahrungen der kampferprobten Kommandeure dieses Krieges zu integrieren", fügte er hinzu.
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