Weiter wie gewohnt?
Was den Städtebau künftig ausmacht
Der englische Philosoph und Humanist Thomas Morus brachte es schon vor einem halben Jahrtausend auf den Punkt: "Tradition ist nicht das Halten der Asche, sondern das Weitergeben der Flamme", belehrte er seine Zeitgenossen.
Recht dynamisch scheinen sich Traditionen wie auch ihre Rezeption zu verhalten. Das gilt im Bereich von Architektur und Städtebau nicht minder als etwa in Bezug auf Literatur oder Philosophie. Alles grundstürzend neu machen zu wollen: das stellt heute wohl kaum (mehr) das Paradigma des Planen und Bauens dar. Das haben ja nicht nur die Neuinterpretation des Toni-Areals in Zürich-West oder das sog. Weltquartier, welches die IBA Hamburg-Wilhelmsburg in und aus einem Konglomerat von Nachkriegsbauten entwickelte (und das 2014 mit dem deutschen Städtebaupreis ausgezeichnet wurde) bewiesen.
Freilich zeigt ein Blick auf die Entwicklung architektonischer und städtebaulicher Grundgedanken im letzten Jahrhundert, dass wir es mit einer ständigen Veränderung von Schwerpunkten und Wertmaßstäben zu tun haben. Ein großer Teil der Wandlungen stammt dabei aus der Unlust am vorher Gängigen. Meinungsbildung vollzieht sich offenbar in Pendelschwüngen. Neue Gedanken, im Ansatz durchaus fruchtbar, werden modisch aufgemacht und theoretisch angefüttert, mit überhöhten Erwartungen befrachtet - und schnell verworfen, wenn sich diese Annahmen nicht erfüllen oder wenn man der entsprechenden Images überdrüssig wird. Und es besteht kein Anlass zu der Vermutung, dass solche Wechselmoden sich nicht fortsetzen.
Im Sinne der Dialektik wäre es angebracht, das Sowohl-als-auch zu denken und zu akzeptieren; vor allem im beharrlichen Metier von Architektur und Stadt: Denn man kann Gegner mancher Rekonstruktionen sein - aber andere durchaus für angemessen halten. Man kann begeisterter Anhänger dezidiert moderner Baukunst sein - und währenddessen für ein historisches Relikt mit Herzblut kämpfen. Man kann im Altbau leben - und zugleich von den schlanken Profilen der fünfziger Jahre hingerissen oder Freund des "beton brut" sein.
Gratwandern zwischen Individuum und Gesellschaft
Man muss festhalten: Gesellschaftliche Bausteine wie Lebensqualität, Wohnlichkeit oder Kultur, kann Architektur allenfalls stimulieren, nicht erzeugen oder gar steuern. Naheliegend ist immerhin, besonderen Wert zu legen auf die atmosphärische Qualität einzelner differenzierter Räume, deren nicht funktional begründete Unterschiedlichkeit anders als im funktionalen Grundriss vielfältige Bespielungen und Kodierungen durch den jeweiligen Benutzer ermöglicht.
Kaum je lassen sich die Aufgaben der Planung so malerisch lösen, wie viele Wettbewerbsergebnisse es suggerieren. Stadt- und Raumentwicklung sind augenscheinlich einer Summe an Partikularinteressen ausgesetzt, auf die zu reagieren unser Steuerungsmechanismus nicht recht vorbereitet ist. De facto steht dem komplexen Wirkungsgefüge der räumlichen Tatsachen noch heute eine Planungspraxis gegenüber, die von der Autonomie städtebaulicher und politischer Entscheide ausgeht und somit der räumlichen Wirklichkeit nur nachhinken kann. Was uns freilich nicht daran zu hindern scheint, den Urbanismus als Gegenstand laufender Optimierung zu sehen, als Akkumulation stetiger Verbesserungen. Doch wie weit ist es damit her?
Um nur ein Kernproblem, die Trennung des Erschließungsnetzes von der Bebauung, anzusprechen: Offenbar hat der "fließende Raum" die Verkehrsplaner aus der Pflicht entlassen, städtebaulich mitzudenken. Als eigenständige Disziplin planen und bauen sie die Verkehrsadern allein nach fahrdynamischen Regeln. Schon deshalb ist eine Re-Integration der Mobilitäts- in die Stadtplanung bitter notwendig.
Worum es heute im Wesentlichen geht, ist das sinnfällige Ergänzen und gescheite Verdichten des bestehenden Siedlungsraums. Städtebau darf sich nicht auf ästhetisch motivierte Zukunftsbilder beschränken, sondern muss in weiten Bereichen ein flexibles Offenhalten und Spielräume für zukünftige Entwicklungen beinhalten. Denn urbanistische Projekte werden im Allgemeinen nicht von einem auf den anderen Tag realisiert. Es handelt sich um längere, oft nicht einmal endgültig überschaubare Zeiträume. Die Planung wird im Normalfall auch nicht von einem einzelnen Bauherrn realisiert. Schon allein deshalb muss die Lösung eine prinzipiell andere sein als die des auf einen spezifischen Erbauer maßgeschneidert zugeschnittenen architektonischen Projektes, welches üblicherweise auf eine sofortige und vollständige Realisierung ausgerichtet ist.
Der Städtebau muss offen bleiben für zukünftige Veränderungen, er muss auch künftigen Architekten, Bauherren und Bewohnern noch Spielräume und Chancen bieten - gleichzeitig aber ein solides Gerüst für das Ganze gewährleisten. Er sollte durchaus unterschiedliche Bauformen ermöglichen und ertragen - und dabei auch schwächere Architekturen verkraften können. Ein Städtebau mit stabilen, einprägsamen Strukturen und Raumgeflechten darf sich nicht durch schlechte Einzellösungen, die es (leider) immer wieder geben wird, aus dem Gleichgewicht bringen lassen.
Wie viel Dichte ist genug?
"Dichte" ist im Fachdiskurs ein Begriff von zentraler Bedeutung. Allerdings: Über viele Jahrzehnte hinweg war der Terminus von einer Negativsicht geprägt. Beispielsweise wurden in Deutschland im Baugesetzbuch und der Baunutzungsverordnung keineswegs Mindestdichten zum Erreichen von gesellschaftlichem Fortschritt etabliert, sondern Höchstwerte, die der Allgemeinheit gesundheitliches Wohl (Licht! Luft! Sonne!) garantieren und dem baulichen Wildwuchs etwa des sprichwörtlichen Manchester-Kapitalismus vorbauen sollten.
Zudem hatten radikale Eingriffe in Altbausubstanzen in Citynähe wie etwa im Münchner Lehel und im Frankfurter Westend ab 1970 den Begriff "Dichte" für lange Zeit diskreditiert. Sowohl hoch verdichtete, an der Bodenrendite ausgerichtete Nutzungskonzepte zu entwickeln, als auch attraktive Wohn- und Lebenswelten zu schaffen: Ein solcher Anspruch an die (öffentliche) Planung birgt augenscheinlich ein Dilemma.
Bereits vor zwanzig Jahren verkündete der renommierte Planer Tom Sieverts, dass er es eigentlich aufgegeben habe, "mit einfachen und einsichtigen Argumenten zu einem angemessenen Umgang mit diesem Begriff beizutragen" - um anschließend festzustellen: "Offensichtlich will sich niemand in seiner jeweils ideologisch einseitigen und damit bequemen Position zum Thema 'Dichte' mit rationalen Argumenten in Frage stellen lassen."
Betrachtet man die Debatte aus der Nähe, dann betreffen die Streitpunkte insbesondere (1) die ökonomischen Implikationen (Kosten für Bau und Grundstück sowie für die Bereitstellung von Infrastruktur und zentralörtlichen Einrichtungen), (2) ökologische Auswirkungen (Flächen und Ressourcen sparende Siedlungsentwicklung) sowie (3) soziale Grenzen ("urbane Lebensstile" oder "familiengerechtes Wohnen im Grünen", Wohnumfeldqualität und Freiraumversorgung).
Unübersehbar stand dabei in den vergangenen Jahren die ökonomische Dimension im Vordergrund. Viele Untersuchungen attestieren economies of density, also sinkende Pro-Kopf-Kosten bei steigender Siedlungsdichte. Doch diesem Konzept steht die These eines U-förmigen Kostenverlaufs entgegen, demzufolge die Kosten mit zunehmender Siedlungsdichte und -größe zwar zunächst sinken, nach Erreichen eines Schwellenwertes indes wieder ansteigen - wegen der Bereitstellung zentralörtlicher Einrichtungen, den Ausgaben für öffentliche Sicherheit und des Anstiegs an Bürokratieaufwand. Die letztgenannten Aspekte führen gleichsam zu einer diseconomy of scale, derzufolge steigen die kommunalen Durchschnittsausgaben von einer Größenklasse zur nächst höheren an. Deshalb gibt es stets bestimmte Grenzen der Verdichtung.
Doch ungeachtet - oder gerade trotz - aller Unsicherheiten rangiert die Frage nach der Dichte heute wieder weit oben auf der urbanistischen Agenda. Mit Blick auf die Nachhaltigkeit scheint es Konsens in der Fachgemeinde, dass man den Prozess der Suburbanisierung aufhalten bzw. adäquate Gegenmodelle entwickeln müsse. Bauliche Strukturen so zu komprimieren, dass sie ein weiteres Ausufern der Städte in die Peripherie verhindern, dass sie zudem gestalterisch anspruchsvoll und gesellschaftlich akzeptiert sind: Dies wäre eine zeitgenössische Forderung an Wohnungs- wie Städtebau, die weniger banal ist, als sie zunächst klingt. Denn die Ausschöpfung und Erweiterung von Nutzungspotenzialen im bereits bebauten Bereich ist meist langatmig, kleinteilig und wenig spektakulär.
Eine gewisse Dichte kann durchaus Stimulans für urbane Qualitäten sein. Allerdings bedingt sie nicht automatisch stadträumliche Qualität. Vielmehr ist hierbei große Sensibilität gefragt, offenbart sich doch (zu) hohe Dichte aufgrund der Planungsgeschichte als nachgerade stigmatisiert, weil sie oftmals mit schlechten Wohn- und Arbeitsverhältnissen gleichgesetzt wird. Viele Beispiele zeigen freilich, dass auch Quartiere mit gutem Image eine hohe städtebauliche Dichte aufweisen können. Dennoch bleibt festzuhalten: Städtebauliche Dichte ohne adäquate Gestaltung ist kontraproduktiv. Oder anders herum: Erst unter einer dezidiert qualitativen Perspektive kann das planerische Bestreben zur Verdichtung produktiv werden.
Das Dazwischen gestalten
Der zentrale Anspruch liegt darin, den "Zwischenraum" zu gestalten: als ein tragfähiges "Gerüst", das Verknüpfungen und Vernetzungen herstellen kann. In den meisten Fällen wird die Stadt heute nicht mehr als Ganzheit geplant, sondern in Teilbereichen, die jeder für sich "optimiert" werden und in ihrem mangelnden Zusammenspiel vielfach zu isolierten Fragmenten mit inselartigem Charakter zu verkommen drohen, seien diese Gewerbeparks, Einkaufszentren, Wohnsiedlungen, Flughäfen, Museumsquartiere oder anderes mehr.
Die Defizite des vielfach kritisierten Städebaus der Moderne bestehen wohl weniger in der Qualität der Einzelarchitekturen - die als Solitäre funktional wie auch formal in den meisten Fällen durchaus gelöst wurden - als vielmehr in der Vernachlässigung des Zwischenraums und der Beziehungen zwischen diesen Solitären.
Der Außenraum der Gebäude ist der Innenraum des Stadtkörpers: eine Tatsache, die - in der historischen Stadt noch selbstverständlich - heute oftmals in Vergessenheit geraten zu sein scheint, was zu indifferenten, anonymen und unbrauchbaren Zwischenräumen, degradiert zu bloßen Distanzflächen, geführt hat. Dabei zählt die Definition und Gestaltung der res publica zu den herausragenden Aufgaben der Planung. Eine Stadt oder ein Stadtquartier manifestieren sich vorrangig in ihren öffentlichen Räumen.
Städte, die wir als qualitätsvoll und eindrücklich erinnern, sind zumeist Städte mit klar ausgeprägten öffentlichen Bereichen (und meist entsprechend geprägten Raumstrukturen). Die Gestaltung von tragfähigen "Gerüsten" muss dabei keineswegs zu einer zwangsläufigen strukturellen Vereinheitlichung und Homogenisierung führen. Widersprüche, die heute die Stadt oder andere Siedlungsräume bestimmen, sollten nicht übertüncht werden; Brüche und Spannungen können durchaus gestalterisch ihren Ausdruck finden.
Exemplarisch sei abschließend auf das Areal der ehemaligen Betonfabrik Hunziker in Zürich-Leutschenbach hingewiesen. Was die Baugenossenschaft "mehr als wohnen" hier als gemischtes Wohnquartier realisiert, hat durchaus Modellcharakter: Es illustriert kongenial, dass es besonders im Wohnungsbau neben der Bereitstellung von ressourcenschonender, energieeffizienter, dauerhafter und wirtschaftlich optimierter Architektur auch stets um Themen wie soziale Durchmischung geht, um die Möglichkeiten von Kommunikation und Integration, um Partizipation.
Dass die Projektentwicklung step by step erfolgte, dass Nachhaltigkeit hier nicht heißt, sich sklavisch den fixen Regularien eines Gütesiegels oder Labels unterzuordnen, sondern es als Zweck und Ansporn zu nehmen, um dann genuin eigene Wege dorthin zu finden, sinnvolle Abweichungen (etwa bei der obligatorischen Lüftung) und Kompromisse auf Gebäudeebene zu erlauben, um dann - im größeren Maßstab des Quartiers - das Ziel zu erreichen. Hier werden nicht Hüllen für einzelne pseudo-urbane Wohnstil-Präferenzen betoniert; vielmehr kann Architektur wirksam werden als neues Bindemittel im gesellschaftlichen Gefüge. Und ist nicht eben das ihre vornehmste Aufgabe - mit der sie auch ihre Zukunftsfähigkeit sicherstellt?
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