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Weitet sich der Ukraine-Krieg jetzt auf Belarus aus?

Militärische Lage im Osten der Ukraine. Bild: Telepolis

Russische und belarussische Truppen an Grenze zur Ukraine. Offenbar auch russische Drohnenangriffe aus dem Nachbarland. Wie verlässlich sind Experten und Geheimdienste?

In der Ukraine ist es am Dienstag am zweiten Tag in Folge zu heftigen Raketenangriffen der russischen Armee gekommen. Dabei wurde offenbar gezielt Infrastruktur des Landes ins Visier genommen. In den Medien hält indes die Debatte über die Schlagkraft und das Durchhaltevermögen der Kriegsparteien an, die Meinungen der wortführenden Akteure geht dabei weit auseinander. Vor allem der britische Auslandsgeheimdienst meldet sich seit Wochen mit Einschätzungen zu Wort, nach denen die russische Armee kurz vor dem Ende steht.

Aus dem Verteidigungsministerium in Moskau hieß es hingegen auch am Dienstag lapidar: "Der Zweck des Angriffes wurde erreicht. Alle ausgewiesenen Einrichtungen wurden getroffen."

Die Regierung der Ukraine wirft Russland indes vor, sich mit den offenbar gezielten Attacken auf Energieanlagen eines Kriegsverbrechens schuldig zu machen. Russland beabsichtige, die Lage der Zivilbevölkerung absichtlich zu verschlechtern, so Außenminister Dmytro Kuleba auf Twitter [1].

Hauptziele russischer Angriffe sind Energieanlagen. Sie haben gestern zahlreiche dieser Anlagen getroffen, und sie treffen heute dieselben und neue. Dies sind Kriegsverbrechen, die lange im Voraus geplant wurden und darauf abzielen, unerträgliche Bedingungen für die Zivilbevölkerung zu schaffen – Russlands bewusste Strategie seit Monaten.

Dmytro Kuleba

Seit Beginn der Angriffswelle am Montag sind tatsächlich einige Landesteile ohne Stromversorgung, im westukrainischen Lwiw war ein Drittel des Stadtgebiets ohne Elektrizität.

In Russland haben Regierung und Militärführung dennoch wiederholt bestritten, dass sich die eigenen Streitkräfte Kriegsverbrechen schuldig gemacht haben. Dazu laufen inzwischen internationale Ermittlungen, die vor allem von westlichen Staaten vorangetrieben werden.

Nachdem US-Präsident Joseph Biden der Ukraine am Montag in Reaktion auf die neuen Attacken Russlands moderne Flugabwehrsysteme zugesagt hat, warf der russische Außenminister Sergej Lawrow den USA vor, schon seit Längerem de facto in den Krieg in der Ukraine involviert zu sein.

Dennoch zeigte sich die russische Regierung bereit für ein Treffen zwischen Putin und Biden. Russland würde eine direkte Unterredung am Rande des kommenden G-20-Gipfels wohl nicht ablehnen. Sollten die USA ein solchen Treffen vorschlagen, werde man dies prüfen, so Lawrow im russischen Fernsehen. Beide Seiten hatten sich wiederholt vorgeworfen, Gespräche zu boykottieren.

Steigt Belarus an der Seite von Russland in den Krieg ein?

Zu der Eskalation trägt auch bei, dass Belarus sich offenbar stärker in das Kriegsgeschehen einmischt. Nach übereinstimmenden Medienberichten wurden russische und belarussische Truppen gemeinsam an der Grenze zur Ukraine zusammengezogen. Aus Minsk hieß es dazu, dies geschehe aus Gründen der Landesverteidigung.

Das Washingtoner Institute for the Study of War berichtet unter Berufung auf den ukrainischen Generalstab, dass russische Streitkräfte über 84 Marschflugkörper abgefeuert und 24 Drohnenangriffe durchgeführt habe [2], 13 davon mit iranischen Shahed-136-Drohnen.

Die ukrainische Luftverteidigung schoss 43 Marschflugkörper, zehn Shahed-136 Drohnen und drei nicht spezifizierte Drohnen ab. Russische Streitkräfte starteten Raketen von zehn strategischen Bombern aus dem Kaspischen Meer und von Nischni Nowgorod, von ballistischen Kurzstreckenraketensystemen Iskander und von sechs Raketenträgern im Schwarzen Meer. Russische Streitkräfte starteten die Shahed-136-Drohnen von der Krim und Weißrussland aus.

Institute for the Study of War [3]

Diese Nachrichten weisen darauf hin, dass der Konflikt sich in Osteuropa weiter ausdehnen könnte. Der belarussische Machthaber Alexander Lukaschenko, der sein Land seit 1994 regiert und zuletzt nicht mehr frei gewählt wurde, hatte Kiew am Montag vorgeworfen, die ukrainische Armee plane einen Angriff auf sein Land.

Frankreichs Außenministerin Catherine Colonna warnte Belarus daraufhin, zugunsten Russlands in den Krieg einzugreifen: "Jede zusätzliche Unterstützung des Krieges, den Russland gegen die Ukraine führt, wird weitere Sanktionen nach sich ziehen", so Colonna am Dienstag im Gespräch mit dem Sender France Inter [4]. Man werde darüber auch bei dem kommenden G7-Gipfel sprechen.

Wie verlässlich sind Experteneinschätzungen?

Westliche Akteure gehen derweil weiter von einem bevorstehenden Scheitern Putins in der Ukraine aus. So meldete sich zum wiederholten Mal der britische Geheimdienst zu Wort. Seiner Einschätzung zufolge geht Russland im Ukraine-Krieg die Munition aus. "Wir wissen das, und auch russischen Kommandeuren im Krieg ist klar, dass ihnen die Ausrüstung und Munition ausgeht", zitierte die BBC den Direktor des britischen Geheimdienstes GCHQ, Jeremy Fleming [5].

Unterstützt werden solche Einschätzungen von russischen Oppositionsmedien. Das dortige Portal The Insider zitierte am Montag den Militärexperte Pavel Luzin [6], dem zufolge Russland "nach dem Beschuss des Territoriums der Ukraine am 10. Oktober keine Vorräte an Marschflugkörpern für solche massiven Angriffe" mehr hat. Unklar bleibt bei solchen Analysen, wie weit sie von Fachexpertise geprägt oder politisch motiviert sind. Heute, einen Tag später, kam es schließlich zu weiteren Angriffen.

Der ehemalige US-Generalstabschef und Admiral a.D. Mike Mullen forderte am Sonntag [7] indes, dass die US-Regierung auf ein Ende des Krieges in der Ukraine hinarbeitet. Dies sei vor allem angesichts der eskalierenden Gewalt und von zunehmenden Drohungen des Einsatzes von Atomwaffen notwendig. Mullen war von 2007 bis 2011 Vorsitzender des Joint Chiefs of Staff der USA.

Mullen zeigte sich im Interview mit dem Nachrichtensender ABC davon überzeugt, dass Putin mit dem Rücken zur Wand steht. Das spreche für die Notwendigkeit, Verhandlungen über ein Ende des Konfliktes aufzunehmen.

US-Außenminister Antony Blinken und andere Top-Diplomaten seien nun gefordert, einen Weg zu finden, Putin und den ukrainischen Präsidenten Selenskyj an einen Tisch zu bringen. "Jeder Krieg endet einmal und üblicherweise sind damit Verhandlungen verbunden", sagte Mullen: "Je früher, desto besser, denke ich."


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https://www.heise.de/-7305345

Links in diesem Artikel:
[1] https://twitter.com/DmytroKuleba/status/1579778092952080384?ref_src=twsrc%5Egoogle%7Ctwcamp%5Eserp%7Ctwgr%5Etweet%7Ctwtr%5Etrue
[2] https://www.facebook.com/GeneralStaff.ua/posts/pfbid034WNoYsPX22Fd413PLchpSQFwRKVbkdFyn1arb1mgDE77bT6PRTLWSXNN64fXu41Ml
[3] https://www.understandingwar.org/backgrounder/russian-offensive-campaign-assessment-october-10
[4] https://www.radiofrance.fr/franceinter/podcasts/l-invite-de-7h50/l-invite-de-7h50-du-mardi-11-octobre-2022-2506811
[5] https://www.bbc.com/news/uk-63207771?xtor=AL-72-%5Bpartner%5D-%5Bbbc.news.twitter%5D-%5Bheadline%5D-%5Bnews%5D-%5Bbizdev%5D-%5Bisapi%5D&at_custom1=%5Bpost+type%5D&at_medium=custom7&at_custom3=%40BBCWorld&at_campaign=64&at_custom4=3B097BD2-48E0-11ED-830A-50D74744363C&at_custom2=twitter
[6] https://theins.ru/news/255882
[7] https://responsiblestatecraft.org/2022/10/10/former-joint-chiefs-chair-calls-for-talks-to-end-ukraine-war/