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Weltfrauentag: Geschlechtsspezifische FluchtgrĂŒnde anerkennen

Elisabeth Voß

Eine Frau und ihre Kinder sind an der ukrainisch-slowakischen Grenze. Bild: Ukrinform, depositphotos

Zum heutigen 8. MĂ€rz fordert das europĂ€ische BĂŒndnis "Feminist Asylum" eine Umkehr in der Migrationspolitik

Seit dem Februar 2018 ist die "Istanbul-Konvention" (IK) in Deutschland als Gesetz "zur VerhĂŒtung und BekĂ€mpfung von Gewalt gegen Frauen und hĂ€uslicher Gewalt" in Kraft. Die Umsetzung des Gesetzes soll ohne Diskriminierung erfolgen 



 insbesondere wegen des biologischen oder sozialen Geschlechts, der Rasse, der Hautfarbe, der Sprache, der Religion, der politischen oder sonstigen Anschauung, der nationalen oder sozialen Herkunft, der Zugehörigkeit zu einer nationalen Minderheit, des Vermögens, der Geburt, der sexuellen Ausrichtung, der GeschlechtsidentitĂ€t, des Alters, des Gesundheitszustands, einer Behinderung, des Familienstands, des Migranten- oder FlĂŒchtlingsstatus oder des sonstigen Status

Art. 4, Abs. 3 IK [1]

Aber bislang steht das Gesetz nur auf dem Papier. Darum fordert das EuropĂ€ische BĂŒndnis "Feminist Asylum" zum Internationalen Frauentag am heutigen 8. MĂ€rz die konsequente Anerkennung besonderer FluchtgrĂŒnde von Frauen und LGBTIQA+ Personen (LGBTIQA+ bedeutet: lesbisch, schwul, bisexuell, transgender, intersexuell, queer, asexuell, und weitere). Das BĂŒndnis hat eine Feministische Petition gestartet, die hier unterzeichnet werden kann [2].

Eine EuropÀische Feministische Petition

Die Petition richtet sich an die Organe der EU und die nationalen Regierungen des Schengen-Raums. Ihre Forderungen sind:

  1. Das Recht auf internationalen Schutz durch die konsequente Anerkennung spezifischer AsylgrĂŒnde fĂŒr Frauen, MĂ€dchen und LGBTIQA+ Personen zu gewĂ€hrleisten.
  2. Die Einrichtung einer europĂ€ischen Überwachungsstelle zur konsequenten Umsetzung des Rechts auf internationalen Schutz fĂŒr Opfer geschlechtsspezifischer Gewalt gegen Frauen und fĂŒr geschlechtsspezifische Aufnahme- und Asylverfahren und UnterstĂŒtzungshilfen (Art. 60 und 61 Istanbul-Konvention) sowie zur Einhaltung des Abkommens zur BekĂ€mpfung von Menschenhandel, insbesondere dessen Artikel 10 bis 16 [3].
  3. Den Zugang zu Asyl in EU-MitgliedslĂ€ndern fĂŒr Frauen, MĂ€dchen und LGBTIQA+ Personen zu gewĂ€hrleisten.

Marianne Ebel von Feminist Asylum ist stolz auf die bisherige Reichweite der Petition:

Europaweit sind wir bereits 250 Organisationen, die sich fĂŒr den konsequenten Schutz von Betroffener von patriarchaler Gewalt auf der Flucht einsetzen, darunter 29 Organisationen aus Deutschland.

Auch Persönlichkeiten aus Kultur, Sport und Politik hÀtten sich der Petition angeschlossen, so zum Beispiel Sofia Bekatorou, die zweifache Olympiasiegerin und Initiatorin der #MeToo-Bewegung in Griechenland, Silvia Federici, Eric Toussaint, Jean Ziegler und andere [4].

"Jetzt appellieren wir an die Organe der EU und an die nationalen Regierungen" so Marianne Ebel: "Bereiten sie institutionalisierter patriarchaler Gewalt im europĂ€ischen Asylsystem ein Ende. SchĂŒtzen sie Betroffene von patriarchaler Gewalt auf der Flucht konsequent!"

Wie alles begann

Ebel hat die Feministischen Petition mitinitiiert und berichtet, wie es begann: "Im September 2019 organisierte Marche Mondiale des Femmes (MMF) in Genf [5] ein dreitĂ€giges europĂ€isches Treffen ‚Frauen – Migration – Zuflucht‘, um die besonderen BedĂŒrfnisse von Migrantinnen zu definieren und mit dem Aufbau eines europĂ€ischen Netzwerks zu beginnen."

Bei dem Treffen entstand die Idee einer feministischen Grenzbesetzung [6].

Sie sollte gleichzeitig in SĂŒdfrankreich in Ventimiglia-Menton und in Zentralamerika in Honduras, El Salvador, stattfinden, am 17. Oktober 2020 anlĂ€sslich des Abschlusses der fĂŒnften transnationalen Aktion der MMF.

Dann kam die Pandemie. "Wir suchten nach Alternativen" sagt Ebel, "behielten aber den Willen bei, so bald wie möglich symbolisch die Grenzen zu besetzen. Wir grĂŒndeten ‚Toutes Aux FrontiĂšres‘ mit Pilar Senek, die aus der TĂŒrkei geflohen war, und dank ‚Zoom‘ und unserer gemeinsamen Entschlossenheit gelang es uns, am 5. Juni 2021 eine beeindruckende Demonstration in Nizza [7] zu organisieren."

In Nizza marschierten, sangen und tanzten 8.000 Frauen fĂŒnf Stunden lang durch die Straßen der Stadt. Ebel: "In Nizza werden alle Entscheidungen ĂŒber die Grenze Menton-Ventimiglia getroffen. Ich hatte das GlĂŒck dabei zu sein, mit anderen Delegierten aus mehreren europĂ€ischen LĂ€ndern, es war unglaublich, mitten in der Pandemie! AnlĂ€sslich dieser Demonstration haben wir die Idee der EuropĂ€ischen Feministischen Petition veröffentlicht."

Und sie betont: "Diese Petition fĂŒr die effektive Anerkennung der besonderen AsylgrĂŒnde von Frauen, MĂ€dchen und LGBTIQA+ Personen kommt ‚von unten‘, von Frauen, die fĂŒr ihr Recht auf Asyl kĂ€mpfen und von Frauen wie mir, die sich mit den PrekĂ€rsten und Bedrohtesten unter uns solidarisieren."

Die Istanbul Konvention: bislang nur leere Worte

Ebel fĂŒhrt weiter aus: "Wir wissen es alle, die Istanbul-Konvention wurde von der Mehrzahl der europĂ€ischen LĂ€nder und von den Regierungen des Schengen-Raums ratifiziert. Frauen, die Gewalt erlitten haben, haben einen Rechtsanspruch auf internationalen Schutz. Doch bislang ist dieses Recht nur eine Sammlung toter Buchstaben. Das ist unannehmbar. Unsere Petition soll helfen, diesen Zustand zu Ă€ndern."

Die Istanbul Konvention wurde als Übereinkunft des Europarats am 11. Mai 2011 unterzeichnet. Zur ÜberprĂŒfung ihrer Umsetzung wurde eine "Group of Experts on Action against Violence against Women and Domestic Violence (Grevio [8]) eingesetzt. Nachdem die Konvention in Deutschland im Februar 2018 Gesetzeskraft erlangt hatte, berichtete die Bundesregierung im September 2020 an Grevio ĂŒber die Situation in Deutschland [9].

ErgĂ€nzend verfassten die Hilfsorganisation Pro Asyl, einige FlĂŒchtlingsrĂ€te und die UniversitĂ€t Göttingen im Juli 2021 einen Bericht "zur Umsetzung der Istanbul-Konvention in Bezug auf geflĂŒchtete Frauen und MĂ€dchen in Deutschland [10].

Sie stellten fest: "Es wird sichtbar, dass das Asyl- und Aufenthaltsrecht an vielen Stellen in einem eklatanten Widerspruch zum Gewaltschutz steht. Es besteht umfangreicher Handlungsbedarf."

Die geschlechtsspezifische Gewalt, die GeflĂŒchtete in ihren HerkunftslĂ€ndern erfahren, geht nicht nur auf der Flucht weiter, sondern auch in Deutschland. Frauen, MĂ€dchen und LGBTIQA+-Personen sind bei der Unterbringung in SammelunterkĂŒnften von Gewalt bedroht, im Asylverfahren werden ihre FluchtgrĂŒnde oft nicht mit ausreichender SensibilitĂ€t erfragt, sie bekommen keine bedarfsgerechte medizinische Versorgung und keine angemessene Beratung und UnterstĂŒtzung.

"Sie wollen angstfrei, selbstbestimmt, informiert, geschĂŒtzt sein"

"Das deutsche Asylsystem ist so aufgebaut, dass Frauen und LGBTIQA+ Personen ununterbrochen unter immensen Druck stehen und sich oft ohne SicherheitsgefĂŒhl durchkĂ€mpfen mĂŒssen. FĂŒr einige von uns kann dieser Zustand mehrere Jahre andauern", erklĂ€rt AigĂŒn Hirsch vom niedersĂ€chsischen FlĂŒchtlingsrat. Sie hat sowohl aus der Referent:innenperspektive als auch durch ihre persönliche Fluchterfahrung Expertise gesammelt.

"Der Kampf endet nicht mit einem sicheren Aufenthaltstitel", so AigĂŒn Hirsch:

Vielmehr können wir uns ab diesem Zeitpunkt dem manchmal weniger ĂŒberlebenswichtigen, dennoch lebenswichtigen Kampf gegen erlebte sexistische Diskriminierung und Gewalt nicht mehr entziehen. Aus meiner Beratungsarbeit mit Schutzsuchenden versuche ich hier die Stimmen der Frauen und LGBTIQA+ Angehörigen einzubringen. Sie wollen angstfrei, selbstbestimmt, informiert, geschĂŒtzt vor rassistischer und geschlechtsspezifischer Gewalt sein; respektiert, gehört und gesehen werden, auf allen Etappen des Asylverfahrens und danach, sowie in ihrem alltĂ€glichen Leben.

Eine auf die Bedarfe und mögliche EinschrĂ€nkungen der Schutzsuchenden abgestimmte Anhörung zu den FluchtgrĂŒnden sei eine notwendige Grundlage, um ein faires Asylverfahren zu schaffen.

"Von Anfang an muss allen schutzsuchenden Frauen und LGBTIQA+ Personen menschenwĂŒrdiger Wohnraum, PrivatsphĂ€re, Zugang zu gesundheitlicher Versorgung sowie Zugang zu Bildungs- und Sprachlernmöglichkeiten, und nicht zuletzt zum Arbeitsmarkt gewĂ€hrt werden. Und das unabhĂ€ngig von ihrer Herkunft!", betont AigĂŒn Hirsch.

Ein EuropÀisches feministisches Netzwerk des Widerstands

Die Petition soll am 11. Mai 2022, dem Jahrestag der Istanbul Konvention, den europĂ€ischen Institutionen ĂŒbergeben werden. "NatĂŒrlich reicht es nicht aus, Unterschriften zu sammeln und sie einzureichen, damit sich etwas Ă€ndert.

In der Schweiz wissen wir das nur zu gut" sagt Ebel. "Bei uns gibt es beispielsweise seit 1981 das verfassungsmĂ€ĂŸige Recht auf gleichen Lohn fĂŒr gleichwertige Arbeit, aber ein Arbeitgeber kann dieses Recht noch heute ungestraft ignorieren. Eine Petition ist ein Instrument, das uns hilft, eine Kampagne aufzubauen und uns um eine gemeinsame Aktion zu versammeln."

Die Unterschriften sollten dazu dienen, die öffentliche Meinung zu alarmieren und eine Debatte in der gesamten Gesellschaft anzuregen, Politiker*innen aufzufordern, in den Parlamenten zu intervenieren und Druck auszuĂŒben, damit sich die Dinge Ă€ndern. Marianne Ebel:

Am Anfang waren wir nur ein paar feministische Aktivistinnen, die sich fĂŒr Migrantinnen einsetzten, insbesondere fĂŒr Frauen, die Asyl beantragten. Wir waren – und sind noch immer – schockiert darĂŒber, dass diejenigen, die in ihren HerkunftslĂ€ndern misshandelt wurden, die auf dem Weg ins Exil, aber manchmal auch bei ihrer Ankunft in Europa vergewaltigt wurden, ohne Versorgung und ohne Rechte bleiben und in ein anderes Land zurĂŒckgeschickt werden. Das ist nicht hinnehmbar.

Sie ist sich sicher, dass die Aktionen des BĂŒndnisses nicht am 11. Mai enden werden. "Der Krieg in der Ukraine verleiht unserer Petition eine hohe AktualitĂ€t" so Ebel, "und wir brauchen jetzt Tausende von Menschen, die die Petition online unterzeichnen. Eine einfache und kleine Geste, aber von großer Bedeutung. Sie bedeutet 'Ja, ich stimme zu, wir mĂŒssen diese Forderungen in die Tat umsetzen.‘ Die Unterschrift kann aber auch der erste Schritt zu einem grĂ¶ĂŸeren Engagement sein. Wer unterzeichnet, wird eingeladen, sich der Kampagne von Feminist Asylum anzuschließen, wenn gewĂŒnscht. So wird, Schritt fĂŒr Schritt, das EuropĂ€ische Netzwerk des Widerstands und des Kampfes fĂŒr die Rechte von FlĂŒchtlingen und Migrantinnen gestĂ€rkt."


URL dieses Artikels:
https://www.heise.de/-6541777

Links in diesem Artikel:
[1] https://www.bmfsfj.de/resource/blob/122280/cea0b6854c9a024c3b357dfb401f8e05/gesetz-zu-dem-uebereinkommen-zur-bekaempfung-von-gewalt-gegen-frauen-istanbul-konvention-data.pdf
[2] https://feministasylum.org/?lang=de
[3] https://www.coe.int/de/web/conventions/full-list?module=treaty-detail&treatynum=197
[4] https://netz-bb.netz.coop/fileadmin/user_upload/FA-press-release_de.pdf
[5] http://marchemondiale.ch/index.php/de/
[6] http://marchemondiale.ch/index.php/de/aktionen-und-kampagnen/frauen-migration-zuflucht/520-for-an-open-egalitarian-feminist-and-standing-in-solidarity-europe
[7] http://marchemondiale.ch/index.php/de/aktionen-und-kampagnen/frauen-migration-zuflucht/576-5-juni-grosse-feministische-demo-in-niza-alle-an-die-grenzen-fur-ein-europa-ohne-mauern
[8] https://www.coe.int/en/web/istanbul-convention/grevio
[9] https://www.bmfsfj.de/resource/blob/160138/6ba3694cae22e5c9af6645f7d743d585/grevio-staatenbericht-2020-data.pdf
[10] https://www.proasyl.de/news/istanbul-konvention-umsetzen-schutz-vor-gewalt-auch-fuer-gefluechtete-frauen-und-maedchen/