Weltwirtschaft im Wandel: Warum wird China stärker, während G7 verlieren?
G7-Gipfel in Hiroshima am 19. Mai 2023. Bild: Japanische Regierung / CC BY 4.0
Die BRICS-Staaten sind mit den G7 bereits gleich auf. Die Entdollarisierung schreitet voran. Warum ist der staatlich-private Kapitalismus Beijings so erfolgreich?
Im Jahr 2020 wurde die Parität, also Gleichstand zwischen dem Gesamt-BIP der G7 (USA plus Verbündete) und dem Gesamt-BIP der BRICS-Gruppe (China plus Verbündete) erreicht. Seitdem sind die Volkswirtschaften der BRICS-Staaten schneller gewachsen als die der G7-Staaten.
Heute stammt ein Drittel der gesamten Weltproduktion aus den BRICS-Ländern, während die G7 weniger als 30 Prozent ausmacht. Abgesehen von der offensichtlichen Symbolik hat dieser Unterschied auch reale politische, kulturelle und wirtschaftliche Folgen.
Die Einladung des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj nach Hiroshima, um vor dem G7-Gipfel zu sprechen, konnte die Aufmerksamkeit der G7 nicht von dem großen globalen Problem ablenken: Was in der Weltwirtschaft wächst und was schrumpft.
Das offensichtliche Scheitern des Wirtschaftssanktionskriegs gegen Russland ist ein weiterer Beweis für die relative Stärke des BRICS-Bündnisses. Dieses Bündnis kann den Nationen nun Alternativen zu den Forderungen und dem Druck der einst hegemonialen G7 bieten und tut dies auch.
Die Bemühungen der G7, Russland zu isolieren, scheinen sich als Bumerang zu erweisen und haben stattdessen die relative Isolation der G7 offenbart. Sogar Frankreichs Macron fragte sich laut, ob Frankreich in dem wirtschaftlichen Wettstreit zwischen den G7 und den BRICS, der unter der Oberfläche des Ukraine-Kriegs stattfindet, nicht auf das falsche Pferd setzt.
Vielleicht haben frühere, weniger ausgeprägte Versionen dieses Wettlaufs die gescheiterten Bodenkriege der USA in Asien von Korea über Vietnam bis Afghanistan und Irak beeinflusst.
China konkurriert zunehmend offen mit den Vereinigten Staaten und ihren internationalen Kreditgebern (IWF und Weltbank) bei Entwicklungskrediten für den Globalen Süden. Die G7 greifen die Chinesen an und werfen ihnen vor, die raffgierige Kreditpraxis zu kopieren, für die der Kolonialismus und Neokolonialismus der G7-Staaten zu Recht berüchtigt ist.
Die Angriffe haben angesichts des Bedarfs an solchen Krediten, weswegen die chinesische Kreditpolitik von den Empfängern begrüßt wird, wenig Wirkung gezeigt. Die Zeit wird zeigen, ob die Verlagerung der wirtschaftlichen Zusammenarbeit von der G7 auf China die jahrhundertelange räuberische Kreditvergabe hinter sich lassen wird.
Bis dahin sind die politischen und kulturellen Veränderungen, die mit Chinas globalen wirtschaftlichen Aktivitäten einhergehen, bereits offensichtlich: zum Beispiel die Neutralität der afrikanischen Länder gegenüber dem Krieg zwischen der Ukraine und Russland trotz des Drucks der G7.
Die Entdollarisierung ist eine weitere Dimension der inzwischen rasanten Umwälzungen in der Weltwirtschaft. Seit 2000 ist der Anteil der in US-Dollar gehaltenen Währungsreserven der Zentralbanken um die Hälfte gesunken. Dieser Rückgang hält an.
Jede Woche gibt es Nachrichten über Länder, die Handels- und Investitionszahlungen statt in US-Dollar nun in ihren eigenen Währungen oder in anderen Währungen als dem US-Dollar ausführen. Saudi-Arabien stellt das Petrodollar-System ein, das den US-Dollar als herausragende Weltwährung entscheidend gestützt hat.
Durch die geringere weltweite Abhängigkeit vom US-Dollar werden auch weniger Dollar für Kredite an die US-Regierung zur Verfügung stehen, um deren Anleihen zu finanzieren. Die langfristigen Auswirkungen dieser Entwicklung, insbesondere angesichts der immensen Haushaltsdefizite der US-Regierung, werden wahrscheinlich erheblich sein.
China vermittelte kürzlich die Annäherung zwischen den Feinden Iran und Saudi-Arabien. Die Behauptung, dass diese Friedensstiftung unbedeutend ist, entspricht reinem Wunschdenken. China kann und wird wahrscheinlich auch weiterhin Frieden schaffen, und zwar aus zwei wichtigen Gründen.
Erstens verfügt es über Ressourcen (Kredite, Handelsabkommen, Investitionen), die es einsetzen kann, um die Annäherung von Gegnern zu versüßen. Zweitens wurde Chinas atemberaubendes Wachstum in den letzten drei Jahrzehnten im Rahmen und mit den Mitteln eines globalen Regimes erreicht, das sich größtenteils im Frieden befand.
Kriege beschränkten sich früher meist auf bestimmte, sehr arme asiatische Gebiete. Sie haben den Welthandel und die Kapitalströme, die China bereichert haben, nur minimal gestört.
Die neoliberale Globalisierung kam China überproportional zugute. Daher haben Beijing und die BRICS-Länder die Vereinigten Staaten als Verfechter der Fortführung eines breit angelegten globalen Freihandels- und Kapitalverkehrsregimes abgelöst.
Chinas hybride Struktur als Erfolgsrezept
Die Entschärfung von Konflikten, insbesondere im umstrittenen Nahen Osten, ermöglicht es China, eine friedliche Weltwirtschaft zu fördern, in der das Land gedeihen konnte. Im Gegensatz dazu hat der von Trump und Biden verfolgte wirtschaftliche Nationalismus (Handelskriege, Zollpolitik, gezielte Sanktionen usw.) China als Bedrohung und Gefahr hingestellt.
Als Reaktion darauf ist es China gelungen, viele andere Nationen zu mobilisieren, die sich der Politik der Vereinigten Staaten und der G7 in verschiedenen globalen Foren widersetzen und diese ablehnen.
Quelle des bemerkenswerten Wirtschaftswachstums Chinas – und der Schlüssel zur inzwischen erfolgreichen Herausforderung der globalen wirtschaftlichen Dominanz der G7 durch die BRICS-Staaten – ist sein hybrides Wirtschaftsmodell. China brach mit dem sowjetischen Modell, indem es die Industrie nicht in erster Linie als staatlich kontrollierte und betriebene Unternehmen organisierte.
Es brach auch mit dem US-amerikanischen Modell, indem es die Industrie nicht als privatwirtschaftlich organisierte und betriebene Unternehmen organisierte. Stattdessen wurde eine Mischform aus staatlichen und privaten Unternehmen organisiert, die unter der politischen Aufsicht und Kontrolle der Kommunistischen Partei Chinas stehen.
Diese hybride makroökonomische Struktur ermöglichte es China, mit seinem Wirtschaftswachstum sowohl die UdSSR als auch die Vereinigten Staaten zu übertreffen.
Sowohl die privaten als auch die staatlichen Unternehmen Chinas organisieren ihre Arbeitsplätze – die Mikroebene ihrer Produktionssysteme – in Arbeitgeber-Arbeitnehmer-Strukturen, wie sie in den öffentlichen Unternehmen der Sowjetunion und in den privaten Unternehmen der USA anzutreffen sind. China hat sich nicht von diesen mikroökonomischen Strukturen gelöst.
Wenn wir den Kapitalismus genau als diese besondere mikroökonomische Struktur (Arbeitgeber-Arbeitnehmer-Verhältnis, Lohnarbeit usw.) definieren, können wir ihn von den mikroökonomischen Strukturen der Sklaven- und Feudalarbeitsplätze als Herr-Sklave oder Herr-Leibeigener unterscheiden.
Nach dieser Definition ist das, was China aufgebaut hat, ein hybrider staatlich-privater Kapitalismus, der von einer kommunistischen Partei geführt wird. Es handelt sich um eine recht originelle und besondere Klassenstruktur, die in der Selbstbeschreibung der Nation als "Sozialismus mit chinesischen Merkmalen" bezeichnet wird.
Diese Klassenstruktur hat bewiesen, dass sie sowohl der UdSSR als auch den G7-Staaten in Bezug auf die erzielten Wirtschaftswachstumsraten und die unabhängige technologische Entwicklung überlegen ist. China ist zum ersten systemischen und globalen Konkurrenten geworden, dem sich die Vereinigten Staaten im letzten Jahrhundert stellen mussten.
Lenin bezeichnete die frühe UdSSR einst als einen "Staatskapitalismus", der vor der Aufgabe stand, einen weiteren Übergang zum postkapitalistischen Sozialismus zu schaffen. Xi Jinping könnte China heute als einen hybriden Kapitalismus bezeichnen, der in ähnlicher Weise vor der Aufgabe steht, seinen Weg zu einem echten postkapitalistischen Sozialismus zu beschreiten.
Das würde einen Übergang von der Arbeitgeber-Arbeitnehmer-Struktur zu einer demokratischen alternativen mikroökonomischen Struktur umfassen und erfordern: eine genossenschaftliche Partizipation im Betrieb oder ein von den Arbeitnehmern selbst verwaltetes Unternehmen.
Die UdSSR hat diesen Übergang nie vollzogen. Für China stellen sich zwei Schlüsselfragen: Kann es das? Und wird es?
Auch die Vereinigten Staaten stehen vor zwei Schlüsselfragen. Erstens: Wie lange noch werden die US-Regierungschefs ihren wirtschaftlichen und globalen Niedergang leugnen und so tun, als hätte sich die Stellung der USA seit den 1970er und 1980er-Jahren nicht verändert?
Zweitens: Wie lässt sich das Verhalten dieser Politiker erklären, wenn große Mehrheiten in den USA diese Rückgänge als anhaltende langfristige Trends anerkennen? In einer Umfrage des Pew Research Center, die zwischen dem 27. März und dem 2. April 2023 unter Amerikanern durchgeführt wurde, fragte man die US-Amerikaner, wie sie die Situation der Vereinigten Staaten im Jahr 2050 im Vergleich zu heute einschätzen.
Etwa 66 Prozent erwarten, dass die Wirtschaft der USA schwächer sein wird. 71 Prozent erwarten, dass die Vereinigten Staaten in der Welt weniger wichtig sein werden. 77 Prozent erwarten, dass die Vereinigten Staaten politisch gespaltener sein werden. 81 Prozent erwarten, dass sich die Kluft zwischen Arm und Reich vergrößern wird.
Die Menschen spüren deutlich, was die politisch Verantwortlichen verzweifelt leugnen. Diese Diskrepanz schlägt die Politik der USA in Bann.
Dieser Artikel wurde von Economy for All, einem Projekt des Independent Media Institute [1], produziert. Übersetzung: David Goeßmann.
Richard D. Wolff ist emeritierter Professor für Wirtschaftswissenschaften an der University of Massachusetts, Amherst, und Gastprofessor im Graduiertenprogramm für internationale Angelegenheiten der New School University in New York. Er ist Moderator und Produzent der weitverbreiteten Radio- und Videosendung "Economic Update with Richard D. Wolff" [2]. Seine letzten Bücher [3] sind: "The Sickness Is the System: When Capitalism Fails to Save Us From Pandemics or Itself", "Understanding Marxism" und "Understanding Socialism".
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