Wem gehört eigentlich das, was man sieht?
Ein Streitfall um das Google-Glass-Tragen deutet die philosophischen wie rechtlichen Probleme an, die uns bevorstehen
Der Film Jack Ryan tut sich in den USA an der Kinokasse schwer. Hier startet er erst am 27.02.2014. In Columbus, Ohio, wollte ein Mann den Streifen aber unbedingt sehen. Und dann durfte er nicht. Kino-Personal hatte seine "Google Glass" bemerkt, folgte ihm in den Saal, nahm ihm die Brille ab und führte ihn der herbeigerufenen Polizei zu, wie The Gadgeteer berichtet.
Soviel ist klar: eine Sehhilfe mit eingebauter Kamera erfüllt alle Voraussetzungen, Medien- und Datenschutz-Theoretiker auf Jahre zu beschäftigen. Der Panoptismus von Überwachungskameras brachte den entsprechenden Diskurs hervor und forderte Protest heraus. Barg die filmische Aufzeichnung schon immer das Potenzial zur nachträglichen Analyse der visuellen Daten und damit eines erhöhten Zugriffs durch (selbst)ermächtigte Instanzen, vervielfacht die digitale Vernetzung noch einmal die Zahl der Beobachtungsposten, ihrer Mittel der Beobachtung und der psychischen Effekte des Bewusstsein von Beobachtbarkeit und Selbstbeobachtung.
Doch zunächst einmal genug der Benthamschen und Luhmannschen Beob-, -acht- und -barkeiten. Der Mann, der Jack Ryan Teil 2 sehen wollte, hatte sich also schon mit einer Brille ausgestattet, die das Gesehene aufzeichnet und anschließend abrufbar macht. Als Körper-Extension vereinigt Google Glass die Funktionen des Sehens und des Erinnerns. Mit ihrem Vorläufer, der Helmkamera, implementiert die Brillen-Kamera endgültig auf technischer Ebene den menschlichen Perspektivismus, besser bekannt auch als Solipsismus: Realität wird erlebt und definiert als lediglich jener individuelle 3-D-Film, der vor den eigenen Augen abläuft.
Wem gehört eigentlich das, was man sieht? - Diese Frage wurde bisher aus praktischen Gründen wohl nicht ausführlicher erörtert. Ein interessantes Anwendungsbeispiel dafür ist die Werbefläche: Eine ganze Industrie kümmert sich darum, jene Plätze formaljuristisch zu besitzen und zu verpachten, über die im öffentlichen Raum die meisten Blicke streifen. Dass der physische Ort einer solchen Fläche besessen und vermarktet werden kann, ist in unserer Wirtschaftsordnung unbestritten. Dabei gar nicht mitdefiniert ist, dass ja nicht nur der jeweilige Bildträger, sondern auch ein Teil des Sichtfeldes von Betrachtern Gegenstand der Verhandlung ist.
Das mag vor dem Hintergrund der juristischen Definitionen öffentlicher Räume und den einstweiligen pragmatischen Notwendigkeiten spitzfindig wirken, doch vielleicht erinnert uns die nähere und potenziell massenhafte Verschaltung von Blick und Kamera auch an dieses Verdrängte des perzeptiven Menschenrechts: Die Besetzung des Blickfelds ist eine Art von Nötigung. "Schauen Sie doch weg" gilt nicht - dies gelingt zumindest dann nicht, wenn eine Blickrichtung für die sichere räumliche Navigation, ob zu Fuß oder mit dem Auto, unausweichlich ist.
Es bleibt dazu also nur vorerst festzuhalten, dass sich unsere Gesellschaft mit einem nicht gerade freien Spiel der Kräfte abgefunden hat, die um den sichtbaren Raum und seine Inhalte ringen. Eine Kulturtheorie der vermarkteten Anschauungsobjekte hätte auch noch zu differenzieren zwischen architektonischer, eher zweckfreier, selbstgenügsamer Gestaltung und der gezielten Kommunikation von Produktwerbung und der Anbringung von Schriftzeichen, die den literaten Betrachtern nolens volens Botschaften ins Bewusstsein pflanzen.
Ein noch höheres Level der logischen Verschränkung erreichen diese Faktoren in einem Kino, wie es der Film-Fan in Columbus besuchte. Hier werden auf möglichst großflächigen Leinwänden, seit einigen Jahren auch verstärkt in dreidimensional wirkenden Darstellungsformen, künstliche Welten als gegenwärtig suggeriert. Was von Kameras aufgezeichnet und von Projektoren an die Wand geworfen wird, darf nicht abermals registriert und wiedergegeben werden. Soweit ist dies dem Gerechtigkeitsempfinden selbstverständlich.
Google Glass mit seiner 5-Megapixel-Digitalkamera neben dem rechten Auge rückt zunächst einmal nur das technische Requisit dem Körper näher, als es bei einem Filmpiraten mit der Videokamera im Kinosaal der Fall ist. An dem Fall aus Ohio wird noch bemerkt, dass der Filmgucker eine Version mit optisch korrigierten Gläsern trug. Er ist also (wie der Autor dieses Textes) ein Sehbehinderter, der auf sein Hilfsmittel angewiesen ist, um mehr als irrlichternde Schemen zu erkennen.
Cyborg: Wann gehört eine Brille zum Körper?
Es wäre spannend zu verfolgen, was die klageselige Welt der US-amerikanischen Anwaltschaft aus einem solchen Fall machen würde. Ist nicht die Brille mit Dioptrien nahezu schon zum Körperteil geworden und darf sie also demnach nicht von anderen in Frage gestellt, geschweige denn physisch entfernt werden, ohne dass die Würde ihres Trägers verletzt ist?
Sicherlich werden die Hersteller des aufwändig produzierten, in diesem Sinne verdichteten Sicht- und Hörbaren der permanent aktualisierten Filmgeschichte an diesem Punkt nicht zurückweichen. Was im Kino gezeigt wird, gehört ihnen und wird nur für den Zeitraum der Kinoprojektion an die Wahrnehmung der Besucher verliehen. Das ist der Deal. Wer Google Glass trägt, muss draußenbleiben.
Wir können also zunächst nur festhalten, dass in dieser technischen und juristischen Konfiguration für den Google-Glass-Besitzer als Kinobesucher die analoge Zweitbrille unverzichtbar bleibt. Für gewöhnlich halten sich solche Restriktionen gegenüber der individuellen Freiheit, solange die betreffende Gewohnheit nicht zum Massenphänomen geworden ist. Dann werden meist die rechtlichen Bestimmungen und Geräteeigenschaften diesen einmal angenommenen Gewohnheiten angepasst.
Als Produktidee und Add-on für Google Glass dürfte deshalb in Zukunft eine erweiterte Funktionalität des selbstverständlich schon integrierten WLANs der Brille drohen, dies vermutlich in Kombination mit elektronischem Zahlungsverkehr und Authentifizierungsverfahren. Wer mit Google Glass ins Kino geht, hat dann folgende Optionen: Durch eine entsprechende Funktionalität wird beim Betreten des Saales die Kamera per WLAN ausgeschaltet. Ihr Träger gibt hierfür beim Erwerb seines Tickets dem Kinobetreiber die Genehmigung, d. h. ermöglicht den WLAN-Zugriff auf seine Brille.
Für Aufzeichnungs-Freaks ist ein erhöhter Eintritt denkbar, der den Betrieb der Brillen-Kamera während der Projektion erlaubt. Dabei werden jedoch die Datenpakete für die Dauer der Vorführung mit einer digitalen Signatur versehen, die zwar das anschließende wiederholte Anschauen der eigenen Aufzeichnung erlaubt, beim Einstellen der Daten in Netzwerke aber die Identifizierung des Aufzeichners ermöglicht.
Natürlich wird dieses "Digital Rights Management" gehackt werden - aber das war, solange der Surfer zurückdenken kann, schon immer so. Der Pirat wird dann achtgeben müssen, dass der Ort seiner Aufzeichnung nicht anhand mitenthaltener individueller Umgebungen per Mustererkennung identifiziert und mit seinen eigenen GPS-Daten abgeglichen wird.
Wenn Ihnen alles das als Kinogänger nicht passt, können sie vielleicht folgende Vereinbarung treffen: Der Eyetracker Ihres Google Glass führt den Nachweis, dass Sie während der Vorführung geschlafen haben.
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