Wenn Diskussionsgrundlagen unklar sind

Tatsachen werden oft ganz nach Belieben zur Kenntnis genommen oder sie werden durch eine Wertung ersetzt, die erst das Ergebnis der Tatsachenbetrachtung sein kann. Hürden der Aufklärung (Teil 3).

Menschen sind erstaunlich schlecht darin, Ereignisse korrekt zu beschreiben. Schon die einfache Nacherzählung eines Ereignisses lässt viele straucheln, wie wir aus unserer Alltagskommunikation wissen und täglich in den Medien beobachten können.

In einem populären Modell erläutert hat diese Kommunikationsprobleme Friedemann Schulz von Thun. Demnach enthält eine Aussage neben dem Sachinhalt immer auch eine Selbstkundgabe, einen Appell und einen Beziehungshinweis. Zur professionellen Wiedergabe gehört dann, Fakten und ihre Interpretationen deutlich zu unterscheiden. Doch regelmäßig wird, was jemand aus einer Aussage interpretiert, zur neuen Tatsache, zum "Sachinhalt" erhoben.

Der auch in Deutschland recht bekannte ORF-Journalist Armin Wolf lieferte dafür Ende Oktober 2022 ein reichweitenstarkes Beispiel. Aus der Aussage "der Ukraine [kam] die Rolle zu, stellvertretend für den Westen einen Krieg mit Russland zu beginnen" machte er, die Ukraine habe einen "Krieg gegen Russland" begonnen.

Dabei ist der Unterschied auch ohne jeden Kontext deutlich zu erkennen: Im Original geht es um ein (interpretiertes) Vorhaben, in Wolfs Kolportage um eine Beschreibung der Geschichte.

Es macht gesellschaftliche Verständigung schwierig, wenn keine für alle akzeptable Wirklichkeitsbeschreibung gelingt, weil an ihrer statt steht, was jemand in den Tiefen einer Aussage gefunden haben will.

Der Klassiker sind alle Formen von Diskriminierungsbehauptungen, also vor allem Rassismus (Beispiele: FAS über Gaulands Boateng-Aussage; Bahlsen-Keks "Afrika"; H&M's "Coolest Monkey in the Jungle").

Wertungen statt Tatsachenbeschreibungen

Meinungsbekundungen sind in den Nachrichten gang und gäbe. Sie sind so allgegenwärtig, dass sie oft gar nicht mehr als solche auffallen. Demonstranten, Oppositionelle, Freiheitskämpfer, Aktivisten können Bezeichnungen für dieselbe Gruppe sein; in der Bezeichnung steckt bereits eine Wertung.

Autos, Investmentfonds und Schauspielerinnen werden als "attraktiv" beschrieben, was dann allgemeingültig sein soll, obwohl es doch nur subjektive Meinung sein kann. Es gibt politische Statements einerseits und Propaganda andererseits.

Eine besonders gravierende Wertung in den vergangenen drei Jahren ist die Bezeichnung unterschiedlicher Regelungen in den einzelnen deutschen Bundesländern als "Flickenteppich".

Anstatt sachlich zu berichten (und als Bürger zu diskutieren), wo unter welchen Rahmenbedingungen was gilt und welche Effekte zu beobachten sind, wird die Vielfalt abgewertet, als sei es ein demokratisches Ziel, in ganz Deutschland (oder sogar ganz Europa?) einheitliche Regelungen zu haben (während verfassungsrechtlich solche Unterschiede gewollt sind und als Föderalismus sogar der Ewigkeitsklausel des Grundgesetzes unterliegen, Art. 79 Abs. 3). "Flickenteppich" ist keine Tatsachenbeschreibung, sondern eine Kommentierung.

Auch der oft mit weitreichenden Folgen verliehene Expertenstatus ist eine Meinung, eine Bewertung der spezifischen Leistungsfähigkeit einer Person, ohne dass es Kriterien dafür gäbe. Der umständlichere, aber sachlichere Weg wäre, die fachliche Expertise möglichst exakt zu beschreiben.

Das kann auch Wertungen enthalten, sofern diese Menschen zugeordnet sind, die dem Rezipienten eine eigene Einschätzung ermöglichen. Doch stattdessen hat sich das Schlagwort von "den Experten" breit gemacht, die immer das sagen, fordern, kritisieren, was die Position des sie Zitierenden stützt.

Der Expertenstatus verschleiert oft, dass eine Aussage nur eine Meinung ist. Jeder wissenschaftliche Vortrag steckt voller Annahmen, Interpretationen, Weltanschauungen. Deshalb kann "die Wissenschaft" auch nicht sagen, was gegen den Klimawandel, eine Pandemie oder den Welthunger getan werden muss.

Im besten Fall können die verschiedenen Disziplinen zu einzelnen Aspekten Wenn-Dann-Prognosen wagen (also Tatsachenvermutungen), bei denen die Irrtumswahrscheinlichkeit aufgrund ihres Forschungsstandes möglichst gering ist.

Meinung statt Tatsache kann nicht nur bei Fremdzuschreibungen zum Verständigungsproblem werden, sondern natürlich auch bei Selbsteinschätzungen. So halten sich Richter regelmäßig auch für Hermeneutik-Experten, für Soziologen, Psychologen und vieles mehr.

Anstatt objektiv benennbare Expertise in ihre Verhandlungen zu holen, um Tatsachen richtig zu erkennen, halten sie sich selbst für kompetent und entscheiden etwa in Presserechtsverfahren, was Durchschnittsleser wie verstehen und interpretieren werden.

Ihre Deutungen von Aussagen werden zu Tatsachen erklärt (was falsch ist), die sie dann straf- oder zivilrechtlich bewerten (was ihr Job ist). Aber jede Handlung, die nicht unwillkürlich geschieht (wie eine reflexhafte Bewegung), basiert auf einer Meinung.

So sind die bis heute in den meisten Krankenhäusern gültigen Besuchsbeschränkungen keine zwingende Interpretation wissenschaftlicher Fakten, sondern in Regeln übersetzte Meinungen, in deren Formung auch allerhand betriebliche Überlegungen und natürlich auch das Ego der Entscheider einfließen.

Aber eine Krankenhaus-Direktorin wird kritische Anfragen zu all den Reglementierungen, die es vor drei Jahren noch nicht gab, mit Verweis auf das Infektionsgeschehen abzubügeln versuchen. Über Tatsachen kann man eben nicht streiten.

Faktisierung von Meinungen: Drei Fall-Beispiele

Beispielhaft seien drei Institutionen genannt, deren Faktisierung von Meinungen zu einem besonderen Kommunikationsproblem werden kann. In allen drei Fällen wurde jedenfalls noch bis vor Kurzem für die Teilnahme an Veranstaltungen ein 2-G-Nachweis verlangt, es musste also entweder eine 3-fache Impfung gegen Covid-19 oder eine Genesung von dieser Erkrankung nachgewiesen werden (was nach derzeitigem Infektionsschutzgesetz 62 Tage lang möglich ist).

Da wäre zum einen die tageszeitung (taz), zu deren Geschäft als Journalismusbetrieb die Unterscheidung von Tatsachen und Meinungen sowie die Darstellung von Meinungsvielfalt zu berichteten Tatsachen gehören sollte. Für alle derzeit beworbenen taz-Reisen im Jahr 2023 heißt es:

Zur Sicherheit der Reisegruppe und unserer Gesprächspartner*innen müssen alle Reisenden vollständig (d.h. mit Auffrischungsimpfung) geimpft sein oder in den letzten sechs Monaten vor Reiseantritt von einer Covid-19-Erkrankung genesen sein.

"taz-Reisen in die Zivilgesellschaft", Belgien, 20.-28. Mai 2023

Über den Drittschutz der Corona-Impfung ist in letzter Zeit viel diskutiert worden. Hier ist nur relevant, welche Auswirkungen die taz-Meinung dazu auf ihre Berichterstattung haben kann oder sogar haben muss. Sprechen taz-Reporter face-to-face auch sonst nur mit Geimpften und Genesenen? (Die in Teil 1 zitierten Coronaprotest-Forscher Carolin Amlinger und Oliver Nachtwey hatten ihre Feldstudien aus Sicherheitsgründen von unmittelbaren Demonstrationsbeobachtungen auf Online-Interviews verlagert, was durchaus Zweifel am Erkenntnisinteresse begründen kann.)

Wieso gilt diese Rücksichtnahme nicht für andere übertragbare Krankheiten, insbesondere die Grippe? Kann es den professionellen Blick der Mitarbeiter trüben, wenn ihre eigene Firma bei "Reisen in die Zivilgesellschaft" einen großen Teil der Zivilgesellschaft ausschließt?

Zweites Beispiel ist der Verein "Netzwerk Recherche". Bei der Jahreskonferenz 2022, die wie immer beim NDR in Hamburg stattfand und ein get-together zahlreicher Größen des investigativen Journalismus ist, galt für die Anmeldung ebenfalls die 2-G-Bedingung.

Dafür gab es allerdings keinen Programmschwerpunkt zum Corona-Journalismus, obwohl sich unter Recherchegesichtspunkten sicherlich viel Material für Workshops und Podiumsdiskussionen gefunden hätte. Yann Werner Prell von der Geschäftsstelle des Vereins führte auf Anfrage zur Zugangsbeschränkung aus:

Wir werden [...] auf den Schutz aller Kolleg:innen achten und entsprechend vorsichtig agieren. Unsere Konferenz Journalismus macht Schule. Anfang April fand beispielsweise unter 2G statt, obwohl das zu diesem Zeitpunkt nicht mehr nötig gewesen wäre.

Es steht der Meinungsbildung auf einem Journalisten-Treffen wohl unbestreitbar etwas im Wege, wenn eine bestimmte, in der Gesellschaft weit verbreitete kritische Haltung, aus Sicherheitsgründen gar nicht vertreten sein kann.

Als Drittes sei die "Stiftung Mitarbeit" genannt. Auch hier galt im ganzen Jahr 2022 2-G. Anfragen zum dahinterstehenden Konzept wurden von zwei Referenten und dem Vorsitzenden nicht beantwortet.

Hier ist die Auswirkung einer Meinung deshalb so interessant, weil sich die von der "Stiftung Mitarbeit" geförderte Demokratie- und Deliberationsszene stets um die Beteiligung von Randgruppen und Marginalisierten bemüht. Inklusion wird sehr betont.

Da sollte es nicht ungewöhnlich anmuten, nach den eine eigene, aktive Diskriminierung und Marginalisierung begründenden Überlegungen zu fragen.