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Wenn Netrebko singt, sollte Makejew schweigen

Harald Neuber

Il Trovatore, Salzburg Festival 2014 with Anna Netrebko (Leonora). Bild: Christian Michelides, CC BY-SA 4.0

Die Kampagne gegen die OpernsÀngerin Anna Netrebko zeigt, was der Krieg bei uns angerichtet hat. Und wie Fanatismus Kunst und Kultur erfasst. Ein Telepolis-Leitartikel.

Der Krieg Russlands in der Ukraine [1] entfaltet seine zerstörerische Wirkung auch dort, wo man es nicht erwartet. Im friedlichen Westen, in der Kultur. Die Forderung nach einem Auftrittsverbot fĂŒr die russische Sopranistin Anna Netrebko am heutigen Freitagabend in Berlin zeugt davon. Die 51-JĂ€hrige kann zum Krieg sagen, was sie will – die Verbotsforderungen wird sie nicht verhindern können.

Die Kampagne gegen die OpernsÀngerin mit russischem und österreichischem Pass zeugt von einer Unkultur der Ignoranz, wie sie nur in Kriegszeiten ausbrechen kann. Aus der Enthemmung schreit. Und die aggressiver wird.

Deutlich wurde das bisher vor allem in der politischen Debatte. Dort blieb es folgenlos, wenn ein Podcaster eine Politikerin als "menschlich komplett verdorbenen Zellhaufen [2]" bezeichnete, weil sie die Darstellung russischer Kriegsverbrechen in Frage stellte. Zu Recht, wie die ARD [3], in deren Programm die Äußerung fiel, spĂ€ter einrĂ€umen musste.

Die völkerrechtswidrige Intervention [4] in der Ukraine wird im Westen stets akzentuierend "Angriffskrieg" genannt, als habe es seit dem Zweiten Weltkrieg keine derartigen WaffengĂ€nge gegeben, schon gar nicht unter westlicher Verantwortung. (Sie hießen verklausulierend OpĂ©ration Harmattan, Operation Odyssey Dawn oder Operation Desert Storm, Operation Enduring Freedom 
)

Der zwar berechtigte, aber im Vergleich zugespitzte und geradezu erzwungene Sprachgebrauch im Falle des russischen Krieges bleibt nicht ohne Folgen. Russland ist mehr als nur ein Paria. Das spĂŒren die Russinnen und Russen [5]. Und das zeigt sich im Umgang mit der Kultur ihres Landes.

Im MĂ€rz 2022 ersetzte das walisische Cardiff Philharmonic Orchestra die OuvertĂŒre 1812 des Russen Pjotr Tschaikowski durch die ukrainische Nationalhymne und die 8. Sinfonie von AntonĂ­n Dvoƙák.

Ebenfalls im FrĂŒhjahr 2002 hatte der CDU-BĂŒrgermeister der nordrhein-westfĂ€lischen Gemeinde Lindlar ein Konzert des Jungen Orchesters NRW abgesagt, weil auch dort Tschaikowski und russische Musik auf dem Programm standen. Nach heftigen Protesten durfte das Orchester im Mai vergangenen Jahres [6] doch noch auftreten.

Im gleichen Sinne forderte der ukrainische Kulturminister Oleksandr Tkatschenko [7]in einem Beitrag fĂŒr den britischen Guardian die westlichen Staaten auf, Tschaikowskis Werke zu boykottieren. Musik des Komponisten solle bis zum Ende der "blutigen Invasion" nicht mehr erklingen. Das passt zu den Ereignissen in der Ukraine, wo Puschkin-DenkmĂ€ler vom Sockel gerissen werden. Ist das auch ein Beitrag zur Verteidigung unserer Freiheit?

Das alles ist lĂ€ngst nicht mehr rational und sollte mehr Kritik hervorrufen. Nur die uneingeschrĂ€nkte – ich betone: die uneingeschrĂ€nkte – SolidaritĂ€t [8] mit der Ukraine und alles, was ihre Vertreter so von sich geben, steht dem entgegen. Und das ist gerade in der Kultur verheerend.

Fake News vom Botschafter

Wenn der ukrainische Botschafter der Sopranistin "persönliche Mitverantwortung fĂŒr den russischen Angriffskrieg" vorwirft [9], zeigt das nur eines: eine gefĂ€hrliche IrrationalitĂ€t. Denn Oleksij Makejew verbreitet bewusst Fake News, um "den Feind" auch in seinem Gastland zurĂŒckzudrĂ€ngen, wo immer es geht. Das mag aus seiner Sicht verstĂ€ndlich sein. Mitmachen oder gar gutheißen muss man das nicht.

Völlig zu Recht weist die Berliner Staatsoper Unter den Linden in ihrer Stellungnahme darauf hin [10], dass sich die KĂŒnstlerin "öffentlich sehr deutlich von der russischen FĂŒhrung distanziert" habe. Das gilt auch fĂŒr ein Foto mit Separatisten [11], zu dem sich Netrebko erklĂ€rt hat. Wer dies in Abrede stellt, beweist nur Ignoranz und Extremismus.

Hier wirkt ein moralischer Druck, der alle SphÀren der Gesellschaft erfasst hat. Allen voran die Politik, wie die hysterischen Reaktionen auf Forderungen nach einem Verhandlungsfrieden zeigen, egal ob sie von Alice Schwarzer und Sahra Wagenknecht, von Akademikern oder Sozialdemokraten kommen.

Das zeigt sich in der Forschung und an den UniversitÀten, wo russische Akademiker kaum noch Platz haben.

Und gerade in Kunst und Kultur [12], wo die Boykottaufrufe besonders verheerend wirken, weil gerade hier ein Dialog stattfinden könnte.

"Freiheit, die ich meine", schrieb Max von Schenkendorf nach dem Sieg der europĂ€ischen GroßmĂ€chte ĂŒber Napoleon. Er beschrieb damit ein damals neues FreiheitsverstĂ€ndnis. Freiheit prĂ€gte fortan Kunst und Kultur in ganz Europa, individuell und kollektiv.

Es ging darum, einen Raum zu schaffen und zu verteidigen, der sich staatlichem Druck entzog – politischem, juristischem, moralischem, wie auch immer begrĂŒndetem. Dass es daran mangelt, zeigt sich seit Beginn des Krieges: Im öffentlichen Raum Ă€ußern sich die Menschen anders als im Privaten – ein Indiz fĂŒr die EinschrĂ€nkung der Meinungsfreiheit, fĂŒr eine AtmosphĂ€re, in der jede Infragestellung der Ukraine-Politik immer aggressiv und oft diffamierend zurĂŒckgewiesen wird.

Nun wird Netrebko in der Staatsoper nicht zu einer Debatte einladen, sondern eine Verdi-Oper singen. Doch der Druck, ihr und dem Opernhaus dies zu verbieten, wirkt indirekt auch nach innen.

Man schweigt lieber, hĂ€lt sich zurĂŒck, widerspricht nicht mehr. So zersetzt der moralisierende autoritĂ€re Geist eine demokratische Kultur, in der es, wĂ€re sie noch intakt, möglich sein mĂŒsste zu sagen: Empathisch und humanistisch wĂ€re es, das Töten sofort zu beenden.

Nach außen ist er darauf angelegt, jede Debatte mit Russland zu verhindern. Denen hört man nicht zu. Die liest man nicht. Mit denen redet man nicht.

Moral und Ethik sind universell

Es wird ethisch und moralisch argumentiert: Russland hat die Ukraine ĂŒberfallen, im Krieg sterben Menschen, auch Zivilisten. Das ist natĂŒrlich richtig und zu verurteilen. Aber Moral und Ethik sind universell oder sie sind gar nicht. Deshalb mĂŒssen derart begrĂŒndete Positionen einem Vergleich standhalten.

Im MĂ€rz 2003 erklĂ€rte [13] Hans Magnus Enzensberger in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung [14] seine "triumphale Freude" ĂŒber den Angriffskrieg der USA gegen den Irak, der zum Sturz Saddam Husseins fĂŒhrte. Es irritiere ihn zutiefst, "dass so viele Deutsche der Rhetorik des ‚Appeasement‘ anhĂ€ngen, als hĂ€tten sie nie unter einem totalitĂ€ren Regime gelebt".

Auch der ungarische Schriftsteller György Konråd verteidigte den Angriff auf den Irak. Als EuropÀer sei er "daran interessiert, dass es weniger Diktaturen auf der Welt gibt. Deshalb ist uns die aufgefrischte antiimperialistische Propaganda (...) nicht sympathisch".

WĂ€hrend Bomben auf Bagdad fielen, schrieb der damalige Mitherausgeber des Berliner Tagesspiegel, Hellmuth Karasek [15], er könne nicht einsehen, "warum jemand, der die Argumente Tony Blairs fĂŒr ĂŒberzeugender und ‚richtiger‘ hĂ€lt als die (Gerhard) Schröders, ein Kriegstreiber sein soll".

Karasek holte weit aus, um den Bruch des Völkerrechts durch die USA, Großbritannien und andere zu legitimieren: "Napoleon wurde in Deutschland trotz seiner Überfallskriege als Befreier empfunden". Äpfel-und-Birnen-Vergleiche sind nichts dagegen.

Die medizinische Fachzeitschrift Lancet schĂ€tzt [16] ĂŒbrigens, dass allein von MĂ€rz 2003 bis Juli 2006 rund 655.000 Zivilisten infolge des US-Angriffs auf den Irak starben, Opinion Research Business geht von 1,033 Millionen Toten von MĂ€rz 2003 bis August 2007 aus, eine PLOS Medicine Studie kommt auf 405.000 Tote von MĂ€rz 2003 bis Juni 2011.

Weder Konråd noch Enzensberger oder Karasek folgten der damaligen Position, es gab keine nennenswerte Empörung oder gar Boykottaufrufe.

Wieder auf der Seite der Guten

Sind die Kampagnen gegen russische KĂŒnstler heute auch massenpsychologisch so zu erklĂ€ren? Je fanatischer wir gegen sie wettern, je heftiger wir ihre Bestrafung fordern, desto weniger mĂŒssen wir uns mit der Frage auseinandersetzen, welche Mitschuld wir auf uns geladen haben.

Ein Indiz dafĂŒr haben wir hier schon frĂŒher angefĂŒhrt: "Putler"-Plakate auf Ukraine-Demonstrationen, Bilder, auf denen das Konterfei des deutschen Diktators ĂŒber das des russischen PrĂ€sidenten gelegt wird.

Das sagt: Endlich, Generationen, nachdem unsere VĂ€ter, GroßvĂ€ter und inzwischen UrgroßvĂ€ter am blutigsten Vernichtungskrieg der Neuzeit teilgenommen haben, stehen wir auf der Seite der Guten.

Das ist ein gutes GefĂŒhl. Allein, es nĂŒtzt nichts. Denn wĂ€hrend wir uns mit Netrebko und der Staatsoper beschĂ€ftigen, geht der Krieg weiter, sterben Menschen, scheitern EU-Sanktionen, gibt es keinen neuen Getreidedeal, verhungern Unschuldige in anderen Teilen der Welt, verseucht DU-Munition das Kriegsland, werden Familien getrennt, MĂ€nner an die Front gezwungen.

Es gÀbe viel zu diskutieren. Netrebkos Gesang gehört nicht dazu.


URL dieses Artikels:
https://www.heise.de/-9306187

Links in diesem Artikel:
[1] https://dserver.bundestag.de/btp/14/14186.pdf
[2] https://www.telepolis.de/features/Krieg-und-Debattenkultur-Ist-es-Einfalt-oder-Angst-7545843.html
[3] https://www.telepolis.de/thema/ARD
[4] https://monde-diplomatique.de/artikel/!5830499
[5] https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/debatten/russische-kuenstler-besteht-ein-bekenntniszwang-17846529.html
[6] https://www.rundschau-online.de/wipperfuerth/konzert-in-lindlar-russische-musik-darf-nun-doch-im-kulturzentrum-erklingen-122445
[7] https://www.theguardian.com/commentisfree/2022/dec/07/ukraine-culture-minister-boycott-tchaikovsky-war-russia-kremlin
[8] https://dserver.bundestag.de/btp/14/14186.pdf
[9] https://www.change.org/p/kein-auftritt-von-anna-netrebko-an-der-berliner-staatsoper/responses/44667
[10] https://www.staatsoper-berlin.de/de/staatsoper/news/statement-zu-den-auftritten.299/
[11] https://www.tt.com/artikel/9374710/flaggen-skandal-separatistenfuehrer-widerspricht-netrebko
[12] https://www.berliner-zeitung.de/politik-gesellschaft/krieg-in-der-ukraine-claudia-roth-warnt-vor-boykott-russischer-kultur-li.227803
[13] https://www.spiegel.de/politik/ausland/enzensberger-verteidigt-irak-krieg-lieber-neue-sorgen-als-alte-schweinereien-a-294836.html
[14] https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/irak-krieg-enzensberger-triumphale-freude-ueber-saddams-sturz-1101963.html
[15] https://www.tagesspiegel.de/meinung/deutsche-intellektuelle-zum-irak-krieg-sind-sie-ein-kriegstreiber-995596.html
[16] https://tinyurl.com/vr5fdv23