Wenn Sie das Risiko lieben...

... dann vielleicht wegen der Streicheleinheiten in den hinteren Hirnzentren

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"Ich habe es im Gefühl gehabt," strahlt der erfolgreiche Entrepreneur, nachdem sein Unternehmen zu florieren beginnt. "Keine Höhenflüge mehr," ist die Devise des Verwalters, der den Bankrott abwenden soll. Nicht nur zwei Standpunkte, sondern auch zwei Hirnzentren machen den Unterschied aus.

Mit dieser Botschaft der Arbeitsgruppe von José V. Pardo von der University of Minnesota, veröffentlicht in den Proceedings of the National Academy of Sciences (PNAS), wird die PET (Positron Emissions Tomografie) zur Wahrheitsdroge. Entscheidungen auf sicherer Basis, so wissen wir nun, fördern die Durchblutung im Vorderhirn, Entscheidungen unter Risiko stimulieren hingegen den Blutfluss in den hinteren Gehirnzentren.

Die Farbflecken in der PET dokumentieren die aktiven Zonen unter Risikoentscheidungen oder Sicherheit (Credit PNAS)

Was die Neurophysiologen und Ökonomen in messbare Größen umgesetzt haben, bestätigt jene Vermutungen, die sagen: die Meinungsbildung wird bewusst getroffen, solange sie auf der Logik rationaler Argumente beruht. Unbewusste Einflüsse werden um so wirksamer, je unsicherer die Einschätzung ist. Die Crux für experimentelle Untersuchungen besteht im Wechselspiel zwischen Bewusstem und Unbewusstem oder Wirklichkeit und Realität. Gerät der Unterschied ins Bewusstsein, ist die Sicherheit dahin.

Heinrich von Kleist beschrieb dieses Phänomen als Verlust der natürlichen Grazie: die spontan eingenommene grazile Körperhaltung, die erst dann wiederkehrt, wenn man darauf verzichtet, den erstrebenswerten Zustand erreichen zu wollen, oder solange geübt hat, bis es nicht mehr des Wollens bedarf. Vom Tänzer oder Schauspieler wissen oder ahnen wir, wie viel Mühe es bereitet, die Rolle so zu spielen, dass sie "echt" wirkt. Anders kleine Kinder. Sie sind die natürlichen Schauspieler, weil für sie Imaginäres und Wirklichkeit unbewusst ineinander übergehen. Wir, die Erwachsenen, legen diese Gehabe nicht ab, sondern stehen, wenn auch unbewusst, zwischen beiden Polen. Realität ist das sicher Machbare, Wagnis der Reiz am Spiel, am Ungewissen oder am Risiko.

Das Wechselspiel zu beweisen ohne die Versuchspersonen in die Rolle des bewusst Übenden zu bringen, kann nicht allein mit Feingefühl erreicht werden. Die Wissenschaftler benutzen den Weg der Überraschung. Sie machen sich das für Entscheidungstheoretiker vertraute Modell mit den Murmeln zunutze und überlassen die Versuchspersonen ihrem Spieltrieb. Jeweils 30 roten, blauen und gelben Kugeln werden verschiedene Beträge zugeordnet. In der einen Prüfserie bestehen Unterschiede in der Varianz und damit die Chance, mehr oder weniger riskante Entscheidungen zu treffen. In der zweiten Prüfserie bleibt die Varianz zwar rechnerisch konstant; für die Testperson ist dieser Effekt vordergründig allerdings nicht erkennbar.

Folglich entspricht die zweite Konstellation der Entscheidung unter Sicherheit. Zunächst werden die Versuchspersonen, neun Medizinstudenten, mit rationalen Argumenten in Stimmung gebracht. "Wie groß ist der Gewinnerwartungswert beim Einsatz der verschiedenen Beträge?"

Und siehe da, die Bereitschaft zum Risiko wächst und macht Freude. José V. Pardo und seine Gruppe haben sich auf wirtschaftliche Entscheidungen verlegt, weil sie aus dem täglichen Leben gegriffen sind, keiner besonderen Motivation bedürfen und das Risiko beziffern, nämlich am Gewinnverlust. Ihre Ergebnisse bestätigen zum einen das von Howard Raiffa in den 70er Jahren mit anderen Methoden gefundene Phänomen, wonach selbst bei vorsichtiger Bewertung die positive Gewinnerwartung höher eingeschätzt wird als es die mathematisch errechenbare Wahrscheinlichkeit erwarten lässt. Sobald Risiko ins Spiel kommt, gewinnt der kleine Teufel die Oberhand. Die Erwartungshaltung und nicht rationale Gründe werden beherrschende Kräfte. Und schon beginnt die Änderung der Hirndurchblutung. Wobei das Risiko wie die Abbildungen zeigen, mehr Gehirn aktiviert als die Entscheidung auf sicherem Boden.

Ergeben sich aus der wissenschaftlichen Ergebnissen praktische Konsequenzen? "Gewiss," sagte José V. Pardo,

das lebende Beispiel ist der Geldmarkt. Da gibt es feste staatliche Anleihen, Optionsscheine und viele institutionell verwaltete Aktien und Fonds. Bisher wissen wir nicht, worauf sich das Interesse an den Unterschieden wirklich gründet. Vielleicht ist in der Wirtschaft der Anreiz zum Spielen ein wichtiges Moment, für die Anbieter ebenso wie für die Käufer.

Monopoly und andere Spiele kommen in den Sinn: anfänglich harmlose Zeitvertreiber, dann mitreißend und schließlich süchtig machend. Folgt man der Hirndurchblutung, dann wächst sich der Reiz am Risiko zum Kick aus, indem er Spannung und Wohlbefinden stimuliert. Möglicherweise liegt darin das Geheimnis der Spielsucht: der abhängige Spieler braucht die Streicheleinheiten in seinen Hirnzentren so wie ein Drogensüchtiger das Eintauchen in seine imaginäre Welt. Für die Wissenschaft ist die Spieltheorie zur Forschungsrichtung geworden, weil sie die menschlichen Reaktionen weniger abstrakt abbildet als philosophische und psychologische Erörterungen.

Durch die PET-Analysen ist aus Sicht der Neurophysiologen die Kalkulierbarkeit keineswegs mathematisch wertfrei wie mancherorts vermutet.

Das Problem ist, dass unser Verhalten vom Unbewussten zum Bewussten geführt wird, indem sich natürliche Regeln abstrahieren. Der Prozess läuft ebenso umgekehrt, weil rationale Entscheidungen ins Unbewusste mitgenommen werden, sozusagen als Anpassungseffekt.

Mit dieser Erklärung versucht José V. Pardo deutlich zu machen, dass es Stimmungen und ein Hin- und Herschwingen mit nicht erkennbaren Auswirkungen auf das Verhalten gibt. Die Überhitzung der Wirtschaft vor der gegenwärtigen Rezession war die Phase des hinteren Gehirns, die schließlich auch die rational Denkenden mitriss.

Noch können wir nur spekulieren, welche Auswirkungen der Reiz zum Risiko jenseits der Ökonomie hat. Allerdings mehren sich die Meinungen, wonach das Machtgefühl von Politikern und der Machtrausch der Despoten nicht nur psychopathologisch im Sinne Sigmund Freuds interpretiert wird, sondern als bewusste Herausforderung des Schicksals. Möglicherweise brauchen Machtmenschen den zur Schau gestellten Wagemut und gelegentlich den Krieg als ultimativen Kick.