Wenn Wälder für Windkraft weichen müssen
Klimakrise, Artensterben und die Suche nach intelligenten Lösungen: Ob Windkraftanlagen in gesunde Wälder gebaut werden dürfen, ist eine grundsätzliche Entscheidung
Der Reinhardswald ist mit 20.000 Hektar das größte zusammenhängende Waldgebiet in Hessen. Mit seinem Artenreichtum bildet er das Herzstück des 445 Quadratkilometer großen gleichnamigen Naturparks. In ihm tummeln sich weißes Rotwild sowie zahllose seltene, geschützte Käfer- und Fledermausarten, Schwarzstörche und Wildkatzen. Die Wege sind von bis zu 600 Jahre alten Hute-Eichen, Baumriesen und mystischen Totholzgebilden gesäumt.
Unterhalb der angrenzenden Sababurg leben auf einem 1.300 Hektar großen Wildnisgebiet Tiere verschiedenster Arten. Im Urwildpark, im Schatten mächtiger alter Eichen. weiden Wisente und Heckrinder gemeinsam mit Hirschen und Wildpferden. In naturnahen Gehegen leben Wölfe, Luchse, Vielfraße und Fischotter. Neben Schwarzstörchen, Grau- und Schwarzspechten sowie Wildkatzen gibt es dort mehr als zehn baumbewohnende Fledermausarten. Die vielen alten Bäume dienen Hirschkäfern als idealer Lebensraum.
Jahrzehnte nach seiner Bejagung brüten erstmalig wieder Kraniche im Rheinhardswald, meldete kürzlich erfreut das Forstamt Reinhardshagen. Mit dem angrenzenden Bramwald sowie dem Solling umfasst die bewaldete Region rund 650 Quadratkilometer in weitgehend industriefreier Umgebung. Die Offenflächen sind besonders für Groß- und Greifvögel als Nahrungshabitate attraktiv.
Insgesamt umfasst der hessische Staatswald 342.000 Hektar - mehr als 16 Prozent der Fläche des hessischen Bundeslandes. 20.000 Hektar sollen anstatt für die Holznutzung für die Lebensgemeinschaft der Alt- und Totholzphase zur Verfügung stehen, heißt es in den Naturschutzleitlinien von HessenForst von 2011. Altholzinseln im Umfang von einem Hektar erfüllen als Trittsteinbiotope für Höhlen- und Horstbrüter im Wald eine wichtige Funktion.
Der Wald soll Trinkwasserreservoir sein sowie Rückzugsraum für Wildtiere und seltene Wildpflanzen. Er soll Staub filtern und das Mikroklima herunterkühlen. Von industrieller Nutzung ist in den Leitlinien keine Rede. Im Gegenteil - laut der Nationalen Strategie zur Biologischen Vielfalt sollte sich die Natur bis 2020 auf zwei Prozent der Landesfläche ungestört entwickeln können. In Hessen wurde dieses Ziel mit gerade mal 0,5 Prozent deutlich verfehlt. 50 Prozent des Waldes sollten unter Naturschutz stehen, fordern ortsansässige Waldschützer - allein schon, um die Biodiversitätskrise zu bewältigen.
Windkraftanlagen im Naturparadies?
Geht es nach der hessischen Landesregierung, so wird dieser Wunsch wohl nicht in Erfüllung gehen - zumindest nicht, was den Reinhardswald angeht. Seit einiger Zeit gibt es Pläne, auf 17 sogenannten Vorrangflächen 50 Windkraftanlagen zu bauen. Dem Regierungspräsidium Kassel zufolge sollen rund 2000 Hektar des Waldes bebaut werden.
Ähnlich wie in anderen Forsten wurden auf rund 6000 Hektar Fichten gepflanzt. Sie machen etwa ein Viertel des gesamten Baumbestandes aus. Doch in Folge der letztjährigen Stürme und Dürren sowie des nachfolgenden Borkenkäferbefalls starben die Fichten weitgehend ab. Um so viel Holz wie möglich zu verkaufen, ließ HessenForst die betroffenen Flächen mit schweren Maschinen befahren und kahlschlagen.
Es seien nur solche Flächen betroffen, die der Mensch vor Jahrzehnten mit nicht heimischen Nadelbäumen falsch bewirtschaftet habe und die durch Windbruch, Trockenheit und Borkenkäfer bereits stark geschädigt oder abgestorben seien, hieß es von Seiten des Forstamtes. Diese Standorte werden für Windkraftanlagen favorisiert. Nur "wenige Bäume" - genauer gesagt 5.000 - müssen gefällt werden, um die 18 ersten Anlagen zu bauen. Die Eingriffe in der Fläche seien im Verhältnis zur Gesamtgröße des Reinhardswaldes gering.
Der Wald ist kein Industriestandort
Prof. Pierre Ibisch von der Hochschule für nachhaltige Entwicklung Eberswalde sieht das anders. Gerade in Zeiten des Klimawandels und bedrohlichen Artensterbens sei der Wald unverzichtbarer Naturraum, der nicht nur vor weiterer Zerstörung zu bewahren, sondern künftig weit mehr unter ökologischen Aspekten zu betrachten sei. Ein gesunder Wald kühlt bei großer Hitze nicht nur die Temperaturen herunter, er kann auch Verdunstung reduzieren und Ökosysteme stabilisieren.
Dies ist bedeutsam für Gesamtlandschaft und Wasserhaushalt, heißt es in einem kürzlich veröffentlichten Konzept zur Förderung der Funktionen und Leistungen von Waldökosystemen, an dem auch Pierre Ibisch mitwirkte. Bei dichten, biomassereichen Wäldern die Kühlungsfunktion im Sommer besonders gut ausgeprägt. Für den Bau von Windrädern werden Trassen in die Wälder gebaut.
Durch die schweren Maschinen werden die Waldböden verdichtet. Infolgedessen wird die Wasserspeicherfähigkeit der Böden reduziert, argumentiert der Wald-Experte. Rein unterirdisch werde das Ökosystem zerschnitten. Auch oberirdisch werden die Bäume anfälliger gegenüber Windwurf. Mit der Bebauung werde auf den sonnen- und windexponierten Kammlagen die Naturverjüngung, aber auch das Anwachsen von Pflanzungen erschwert, kritisieren die Naturschützer, denen es nicht nur um den Bau der geplanten 18 Anlagen geht.
Doch könnte deren Bau der "Türöffner" für weitere Bebauungsplanungen sein. Sind die ersten Windräder erst einmal mitten im Wald installiert, gilt dieser als "vorgeschädigt". Damit verlöre der Wald seinen Schutzstatus und damit seine hohe ökologische Wertigkeit, ist die Befürchtung. Weitere Schneisen etwa für Hochspannungsleitungen und sonstige Maßnahmen sind dann vorprogrammiert.
Windkraftanlagen im Schwachwindgebiet?
Hessische Wälder machen mit rund 894.000 Hektar etwa 42 Prozent der Landesfläche aus. Etwa 80 Prozent der Windvorrangflächen liegen in den bewaldeten Höhenlagen. Weil ein Großteil der Waldflächen einem besonderen Schutz unterliegt und daher für die Windkraft entfällt, wird von einer verfügbaren Waldfläche von 550.000 bis 600.000 Hektar ausgegangen, heißt es im Faktenpapier des Landes Hessen.
Ungeachtet dessen sollen 80 Prozent der 2.300 bis 2.800 geplanten Windkraftanlagen auf den hessischen Windvorrangflächen mitten im Wald stehen. Damit werde eine Fläche von 1.100 bis 2.200 Hektar des Waldes beansprucht, konstatieren die Ausbau-Gegner. Demnach könnten auf 100 Hektar durchschnittlich fünf Anlagen entstehen, mit bis zu 260 Metern Höhe und 160 Metern Rotordurchmesser. Bis zu 1500 Anlagen könnten in die hessischen Wäldern gebaut werden.
Hinzu kämen Rodungen für kilometerlange Zufahrtsstraßen zu den Anlagen. Für die ersten 18 Windkraftanlagen im Reinhardswald werden 14 Kilometer Straßen beansprucht. Dies beträfe auch den Naturpark Reinhardswald, wo sich rund 3000 Hektar, etwa 6,5 Prozent der Naturparkfläche, auf 17 Gebiete zur Bebauung mit Windanlagen verteilen. 2000 Hektar liegen mitten im Reinhardswald.
Überwiegend an der Naturparkgrenze zu Nordrheinwestfalen stehen bereits 41 Windanlagen in Naturparkgebieten. Obwohl alle ausgewiesenen Flächen Schwachwind-Gebiete sind, werden diese paradoxerweise besonders hoch subventioniert, wundern sich die Windkraftgegner. Der Energieertrag der Windräder sei zweifelhaft. Abgesehen davon, dass die riesigen Windräder nicht nur das einzigartige Landschaftspanorama, sondern auch die Zukunftsperspektive einer ganzen Gegend zerstören, die als strukturschwache Region auf den Tourismus angewiesen ist.
Weil der Reinhardswald in Landesbesitz ist, haben die direkt betroffenen Gemeinden und Bürger keine Möglichkeit einzugreifen, etwa durch ein Bürgerbegehren. Zehntausende Proteststimmen werden von der Landesregierung bis heute ignoriert, klagt die Bürgerinitiative Rettet den Reinhardswald.
Windenergie auf konfliktfreien Standorten
Um die Klimaschutzziele bis 2030 zu erreichen, müssen optimalerweise 105 Gigawatt an Windenergieleistung installiert sein. 1,3 Prozent der Landesfläche müssten dafür verbaut werden, rechnet das Kompetenzzentrum Naturschutz und Energiewende vor. Der tatsächlich freie und verfügbare Flächenanteil an rechtskräftig ausgewiesenen Flächen beträgt aktuell 0,52 Prozent der Landesfläche, das dort erzielbare Leistungspotenzial etwa 20 Gigawatt.
Wollte man bis 2030 nur das aktuelle Ausbauziel von 71 Gigawatt erreichen, würden 0,8 Prozent benötigt. Das Umweltbundesamt geht sogar von zwei Prozent der Landesfläche aus. Dies müsse auf "geeigneten, konfliktarmen Flächen" umgesetzt werden. Finden sich nicht genügend geeignete Flächen, so soll das jeweilige Land zeitnah mit anderen Ländern auszuhandeln, wie das Flächendefizit ausgeglichen werden könnte.
Gibt es überhaupt Orte, an denen Windkraftanlagen weder Anwohner stören, noch Wälder beziehungsweise Naturschutzgebiete beeinträchtigen? Mit dieser Frage beschäftigte sich ein Wissenschaftler-Team des Instituts für Umweltplanung der Leibniz Universität Hannover (LUH). Auf einer Deutschland-Karte markierten die Forscher diejenigen Flächen, auf denen die Anlagen weder Natur noch Biodiversität stören. Diese bezeichneten sie als "Flächen mit geringem Raumwiderstand".
In dieser Kategorie scheiden Naturschutzgebiete und Nationalparks als Standorte aus. Zudem werden die zwischen den Anlagen und Siedlungen gesetzlich vorgeschriebenen Abstände eingehalten. Unter dieser Voraussetzung eignen sich nur 1,5 Prozent der Gesamtfläche zur Installation großer Windkraftanlagen. Hinzu kommen 2,3 Prozent der "Flächen mit mittlerem Raumwiderstand". Hier ist eine Windenergienutzung unter Anpassung an spezifische Standortgegebenheiten voraussichtlich naturschonend möglich.
Entsprechende Karten entwarfen die Wissenschaftler auch für einzelne Bundesländer. Demnach gibt es im waldfreien Nordthüringen ein großes Flächenpotenzial für den Bau von Windkraftanlagen. Anhand der Karten, so hoffen die Forscher, ließe sich künftig besser entscheiden, an welchen Orten Windkraft sinnvoll ist oder wo besser auf Photovoltaik eingesetzt werden sollte.
Die Energiewende - eine Herausforderung
Landauf, landab - so viel ist klar - sind "verspargelte Landschaften" nicht besonders populär. Allerdings dürfte eine Atommüll-Deponie am Rande des eigenen Wohnortes noch weniger Begeisterung auslösen. Und wer siedelt schon gerne um, weil unter dem eigenen Haus "wertvolle Braunkohle" entdeckt wurde? Dass ausgerechnet Wälder für den Braunkohletagebau weichen müssen, stößt in der Gesellschaft ohnehin zunehmend auf Kritik.
Der Streit um den Hambacher Forst ist ein Beispiel dafür. Es gebe zwei große ökologische Krisen auf dem Planeten, die gemeinsam gelöst werden müssten, erklärte die Grünen-Politikerin Steffi Lemke kürzlich. Beide - die Klimakrise und das Artensterben - bedrohen unsere natürlichen Lebensgrundlagen. Die jüngst ernannte Bundesumweltministerin warnte davor, in der Debatte über den Ausbau von erneuerbaren Energien den Klimaschutz über den Artenschutz zu stellen.
Klar ist: Die Verbrennung fossiler Energieträger können wir uns künftig nicht mehr leisten. Klar ist aber auch: Wir brauchen gesunde Wälder und zwar umso mehr, je mehr Bäume durch Dürren und Schädlingsbefall absterben. Denn Laubmischwälder, die Dürren, Stürme und Schädlinge bisher überlebt haben, könnten auch künftig einen Beitrag leisten - nicht nur zur Erhaltung der Artenvielfalt, sondern auch zum Klimaschutz. Werden sie für den Bau von industriellen Windrädern gerodet, könnten die angestrebten Klimaschutzeffekte geringer ausfallen.
Es geht also darum, Standorte zu finden, an denen ökologisch wertvolle Refugien so wenig wie möglich beeinträchtigt werden. Dafür müssen wir Kompromisse finden, mit denen alle Beteiligten leben können. Entsprechend hoch sollte die Bürgerbeteiligung sein, wenn über den Bau von Windkraftanlagen oder Windparks entschieden wird.
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