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Wenn bestimmte Stadtbewohner unsichtbar werden

Demonstration "Wem gehört die Stadt?" am 28.September in Berlin. Bild: B. v. Criegern

Stadtumstrukturierung in den Großstädten bringt zunehmend die Verdrängung Armer und Großprojekte bis hin zur "Deurbanisierung"

Dass Wohnraum in den Innenstädten knapp wird, hatten die großen Parteien bei ihrem letzten Wahlkampf zum Thema gemacht. Natürlich zählte dabei stark der Image-Faktor. Wie viel etwa aus dem SPD-Programm bezüglich Wohnpolitik umgesetzt oder bald verrauchen wird, bleibt offen. Nachdem aber der Kahlschlag mit Privatisierungen passiert ist, darf man sich nur auf kosmetische Veränderungen einstellen.

Bei Wohnungsnot besonders für die Erwerbsarmen und Erwerbslosen ist auffällig, dass es um eine Not geht, die sich nicht auf nationale oder urbane Eigenheiten beschränkt, sondern offenbar mit globalen Vermarktungstendenzen zu tun hat: Die Not spanischer Einwohner unter Hypothekenlasten zeigte das ebenso wie die Proteste für Wohnraum bei Occupy in Tel Aviv vor zwei Jahren und auf dem Taksim-Platz in Istanbul dieses Jahr. In Istanbul wird eine brutale Verdrängung von Armen aus der Innenstadt zentralisiert von der AKP-Regierung betrieben und von keinerlei sozialen Maßnahmen begleitet. Hier geht es um staatliche Politik für Profitgeschäfte bei Bauprojekten.

In Berlin wurde liberale Stadtumstrukturierung betrieben: Seit den 1990er Jahren verkauften Stadtregierungen öffentliche Liegenschaften und Wohnungen an Investoren. Die Stadt im Zeichen des globalen Wettbewerbs und der Spekulationsgeschäfte hat sich deutlich gewandelt. Aber seitens der CDU und SPD will man nicht zu den Folgen der Vermarktung bekennen. In den Stellungnahmen im Wahlkampf wurden Bevölkerungsentwicklung und einige "Versäumnisse" als Grund genannt. Man spricht auch gerne von der Attraktivität Berlins für Zuwanderer.

Wenn Möglichkeiten für Stadteinwohnerschaft beschränkt werden

Manche Prozesse tragen die Züge einer "Deurbanisierung". In dem Essay aus diesem Jahr: "Does the city have speech?" [1] verwendet die Soziologin Saskia Sassen den Begriff "deurbanizing" für einen Prozess bei zeitgenössischen globalen Tendenzen von Stadtstrukturierungen. Zugleich erforscht sie das Verhältnis von Subjekt und Politik, Stadtbürger/in ("citizen") und Regierungstechniken. Sassen macht deutlich, dass urbanes Potential zwar immer ein umkämpftes Feld war.

Die Rolle der Stadteinwohnerschaft gegenüber politischen Konzepten vor dem Hintergrund historischer Beispiele wird in dem Essay ausgelotet und gezeigt, dass die nicht-geplanten, freiheitlichen Praktiken der Stadteinwohnerschaft im "unvollkommenen System Stadt" urbane Tatsachen schaffen. Zum Beispiel sei ein Platz "nicht einfach nur ein Platz", sondern hinzu kam bei der herkömmlichen Bedeutung von "Stadt", welche Anwohner in welcher Weise den Platz mit Bedeutung erfüllen (oder nicht).

Aber Sassen verweist auch darauf, dass die Möglichkeiten des Stadtbürgers bedroht seien, wenn "akute Prozesse, die Städte deurbanisieren", umgesetzt werden:

Unter diesen Kräften der Deurbanisierung sind in der gegenwärtigen Zeit extreme Formen der Ungleichheit, die Privatisierung von urbanem Raum mit ihren verschiedenen Verdrängungen und die rasche Ausbreitung von massiven Überwachungssystemen in den am meisten "fortgeschrittenen" Demokratien weltweit. Diese Kräfte bringen das Sprechen der Stadt zum Schweigen und zerstören städtisches Potential.

Hier geht es nicht etwa um Verschwörung; Sassen zeigt einen Umbruch bei der Bedeutung von "Stadt" und eine umfassende Entwicklung, die größere Maßstäbe mit sich bringt, als es uns lokale Politiker oft darstellen möchten. Eingebettet ist die Entwicklung in Transformationen der Stadt im kapitalistischen Kontext bis heute. "Beispielsweise hat heute das Wirken der großen Firmen für Deregulierung, Privatisierung und neue fiskalische und monetäre Politiken in globalen Städten Form und Konkretheit angenommen." Dabei steht auch die Sichtbarkeit von bestimmten Schichten auf dem Spiel, wie es nicht in der traditionellen Stadt der Fall war. In diesem Zusammenhang sieht Sassen Occupy und neue Formen von Protestkundgebungen bis in den Mittelstand hinein wirken: "Präsent, sichtbar füreinander zu werden, kann den Charakter von Machtlosigkeit verändern." So könne auch Politik von unten bewirkt werden.

Etwa bei der Demonstration in Berlin zum Thema "Wem gehört die Stadt?" mit rund 2500 Teilnehmern während des bundesweiten Aktionstags am 28. September sah es nicht so aus, als wollte man moralisch an die Politik appellieren. Es ging offenbar darum, präsent zu sein, da Randgruppen und Arme alltäglich immer mehr ausgegrenzt werden. Entgegen der Marktlogik meldete man grundlegenden sozialen und kulturellen Bedarf an. Zu den Teilnehmenden zählten Mietergemeinschaften gegen Verdrängung aus Kreuzberg ("Kotti und Co" [2]) und Pankow, die Kampagne "Zwangsräumungen verhindern" [3], Aktivisten des Refugee-Protestcamps am Oranienplatz, Studenten, die den Bau von studentischen Wohnheimen forderten und Teilnehmern aus selbstverwalteten Kulturprojekten wie der "Linienstraße 26" und der "KvU- Kirche von unten".

Doch bespricht die Stadtregierung Wohnungsnot auf ihre eigene Weise. Kürzlich wurden zwar in Berlin von CDU- und SPD-Sprechern überteuerte Mieten als Problem anerkannt. Man versprach, dass gesetzliche Reparaturen abhelfen könnten. Aber der größte Mechanismus seit Jahren, Privatisierungen und die Ermöglichung von Spekulation mit Stadtraum in Krisenzeiten, blieb vernebelt. Erklärt wird Wohnungsknappheit mit "Versäumnissen", und gerne wird auch mit der Attraktivität Berlins für Neu-Berliner argumentiert. Demnach würden vor allem Bevölkerungsentwicklung und etwas Marktgeschehen die Stadtentwicklung steuern. Das hört sich nach "Diversity" an und passt recht gut zu Darstellungen der Berliner Freizeit-Industrie. Wer denkt da noch daran, dass Stadtumstrukturierung zu großen Teilen top down umgesetzt wurde und mit Wohnverhalten von unten nichts zu tun hatte?

Der öffentliche Wohnungsbau wurde beispielsweise seit 2003 stark reduziert auf etwas mehr als 3.000 Wohneinheiten jährlich. Zugleich wurden öffentliche Liegenschaften und Wohnungen zügig privatisiert; Grundstücke gingen an den Höchstbietenden, fast gänzlich ohne soziale Auflagen für den Käufer. 85.000 Wohnungen aus landeseigenem Bestand verkaufte der alte CDU-SPD-Senat. Ab 2004 gab die SPD-Linke-Regierung weitere 150.000 öffentliche Wohnungen für Finanzinvestoren frei, deren bekanntestes Beispiel der Investmentfonds von "Cerberus" war.

Die Politik für den "Abschied vom sozialen Auftrag" dokumentiert die "Berliner Mietergemeinschaft" ausführlich in ihrer Zeitung "Mieterecho" vom August 2009 und auf ihrer Wwbsite [4]. Zuletzt behielt auch der neue CDU-SPD-Senat den Kurs bei, etwa mit der Fortführung des "Mediaspree"-Projekts. In seine Zeit fallen auch die mit zunehmender Härte - etwa bei der Räumung der Familie Gülbol in Kreuzberg - durchgeführten Zwangsräumungen [5].

Berlin: Angekurbelter Markt in der Innenstadt und keine Mietenregulierung

Im Wahlkampf beschwichtigte die SPD, man werde "manche Versäumnisse" bei der Wohnungspolitik nachholen: So äußerte der Berliner Senator für Städtebau Müller (SPD) am 2. September für das RBB-Fernsehen, man würde wieder mehr Wohnungen für moderate Mieten bauen: "für künftige Generationen in den nächsten zehn, fünfzehn Jahren". Gemäß dem bundesweiten Programm der SPD sollen "30 Prozent des öffentlich geschaffenen Wohnraums mit einer Sozial- und Belegungsbindung versehen" werden. Heißt: Neue Aufforstung, nachdem der große Kahlschlag für den freien Markt erfolgte.

Da sind schon große Hoffnungen an einen neuen Bauboom zu richten. Übrigens könnten z.B. in Berlin Sozialwohnungen fast nur noch in Randbezirken entstehen. Vor zehn Jahren hatte man mit Finanzsenator Thilo Sarrazin (SPD) den sozialen Wohnungsbau [6] eingestellt, 28.000 Mietverhältnisse wurden nicht mehr subventioniert. Und in der Innenstadt kamen bei der Liberalisierung und der Privatisierung vieler Objekte Teuersanierungen oder Bebauung mit Luxuswohnungen, auch Umwandlungen von Miet- in Eigentumswohnungen. Ganze Bevölkerungsteile tauschten sich in den Bezirken Mitte und Prenzlauer Berg durch die Gentrifizierung aus, von Bewohnern, die hier vor dem Mauerfall wohnten, blieben nur 20 Prozent bis 2011 ("Mieter-Echo" Dezember 2011).

Zugleich setzte die Stadtregierung auf kreatives Marketing und Freizeitindustrie als neuen Wirtschaftszweig und warb systematisch für den Zuzug großer Firmen und freiberuflicher Kräfte. So wurden u.a. frühere Wohnbezirke wie Kreuzberg und Neukölln zunehmend zu Erlebnisbezirken - mit entsprechender Aufwertung und Verteuerung. In Neukölln, früher bekannt als Armen-Bezirk, wurde wohnungspolitische Aufwertung hier deutlich von ordnungspolitischen Konzepten begleitet. Das Buch des Bezirksbürgermeisters Heinz Buschkowsky "Neukölln ist überall" liefert indirekt auch ein Dokument dazu.

Buschkowsky thematisierte "Problemgruppen" und vermeintliche Hartz IV-Erschleichung, und er erklärte sich unzufrieden mit den vorhandenen Sozialprogrammen. Er wollte mehr ordnungspolitische Instrumente bei Leistungsbeziehenden. Indem er wiederholt kollektive Zuschreibungen und Verdächtigungen vor allem gegenüber Einwanderern anwandte, bemüht er im Buch rassistische Klischees. Kritiker seines Buches befanden [7], dass er Racial Profiling und Stimmungsmache ermögliche.

Eine von der SPD versprochene Mieterhöhungs-Obergrenze bei Neuvermietungen würde die Mietenspirale nach oben gesetzlich verlangsamen. Das käme etwas spät. Der Standard in vielen Innenstädten liegt bereits zu hoch für Billigjobbende und Erwerbslose. Mit erstaunlichem Gleichmut nahm z. B. die Senatorin für Stadtentwicklung, Ingeborg Junge-Reyer (SPD), Mietsteigerungen [8] hin - über Jahre. Dabei wollten Berliner Mieterverbände schon 2007 über engere Bemessungsgrenzen beim Wert "ortsüblicher" Mieten (mit jährlichem offiziellen "Mietspiegel") verhandeln. Junge-Reyer verwies immerzu auf die "Nachfrage am Markt", und außerdem: Berlin sei ja im Vergleich zu München noch moderat. Über Instrumente zur Mietenregulierung wollte sie nicht nachdenken, wie der Stadtsoziologe Andrej Holm [9] schon 2008 in der Zeitung "Analyse und Kritik" monierte.

Deutlich top-down konzipiert war auch das Prestige-Projekt für kommerzielle Stadtstrukturierung "Mediaspree" am Spreeufer im Osten der Stadt (Friedrichshain-Kreuzberg). Seit 2007 sollten Flächen in Ufernähe für Investoren freigegeben werden, eine neue Anlage mit Firmenquartieren, Büros und Hotels war geplant. Der Bau der Event-Großhalle "O2-World" samt Großparkplatz der Investorengruppe mit Aufsicht des US-Unternehmers Anschutz war damals schon beschlossen und wurde umgesetzt.

Demonstration "Wem gehört die Stadt?" am 28.September in Berlin. Bild: B. v. Criegern

Zahlreiche Anwohner wendeten sich in der Kampagne "Mediaspree versenken" [10] gegen die Ausweitung der Bebauung und stellten den Bürgerentscheid "Spreeufer für alle" auf. Man forderte u. a. einen mindestens 50 Meter breiten unbebauten Uferstreifen und die Einhaltung der Berliner Traufhöhe (22 Meter). Doch der Senat wollte sich nicht an den Bürgerentscheid binden. Das liegt nun fünf Jahre zurück, seitdem wurde die Vertriebszentrale von Daimler Benz errichtet - wie die O2-Halle kann sie die Nähe zum bekannten Mauerstreifen "East Side Gallery" mit den weltberühmten Graffiti als einen Publikumsmagneten nutzen. Heute entstehen auf dem Plangebiet auch ein 63 Meter- Hochhaus für Eigentumswohnungen sowie ein Einkaufszentrum.

Verdrängt werden Erwerbsarme durch die angekurbelten Preise am Wohnungsmarkt. Und gegen die bloße Anwesenheit von Armen wendete sich eine Vermieterin sogar, obwohl sie zahlten. Letzten September kündigte eine Vermieterin in der Prenzlauer Allee (Prenzlauer Berg) dem Obdachlosen-Selbsthilfeverein "Mob e. V.- Obdachlose machen mobil" [11] und begründete, der Bezirk sei schick geworden und der Verein passe nicht mehr hierher. Im stadtbekannten Verein konnten sich Obdachlose mit dem Verkauf der Zeitung "Straßenfeger" etwas Geld verdienen; im Haus betrieb "mob e.V." jahrelang die Zeitungsredaktion, ein Obdachlosencafé und eine Übernachtungsetage. Hier wurde offenbar eine sozialfeindliche Komponente der Aufwertung formuliert, wenn nach Art von Klassendenken die bloße Anwesenheit von Armen nicht mehr geduldet wird. Ihre Sichtbarkeit störte.

Istanbul: Projekte vom Reißbrett gegen Stadtbewohner

Und das sichtbare Wirken ist die Form, mit der StadtbürgerInnen (bisher) eine wichtige Funktion im komplexen System Stadt einnahmen, folgt man Saskia Sassens Ausführung ("Does the city have speech?"). So definiert sie für die sprechende Stadt: "Eine erhellendere Form des Sprechens ist das Erwirken von Präsenz... Es geht um die Möglichkeit, präsent zu werden, wo Abwesenheit und Stille herrschen." Von bestimmten Schichten muss die Präsenz zunehmend (zurück)erkämpft werden. Besonders, wenn städtisches Potential zum Schweigen gebracht wird mit der Ausweitung von Luxusgebieten und Armutszonen. In Istanbul und landesweit in türkischen Städten ist das bei Stadtumstrukturierungen der Fall. "Deurbanisierung" kam auf der ganzen Linie seit den 2000-er Jahren und der zentralen Aufsicht der Wohnungsbaupolitik durch die staatliche TOKI-Behörde des Premierministers Tayyeb Recep Erdogan.

Aber die politischen Verfechter des totalumfassenden Baubooms sprechen dabei von Zukunftsfähigkeit und Europäisierung. Wie Yasar Adnan Adali in "Istanbul brennt" http://www.monde-diplomatique.de/pm/2013/07/12.mondeText.artikel,a0034.idx,8 in der Le Monde Diplomatique (Juli 2013) berichtete, setzte die AKP-Regierung seit ihrem Regierungsantritt 2002 auf Mega-Investitionen und gewaltige Projekte als maßgebliche Konjunkturrettung des Landes. Sie intensivierte dabei die neoliberale Politik, mit der schon seit 1980 Immobilien für Spekulationsgeschäfte umgewandelt wurden- damals mit großen Haushaltsverlusten durch Bauprojekte. In Istanbul sollen jetzt in zahllosen Projekten öffentliche Flächen zu städtischen Quartieren umgebaut und verkauft werden; man betont die "Entwicklung" und die internationale Ausrichtung. Vom autoritären Staat werden städtische Zonen "freigemacht" für profitträchtige Investitionen.Dabei wurde die Metropole zu "einem kommerziellen Zentrum, wo die Fäden der globalen Ökonomie zusammenlaufen", schreibt Adali. Arme EinwohnerInnen werden aus der Innenstadt vertrieben. So verplante man "vom Reißbrett" das Viertel Tarlabasi, "ohne Respekt für historische und kulturelle Bezüge". Hier hatte die ärmere Bevölkerung seit den 60-er Jahren Nachbarschaftsstrukturen entwickelt. Kurden und Roma aus Tarlabasi wurden seit 2006 zum Wegzug gezwungen, als die Regierung begann, 278 Grundstücke zu Sanierungsgebieten auszuweisen. Die "Sanierung", meistens mit großflächigen Abrißaktionen, läuft über Public-private-partnership.

Vertreibung und Verschuldung von Roma-Bevölkerung

Die dramatischen Ereignisse der Sanierungsprogramme in den Vierteln Tarlabasi und Sulukule [12] können in dem Film "Ekümenoüpolis" [13] von 2011 verfolgt [14] werden: Bulldozer der Baugesellschaften machen die Häuser der Viertel nieder; deren Bewohner müssen hilflos zusehen. Ohne soziale Unterstützung werden sie auf die Straße gesetzt. Der Regisseur Imre Azem beleuchtete in dem Film die wirtschaftlichen und demografischen Verhältnisse bei der städtischen Transformation im Zeichen des Wachstums.

Allen voran wurden die Menschen in prekärsten Verhältnissen von den Sanierungen bedroht, wie die Roma in Sulukule. Das großangelegte Abrissprogramm, mit dem 3.400 Roma aus ihren selbsterrichteten Häusern vertrieben wurden, resümierte [15] der Guardian 2009: Die Vorsitzende der Roma-Vereinigung für Kulturentwicklung und Solidarität beurteilte, dass mit diesem "Erneuerungsprojekt" Profite und die Vertreibung von Roma aus der Stadt angestrebt waren. Die Einwohner wurden gezwungen, ihre Häuser für 175 türkische Lira pro Quadratmeter an die Kommunalverwaltung Fatih und private Investoren zu verkaufen. Als der Abriss angekündigt wurde, appellierte Amnesty International, ohne jedoch gehört zu werden, davon Abstand zu nehmen.

Der Regisseur Azem berichtete von den Umständen der Stadterneuerungsprojekte seit 2012 in einem Vortrag über "Brutale Verdrängung in Istanbul" am 10. Oktober in Berlin (Veranstaltungsreihe "Wohnen in der Krise" der Berliner Mietergemeinschaft). Bei Sulukule am Bosporus-Ufer handelte es sich um ein kulturelles Erbe aus rund 1000 Jahren, das hier für die neuen Baustellen weichen musste. Die Einwohner hatten mit selbst errichteten Hütten, Gecekondus, hier in den 1970er Jahren zur Besiedlung beigetragen. Sie wurden geduldet und konnten beim Aufbau der Industrie als billige Arbeitskräfte dienen.

Heute wird ihre Vertreibung gewünscht. Dabei wird ohne Umstände vorgegangen. Für den Stadtumbau hat die Regierung früher kommunal verwaltete Wohnraumbehörden zentralisiert und in die staatliche Wohnungsbaugesellschaft Toki [16] überführt. Die agiert jedoch wie ein privates Unternehmen. Auch wurden seit 2006 die Gesetze geändert, um Enteignungen in kurzer Frist zu ermöglichen. Z. B. ermöglicht das Gesetz von 2012 "zum Schutz vor Naturkatastrophen" rasche Umsetzungen von Anwohnern für Stadterneuerung: "Gegen Räumungsankündigungen können nun betroffene Einwohner nicht mehr klagen, schon der Versuch wird mit Strafe bedroht".

Für durchschnittlich 40.000 türkische Lira wurde eine solche Wohnung Roma- Einwohnern abgekauft - zu wenig Geld, um damit irgendeine andere Wohnung in der Metropole zu erwerben, führt Azem aus. Für 80.000 bis 120.000 TL werde den Betroffenen dann eine neue Wohnung der TOKI-Gesellschaft am Stadtrand zum Kauf geboten. Wohngeld oder andere soziale Maßnahmen gibt es nicht. Die kostspieligen Wohneinheiten werden jedoch als "Sozialwohnungen" ausgeschildert. An den Ratenzahlungen scheitern schließlich die meisten der Betroffenen. Der Mindestlohn bei einer regulären Arbeit liege in der Türkei bei 600 TL.

"Auf diese Weise erwirtschaftet die Toki-Gesellschaft rasche Gewinne auf Kosten der Armen. Die Stadtstrukturierung des Staates führt Menschen in die Verschuldung und setzt soziale Probleme bis in nächste Generationen in Gang", führt Azem aus. 30 bis 40 Kilometer sind die Ausweichquartiere von den innenstädtischen Vierteln (Tarlabasi, Sulukule oder etwa Ayazma) entfernt. In den neu errichteten Wohnsilos von TOKI würden die Betroffenen aus ihrem gewohnten sozialen Umfeld gerissen; auch gebe es dort am Stadtrand keine Arbeitsmöglichkeiten für sie. Viele der Betroffenen kamen zurück in das alte Wohnviertel, sie verkauften die Ausweichwohnung mit Schulden weiter und waren dann wohnungslos.

In Azems Film geht der Blick auch auf Protestbewegungen auf der Straße. So wird deutlich, dass urbane Politik hier der offiziellen Politik gegenübertritt und immerhin ebenfalls Tatsachen schaffte: Sie mündete in die bekanntgewordenen Taksim-Platz-Proteste. Azem ist selbst in der "Urbanen Bewegung der Bevölkerung" IMECE tätig, die mit anderen Gruppen - insgesamt in etwa 60 Foren in Istanbul- die Verständigung bei den Verdrängungsprozessen sucht und die öffentliche Präsenz anstrebt.

In 81 türkischen Städten betreibt TOKI heute Bauprojekte. IMECE und Kulturvertreter aus Initiativen der Stadtviertel kritisieren, dass die Wohnungsbaugesellschaft nicht kontrolliert werden könne, weil sie direkt der Staatsführung unterstehe. So müsse sie auch, wenn sie das Gesetz "zum Schutz vor Naturkatastrophen" anwende, keine wissenschaftlichen Gutachten zur Überprüfung vorweisen. Mit der Aufsicht von TOKI - das sich selbst auf der Homepage als Non-Profit-Gesellschaft bezeichnet - und mit dem Ministerium für Umwelt und Stadtplanung werden Projekte im Land gesteuert, die international und auf dem Binnenmarkt das Kaufinteresse zahlkräftiger Investoren wecken sollen. Für die nächsten Projekte wurde in 2012 der Abriss von Millionen von Gebäuden im Land angekündigt [17] angekündigt.

Von einer Orientierung an der Bevölkerung habe sich die Regierung, befindet Imre Azem, seit langem abgewendet. So wären Spendengelder für Betroffene des schweren Erdbebens von 1999 nicht für den Wiederaufbau verwendet worden. Auch warteten die Einwohner der armen Provinz Van im Osten der Türkei, die 2011 von einem schweren Erdbeben heimgesucht wurde, bis heute vergeblich auf Hilfe. In der kurdisch bevölkerten Region hätten Gruppen deshalb einen Hungerstreik begonnen und forderten, dass die Regierung für einen Wiederaufbau tätig werde.

Dem entsprach auch, dass Erdogan bei seinem Auftritt gegenüber den Taksim-Platz-Besetzen seine frontale Haltung gegenüber jeder Kritik zeigte und diese als "Plünderer" (Tschapulisten) beschimpfte. Le-Monde-Diplomatique-Autor Adali, der auch bei "Reclaim Istanbul" [18] bloggt, verdeutlicht, dass das Plangeschehen bei den Baugeschäften politisch zentralisiert ist. Das erklärt auch die Medienzensur bei der Occupy-Bewegung im Gezi-Par : Polizeigewalt wurde verschwiegen, oder es wurde gar nicht erst über neueste Ereignisse am Ort berichtet. Dennoch - oder deswegen - politisierte sich die Einwohnerschaft und die Demonstranten eroberten in jenen Wochen Tarlabasi von den Bauplanern zurück. Politische Instrumente wurden angesetzt, um betroffene Bevölkerungsschichten mundtot zu machen: Es ging um Unsichtbarmachung. Allerdings wohl nicht mit dem erwünschten Erfolg für die Regierung.


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Links in diesem Artikel:
[1] http://saskiasassen.com/PDFs/publications/does-the-city-have-speech.pdf
[2] http://www.kottiundco.net
[3] http://www.zwangsräumungverhindern.blogsport.de
[4] http://www.bmgev.de/politik/wohnungspolitik.html
[5] http://www.bmgev.de/mieterecho/mieterecho-online/durchgesetzte-zwangsraeumung-ist-offenbarungseid-fuer-rot-schwarzen-senat.html
[6] http://www.sozialmieter.de
[7] http://www.taz.de/!102103/
[8] http://www.berliner-mieterverein.de/magazin/online/mm0710/hauptmm.htm?http://www.berliner-mieterverein.de/magazin/online/mm0710/071019.htm
[9] http://wiki.rechtaufstadt.net/index.php/Berlin_in_Bewegung
[10] http://www.ms-versenken.org
[11] http://www.strassenfeger.org
[12] http://reclaimistanbul.com/tag/sulukule/
[13] http://ekumenopolis.net/
[14] http://www.youtube.com/watch?v=maEcPKBXV0M
[15] http://reclaimistanbul.com/2011/11/11/the-guardian-turkish-roma-make-way-for-property-developers/:
[16] http://www.toki.gov.tr/english/eb.asp
[17] http://www.deutsch-tuerkische-nachrichten.de/thema/ministerium-fuer-umwelt-und-stadtplanung/
[18] http://reclaimistanbul.com/