Wenn das Gute doch so nahe liegt
Ist der Regionalismus eine Antwort auf die ubiquitäre Schuhschachtel-Architektur?
In einem Interview hat der französische Philosoph Tzvetan Todorov einmal formuliert:
Ohne es zu wollen und ohne es wirklich zu bemerken, sind wir eingebettet in eine ganz bestimmte, regional geprägte Kultur. Und die gibt uns die Raster vor, durch die wir die Welt sehen. Das ist so selbstverständlich, dass wir es leicht vergessen. Jede Veränderung unserer Kultur nehmen wir darum als Aggression wahr. Die Anwesenheit einer fremden Kultur bedroht uns zwar nicht wirklich. Aber anders als den schleichenden Niedergang der Wirtschaft nehmen wir sie intensiv wahr.
Diese Wahrnehmung lässt sich sehr gut auf die Architektur übertragen. Hier ist seit Jahrzehnten eine aus dem Funktionalismus abgeleitete Analyse- und Planungstechnik wirksam. Sie ermöglichte und beförderte die Herausbildung unserer heutigen Siedlungsstruktur. Und einer ubiquitären Schuhschachtel-Architektur. Wenn das (der schmerzhafte!) Ausdruck eines zivilisatorischen Prozesses ist, dann muss man heute mit anderen Augen auf unsere bauliche Entwicklung blicken. Und laut nach einer grundlegenden Reform schreien.
Liegt die Alternative vielleicht im Regionalismus? Grob vereinfacht gesagt steht dieser Begriff für eine "architektonische Sprache", die die jeweiligen traditionellen Elemente zu abstrahieren und reduzieren sucht, sie aber doch wiedererkennbar belässt.
Des Regionalismus meistzitiertes Beispiel dürfte die "Tessiner Schule" um Mario Botta, Fabio Reinhart und Luigi Snozzi darstellen, die in den 1970er Jahren in der italienischen Schweiz "ortstypische", aber dezidiert moderne Bauten schuf, welche Assoziationen zu dieser Berglandschaft bewusst auch in typologischer Hinsicht hervorrufen (wollen). Daran knüpfte man auch in Graubünden, in Vorarlberg sowie in Südtirol eine schulbildende Auseinandersetzung an, die offenbarte, dass Regionalismus viel innovatives Potenzial besitzt.
Erste intellektuelle Impulse freilich hatte das Thema bereits in den 1930er Jahren durch John Crowe Ransom erfahren. Regional war für ihn der Gegensatz zu "Progressivität, Industrialisierung, zu freiem Markt, Internationalismus, zu Eklektizismus, liberaler Erziehung, zur Weltvereinigung oder einfach zur Entwurzelung".
Aus dieser Warte wird die Region nun zu einer Figur der Randständigkeit, des Gegensatzes und der Opposition. Womit der Begriff plötzlich eine tendenziell utopistische Konnotation erfährt. Just da setzt auch der renommierte Architekurtheoretiker Kenneth Frampton an, der sich auf diesem Feld die Deutungshoheit erobert hat: Region in seinem Verständnis ist eine Art suggestives "Vorstellungsfeld", das in einer anderen Welt als der unsrigen liegt.
Die Kraft der provinziellen Kultur beruht auf ihrer Fähigkeit, das künstlerische Potential der Umgebung aufzunehmen und zugleich Einflüsse von außen zu verarbeiten.
Kenneth Frampton
Es ist der Versuch, im Zeitalter von Utilitarismus und Arbeitsteilung einen Ort zu entwerfen – eine "Region" –, in der die Architektur eine Erfahrung spiritueller Einheit ist, in der die Gesamtheit einer Gemeinschaft wiederhergestellt und die mechanischen Stereotypen der Moderne überwunden werden.
Das ist vielleicht sympathisch, aber nur bedingt realistisch. Und man schwebt in der latenten Gefahr, bloß nostalgische Assoziationen zu bedienen. Andererseits leuchtet es ja durchaus ein, sich mit den Möglichkeiten der Architektur stärker als bisher auf regionale und lokale Charakteristika zu besinnen, ohne sich den neuen Rahmensetzungen in Wirtschaft und Gesellschaft zu verschließen. Im gleichen Maße, wie die Globalisierung eine stärkere Nivellierung der Lebensumstände provoziert, scheint – komplementär dazu – das Bedürfnis nach je eigenen Kulturen und Traditionen zu wachsen.
Selbst in der drängenden Ökonomie der Zeit schwingt – in einer Art gegenläufigen Pendelschwung – die Ahnung davon mit, dass die Beständigkeit der gewohnten Räume um die Menschen herum das Aushalten von sozialen und anderen Veränderung abfedert, wenn nicht gar ermöglicht. Wenn die Zeitachse aus Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft keine sichere Orientierung mehr bietet, sucht man den Fortschritt im Bewahren.
Zumal ja Architektur, wie es der amerikanische Theoretiker Karsten Harries formuliert, "nicht nur um den domestizierenden Raum herum ist. Sie ist auch eine große Schutzmaßnahme gegen den Terror der Zeit."
In diesem Zusammenhang ist es nur scheinbar paradox, dass etwa die 1970er Jahre als hohe Zeit des Bauwirtschaftsfunktionalimus, zugleich aber als Dekade der Denkmalpflege gelten. Dem liegt vielmehr eine gewisse Logik zugrunde. Nachdem Alexander Mitscherlich sehr folgenreich die "Unwirtlichkeit der Städte" konstatiert hatte, kam den Denkmalen eine neue gesellschaftliche Bedeutung zu: Sie wurden gleichsam zu Trägern emanzipatorischer Postulate gegen eben diese Unwirtlichkeit.
Bürgerbewegungen setzten sich erfolgreich gegen Abbruch und Auskernung von Altbauten zur Wehr und bekämpften den fortschreitenden "autogerechten" Kahlschlag der Innenstädte. Gründerzeit und Historismus wurden wiederentdeckt, ihre Wohnbauten neu geschätzt.
Dass diese Art des Rückbezug nichts per se Schlechtes ist, sollte klar sein. Modern, so Cornelius Gurlitt, "modern ist der Individualismus. Man wird auf der Grundlage, dass man bloß sich für modern, die andern aber entweder für altmodisch oder irregeleitet erklärt, zu der gewünschten Volkskunst nicht kommen. Die Altertümelei ist doch auch etwas noch nie oder doch nur selten Dagewesenes; jene, die wir betreiben, die wissenschaftlich alles umfassende, ist nur unserer Zeit eigen. Das Nachahmen des Alten ist also sicher eine ganz moderne Tätigkeit."
Nicht frei von Ironie, verteidigte der Kritiker und Publizist Gurlitt schon vor gut hundert Jahren die Nachahmung des "Alten" und bezeichnet es – wenn schon nicht als innovativ, so doch – als modern. Und Bruno Taut, eines unkritischen Historismus sicherlich unverdächtig, notierte 1905 in seinem Tagebuch:
Wir Architekten gehen zur Tradition zurück. Weil wir einsehen, welche Geschmacklosigkeit durch das Opfern der guten alten Sitte im Bauen eingerissen ist.
Seine Konsequenz lautete:
Darum wollen wir wieder an das gute Alte anknüpfen und daraus gutes Neues machen.
Doch unter der gigantischen Walze der Globalisierung scheinen viele Traditionen und regionale Vielfalt komplett eingeebnet zu werden. Niemand würde die andalusischen "weißen Dörfer" in Russland, die roten schwedischen Holzhäuser in Nigeria, die pastellfarbenen italienischen Bergdörfer in Japan oder die Backsteinbauten der deutschen Ostseeküste in Südamerika verorten.
In der Moderne stehen dagegen überall auf der Welt die gleichen gesichtslosen, rundum verglasten Bürohochhäuser, in Toronto verschwenderisch beheizt, in Nairobi noch verschwenderischer gekühlt. Ihre Rundumverglasung ignoriert nicht nur das örtliche Klima, sondern auch die Himmelsrichtung und vor allem den Nord-Süd-Gegensatz von Sonneneinstrahlung und Sonnenschutz. Sie ist nichts als irrationaler Glasfetischismus. Statt einfach Vielfalt, vielfach Einfalt.
Und was die Trabantenstädte angeht, so kann man nicht ausmachen, ob sie in Warschau, Peking oder Lagos stehen. In den USA gibt es heute Leichtbauten aus Holz vor allem in Hurrikan-, Waldbrand- oder Überschwemmungsgebieten, massives, erschütterungsempfindliches Natursteinmauerwerk hingegen in Erdbebengebieten. Unsinnige antiphysikalische und antigeografische Verwechselbarkeit und Vermischung sind geradezu zum Beweis von Modernität geworden. Vielfalt ist eine Frage der geografischen Dimension. Weder das weltweite Einheitsgemisch noch die punktuelle Totalvermischung ergeben Vielfalt.
Das löst Widerstände aus, sogar aus unvermuteten Winkeln. Der französische Star-Architekt Jean Nouvel etwa sperrte sich jüngst in einem Interview gegen einen globalen Urbanismus ohne Vision: Eigentlich "geht es um die Wiederentdeckung der Kraft, der Verlockung von Orten. Das Lokale ist das Wort von morgen, nicht das Klonen lebloser Modelle". Die Architektur als orts- und geschichtsgebunden: das Hier und Jetzt, das mit dem Markt nur durch ein Verständnis von Architektur vereinbar sei, dem zufolge es keine universellen Lösungen für ökologische Fragen gebe, da die wirklich ökologische Vision den Ort berücksichtige.
Aus der Warte von Nouvel sind wir heute mehr denn je an einem Punkt angelangt, an dem die Architektur, die Rolle des Architekten, gleichsam ausgelöscht wurde. Die Bedingungen verhindern, dass die Objekte mit Rücksicht auf die Geografie bestimmt werden können.
Wir dürfen nicht Erotik und Gymnastik verwechseln: Es geht um Charakter, immer.
Jean Nouvel
Hier ergibt sich eine Querverbindung zu einem weiteren Diskussionsstrang. Nämlich zum Impuls, den namentlich Christian Norberg-Schulz mit seinem Buch Genius Loci. Landschaft, Lebensraum, Baukunst gesetzt hat (1976 geschrieben, 1979 in Italien und den USA veröffentlicht und 1982 in einer deutschen Fassung herausgegeben).
Es geht um etwas, das jeder kennt. Man kommt an einen Ort und bemerkt, dass er auf eine nicht näher zu beschreibende Weise etwas Anderes hat: eine besondere Ausstrahlung, Atmosphäre, Stimmung, die nicht unbedingt etwa mit Schönheit oder Dergleichen zu tun hat. Womit sich freilich die Frage aufdrängt, warum hat dieser Ort dieses gewisse Etwas, das ihn von anderen unterscheidet, was geht von ihm aus, was macht ihn so besonders und einzigartig? Der Schriftsteller Peter Handke antwortete einmal folgendermaßen:
Wenn ich sagen kann: Allmählich erkenne ich das Geheimnis dieses Ortes (das heißt ich erfahre seine Topographie samt Ecken, Winkeln, Flurzeichen), dann decke ich dieses Geheimnis nicht etwa auf oder verrate es, sondern behaupte es, bewahre es (gerade dann).
Peter Handke (Die Geschichte des Bleistifts, Salzburg 1982)
Wenig überraschend, dass man flugs beim "Geist des Ortes" landet. Dieser Genius Loci ist ein sehr alter, traditionsreicher Begriff, der seinen Ursprung in der Antike hat. Geprägt wurde er von den Römern. "Genius" lässt sich vom lateinischen genre (erzeugen) ableiten und bedeutet in diesem Zusammenhang so viel wie "der/das Zeugende" bzw. "der/das jenige der/das erzeugt".
Mit der Epoche der Aufklärung im 17./18. Jahrhundert ergibt sich ein gewisser Bruch mit diesem ursprünglichen, mystisch aufgeladenen Begriffsverständnis. Für den aufklärerisch denkenden Menschen waren Natur und Landschaft unbelebt und die Suche nach einem Genius Loci deshalb zwangsläufig sinnlos – Orte bekommen nur Seele und Charakter durch den sie gestaltenden Menschen. Und auch hinter dem heutigen Genius-Loci-Begriff verbirgt sich ein architektonisches Konzept, in dem versucht wird, Architektur und Landschaft wieder in eine harmonische Verbindung zu bringen.
Aus all dem muss man folgern, dass die Auseinandersetzung mit den lokalen Gegebenheiten durchaus einen architektonischen Selbstfindungsprozess manifestiert. Mit Retro-Architektur hat das nichts zu tun. Es geht eben nicht darum, ganze Quartiere mit halbverstandenen, billig imitierter Formen aus der Rumpelkammer aller erdenklichen Lokalstile zu maskieren (ob die neue Frankfurter Altstadt von diesem Verdacht freizusprechen ist?), sondern um eine eigenständige Typologie an Lösungen (wie sie etwa seit einigen Jahren in der Oberpfalz gebaut werden).
Genauso wenig darf man sich nur auf Neubauten kaprizieren, sondern sich damit auseinandersetzen, wie man in einer kleinteilig zersiedelten Landschaft die Strukturprobleme der Dorfkerne lösen kann. Nur so lässt sich das innovative Potenzial des Regionalismus tatsächlich herauskitzeln.
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