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Wenn das Klima kippt, sind Milliarden Menschen bedroht

Kalbender Hubbard-Gletscher in Alaska. Bild: Unsplash / Public Domain

Energie und Klima – kompakt: Studien zeigen, welche Folgen das Erreichen von Kipppunkten hat. Wichtige Lebensräume der Menschen sind gefährdet. Warum der Schutz des Amazonas auch Gletschern guttut.

Wir haben an dieser Stelle schon mehrfach über das mögliche Umschlagen von einzelnen Komponenten des globalen Klimasystems geschrieben. Zuletzt Anfang Januar [1].

Diverse mehr oder weniger prominente Subsysteme, wie der Westantarktische Eisschild, der Amazonas-Regenwald, die nordatlantische Austauschzirkulation – besser bekannt durch ihren Oberflächenarm, den Golfstrom, der Nordwesteuropa mit Wärmeenergie versorgt, – reagieren auf veränderte Rahmenbedingungen zwar zunächst graduell. Doch irgendwann erreichen sie Umschlagpunkte, sogenannte Tipping-Points oder Kipppunkte, an denen sie verhältnismäßig rasch und unumkehrbar in einen völlig anderen Zustand wechseln.

Die Folgen können manche Nation, oder auch die ganze Weltgemeinschaft, vor gewaltige Herausforderungen stellen. Wenn etwa in den tropischen Meeren die Korallenriffe absterben, was bei einer Erwärmung von global über 1,5 Grad Celsius geschehen wird, ist die Eiweißversorgung vieler 100 Millionen Menschen gefährdet, weil die Einbußen für die Fischerei enorm sein werden.

Oder wenn auf Grönland und in der Westantarktis im übertragenen Sinne die Eismassen ins Rutschen geraten und sich nach und nach auflösen, werden rund um den Globus, von Schanghai und Ho-Chi-Minh-Stadt über Bangkok und Mumbai bis nach Accra, Alexandria, Amsterdam und New York küstennahe Metropolen bedroht.

Rund 3,2 Milliarden Menschen leben nach Zählung der Vereinten Nationen [2] in einem 100 Kilometer breiten Küstenstreifen entlang der Weltmeere. Mehr als zehn Prozent der Weltbevölkerung [3] lebt in Städten – auch an den norddeutschen und vielen anderen europäischen Küsten –, die maximal zehn Meter über dem derzeitigen Meeresspiegel liegen. Städte, die nicht nur durch das steigende Meer, sondern auch durch die mit diesem überproportional zunehmenden Sturmfluten bedroht werden.

Seit den 1980er-Jahren ist zumindest einem Teil der Klimaforscher aufgrund der Erkenntnisse über sehr sprunghafte Klimaentwicklungen während der letzten Eiszeit bewusst, dass der Planet in den letzten 10.000 Jahren – in denen die Menschheit sesshaft wurde, gewaltig anwuchs und ihre ganze Existenz auf die Landwirtschaft begründete – ein ungewöhnlich stabiles Klima erlebt hat.

Inzwischen ist auch klar, dass nicht nur einzelne Subsysteme umkippen können, sondern dass diese auch einander beeinflussen –, dass also, wie in der Anfang Januar hier auf Telepolis besprochenen Studie herausgestellt, ganze Kaskaden von Systemumschlägen oder Tipping-Points angestoßen werden könnten.

Weniger bekannt sind allerdings zum Teil die einzelnen Mechanismen und vor allem die Schwellwerte, bei denen das Umschlagen erfolgt. Hier leistet eine kürzlich in Nature Climate Change erschienene Studie [4] einen Beitrag.

Subsysteme sind miteinander korreliert

Die Autorinnen und Autoren von verschiedenen chinesischen, skandinavischen und deutschen Instituten fanden nicht nur eine sehr deutliche Korrelation zwischen dem Klima über dem Amazonasbecken einerseits und dem Westantarktischen Eisschild sowie dem tibetischen Hochland andererseits.

Sie konnten mit statistischen Methoden auch eine sehr deutliche Fernwirkung zwischen den Vorgängen im Amazonasbecken und dem tibetischen Hochland zeigen. Eine Fernwirkung, die auch in einem wärmeren Klima stabil bleibt, wie sie mit Berechnungen an einer ganzen Serie von verschiedenen gekoppelten Klimamodellen demonstrieren konnten.

Ferner konnten sie zeigen, dass die Ausdehnung der Schneebedeckung seit 2008 instabil geworden ist. Nach einer Störung, das heißt, einer Zeit mit zum Beispiel deutlich unterdurchschnittlicher Schneedecke, braucht es messbar länger als in früheren Jahren, bis der Normalzustand wieder erreicht wird. Diese Verlangsamung in den Reaktionszeiten eines Systems wird, so die Autorinnen und Autoren, als Anzeichen gesehen, dass es sich einem Kipp- oder Umschlagpunkt nähert.

Oder mit anderen Worten: Wenn der neue alte Präsident Brasiliens, Lula da Silva, nun hoffentlich versucht, die Verbrechen der Agrarlobby und seines rechtsextremen Vorgängers Jair Bolsonaro zu beheben und den Regenwald sowie die in ihm und von ihm lebenden Menschen besser zu schützen, Telepolis berichtete [5], dann verteidigt er nicht nur Brasiliens Naturschätze und eine für den ganzen Planeten wichtigen gigantischen Wald, der Kohlenstoff speichert und damit der Atmosphäre als Treibhausgas entzieht. Sondern er tut auch etwas für die Stabilität der Himalaya-Gletscher und der tibetischen Schneefelder.

Die Bedeutung kann man gar nicht überschätzen. In der fraglichen Region entspringen die großen Flüsse Chinas, Südostasiens und zum Teil auch Indiens, die ein bis zwei Milliarden Menschen mit Trinkwasser versorgen. Auch die Landwirtschaft ist vielerorts ohne sie undenkbar. Für die Autorinnen und Autoren ist das Grund genug, darauf hinzuweisen, dass das tibetische Hochland als eines der kritischen, vom Umkippen bedrohten Teile des Klimasystems mehr Aufmerksamkeit verdient.


URL dieses Artikels:
https://www.heise.de/-7487632

Links in diesem Artikel:
[1] https://www.telepolis.de/features/Selbst-kurzfristiges-Ueberschreiten-der-Pariser-Klimaziele-hochriskant-7449399.html?seite=all
[2] https://www.un.org/esa/sustdev/natlinfo/indicators/methodology_sheets/oceans_seas_coasts/pop_coastal_areas.pdf
[3] https://news.climate.columbia.edu/2019/10/25/rising-seas-low-lying-coastal-cities/
[4] https://www.nature.com/articles/s41558-022-01558-4
[5] https://www.telepolis.de/features/Herkules-Aufgabe-Kann-Wahlsieger-Lula-den-Amazonas-in-Brasilien-noch-retten-7326690.html