Wenn der Postmann zweimal klingelt...
....könnte es der neue Harry Potter sein
Es hat "Top Priority" und es ist "Top Secret". "Unter keinen Umständen vor dem 21.Juni ausliefern", steht auf dem Päckchen, dessen Inhalt die größte Produktneuvorstellung in der Geschichte des E-Commerce in Gang gesetzt hat.
Ein Kinderbuch. "Reading level: Ages 9-12" heißt es trocken auf der US-amerikanischen Amazon-Website (wer heute noch bestellt, bezahlt nur 60 % des regulären Preises) ein Altershinweis, auf den die Kollegen in Großbritannien (wo man 50% Rabatt bekommt) und Deutschland (hier sparen Vorbesteller höchstens 30 Prozent) wohlweislich verzichtet haben.
Denn Harry Potter ist schon lange ein Held für Erwachsene. 1999 wurden laut einer britischen Studie noch 71 Prozent der Harry Potter-Romane für 8-14 Jährige gekauft; 2001 war der Anteil der kindlichen Leser schon auf 36 Prozent gesunken. Man kennt das: Oft nehmen die Erwachsenen den Kindern ihr Spielzeug weg, weil sie lieber selber damit spielen wollen (vgl. Orgien im Kinderzimmer). Bei Amazon herrscht einstweilen die fast einer Übelkeit gleichkommende Gewissheit, vor einem Riesengeschäft zu stehen. Teil 5 der Potter-Bücher wird, so scheint es, die Verkaufszahlen des vierten Teils lässig verdoppeln oder verdreifachen, seit Januar laufen die Vorbestellungen.
Der Mensch ist eben doch ein Rudelwesen und wenn er Geschäftsführer bei Amazon.com ist, ein verlogenes obendrein. Können wir Sätze wie "Das Tolle an diesem Potter-Fimmel ist doch, dass es ums Lesen geht" glauben? Nein, dem Herren, der, wenn wir ihn richtig einschätzen, wahrscheinlich am liebsten Zahlen liest, würde ebenso schlecht, ja geradezu übel vor Begeisterung, wenn er Bücher verschicken dürfte, deren Inhalt sich auf das Wiederholen eines einzigen Buchstabens beschränkt.
Nun wollen wir das von "Harry Potter and the Order of the Phoenix" aber nicht hoffen. Immerhin hat das Buch in der amerikanischen Ausgabe 8095 Seiten. Wie bitte? Nein, das muss ein Druckfehler der vor lauter Übelkeit und Gier schon ganz wirren Amazon-Leute sein; in Wirklichkeit sind es 896 Seiten, in der britischen Ausgabe 768 und in der deutschen am meisten, nämlich rund 1000 Seiten (kriegt man sein Geld zurück, wenn man weniger Seiten bekommt als auf der Bestellseite angegeben?). Mehr als eine Million Vorbestellungen, das ist eine Menge Holz und die Bücher werden von Sicherheitsleuten in Spezialgebäude verfrachtet und bewacht.
Journalisten durften bei einem Pressetermin im Hochsicherheitstrakt von Amazon.com aus sicherer Entfernung etwas betrachten, das die ersehnte Ware sein könnte. Berühren absolut verboten. Eine Katastrophe, wenn jemand vor dem 21. Juni von dem Plot erführe. Warum eigentlich? Lieber nicht darüber nachdenken. Sonst wird uns auch noch schlecht. Was auf diesen Seiten steht, das wird künstlich und mit knallharten Mitteln zurückgehalten: "Weder Ihnen noch Ihren Mitarbeitern ist es gestattet, das Buch vor dem Verkaufsbeginn zu lesen", steht in einem Vertrag, den alle unterschreiben müssen, die den Harry in der englischen Ausgabe verkaufen wollen, also auch deutsche Buchhändler. Die Zeiten, in denen Buchhändler noch empfehlen und lesen durften: vorbei. Denn ums Lesen geht es hier nicht. Bis zur erlaubten Verkaufssekunde ("00.01 Britische Sommerzeit" am 21.Juni ) sind die Bücher wegzusperren und der Buchhändler darf keines in die Hand nehmen, "gleichgültig, aus welchem Grund". Dass am Wochenende aus einem britischen Lastwagen bereits ganze 7,680 Exemplare gestohlen wurden, kommt einer Art Staatsstreich gleich.
Kurzum: The tide is high und so mancher Romanautor wird eine bittere Kerbe in den Mundwinkel ziehen, und sagen, dass es sowohl ästhetisch als auch moralisch gesehen besser wäre, wenn sich die Gunst der Leser etwas mehr verteilen würde. Aber Rowling ist nicht nur reicher als die Queen, sie ist auch die frei (aber wie frei wirklich?) gewählte Königin der Leser. Auch wenn manche Kritiker ihr Sexismus, fade Frauenfiguren oder banal-stereotype Erzählkunst vorwerfen: ihre verspielte Detailbesessenheit und die kommode Sprache passen perfekt in unsere technikorientierte User-Gesellschaft. So wagt der amerikanische Verlag Scholastic die höchste Startauflage für ein Hardcover in der Geschichte des US-Buchmarkts: 8,5 Millionen Exemplare; und die königlich-britische Post hat zusätzliche Lieferwagen geordert, damit die Postboten sich am kommenden Samstag an den milchtütenschweren Megasellern nicht überschleppen.
Michael Maar hat mit dem Buch "Warum Nabokov Harry Potter gemocht hätte versucht, Rowling Extra-Meriten zu verleihen. Ein Buch mit dem Titel "Warum Nabokov Harry Potter nicht gemocht hätte" wäre aber möglicherweise interessanter und stichhaltiger geworden. Der Literaturwissenschaftler spekuliert im neuen "Stern" über den fünften Band (welcher übrigens am 8.November in der deutschen Übersetzung erscheint):
Lord Voldemort ist wieder im Vollbesitz seiner Kräfte. Ron Weasleys älterer Bruder Percy wird der dunklen Macht zuneigen, oder zumindest könnte es eine Zeit lang so aussehen. Harrys Tante Magda, die Gläser zerdrückt, wird sich vielleicht als Hexe heraus stellen.
Tante Magda? Wenn das stimmen würde, hätte sich die Geheimhaltung allerdings gelohnt.