Wenn die Grünen die absolute Mehrheit hätten

Rüdiger Suchsland

Mediensplitter (20): Analysen zur Lage im Ampel-Land. Freiheit im Clinch mit Wohlstand und Verzicht. Wie veränderungsfeindlich ist Deutschland?

Nach etwa einer Stunde lud Ulf Poschardt ein zu einem originellen Gedankenexperiment: "Was wäre, wenn die Grünen die absolute Mehrheit hätten? Was wäre dann? Wie läuft es dann?"

Eine klare Antwort hatte der Chefredakteur der Welt-Gruppe leider nicht, stattdessen nur die melancholische Feststellung, dass sie kulturell und medial bereits eine Zweidrittel-Mehrheit hätten. Darüber kann man streiten, doch statt den Grundsatzfragen zu folgen, verhakte sich die Debatte zu oft in den widerstreitenden Temperamenten der drei Diskutanten.

Vor allem Poschardt, bekennender FDP-Versteher und der den Grünen nahestehende Politikwissenschaftler Albrecht von Lucke (Blätter für Deutsche und Internationale Politik) bellten sich an wie Kinder auf dem Pausenhof, während taz-Chefredakeurin Ulrike Winkelmann etwas unbeteiligt daneben stand.

Angst vor Streit und eine Art verlagerter Kulturkampf

"Grüne gegen FDP. Wie viel Ampelzoff verträgt das Land?" – so hieß der Titel der Sendung "Kontrovers" im Deutschlandfunk. Ein Debatten-Framing, das man keineswegs unterschreiben muss. Denn vielleicht überschätzen die Medien diesen Streit gewaltig.

Im Gegenteil jazzen sie ihn kalkuliert hoch, weil das ihnen und der Auflage nutzt. Schon die Angst vor Streit und die Unterstellung, Streit sei irgendwie etwas Politikfernes und nicht vielmehr die Essenz des Politischen, ist eine typisch deutsche Blickverengung und Fehlannahme.

Trotzdem war es eine Sendung von erhellender Qualität und einem analytischen Niveau, wie es in deutschen Medien selten ist, auch weil die Konstellation der Teilnehmer konstruktiven Streit gewissermaßen vorprogrammierte.

"Die Deutschen tun sich immer schwer mit Streit", sagte Poschardt gleich zu Beginn der Sendung und versuchte die Hysterie aus der Debatte zu nehmen. Dabei gehöre Streit zum Alltag. Die Ampel auf Bundesebene sei schließlich ein historischer Versuch, alle Beteiligten hätten vorher gewusst, worauf sie sich einlassen und wie schwer das wird. Die FDP habe eine undankbare Rolle, denn sie stehe "für eine Minimalvernunft, ökonomische und finanzpolitische Minimalvernunft".

Dankbar für die FDP sei an jedem Morgen Kanzler Olaf Scholz: Die FDP halte ihm nämlich "die irren Pläne seiner eigenen Partei und die noch wilderen umfassenderen Umgestaltungspläne der Grünen" auf Distanz.

Die Enttäuschung der FDP-Wähler sei verständlich, "weil die FDP mitgemacht hat in der Corona-Hysterie", wie die der grünen Wähler, "weil die schönen Regulierungs- und Verbots- und Verzichtsüberlegungen mit den kritischen FDP-Nachfragen verunmöglicht wird".

Der Streit sei aber nur etwas Vordergründiges.

Die eigentliche Frage ist: Wie kann man aus so einer Konstellation wieder ein Projekt machen. Projekt, indem es eine Addition von Stärken ist, die alle Parteien haben und nicht eine Art verlagerter Kulturkampf. Und da halte ich, anders als viele viele Journalisten, die FDP für sehr viel moderater, als die meisten Teile der Grünen.

Ulf Poschardt

Die Ähnlichkeiten zwischen Grünen und FDP

Politik wird heute nicht nur von den Medien, sondern inzwischen von den Politikern selbst als Daily-Soap erzählt: "Der Streit zwischen Lindner und Habeck", die Briefe, die sich die Minister hin und her schreiben. Kanzler Scholz spielt in der Soap den guten Hausvater, der zwischen den ungehörigen Kindern schlichtet und den Frieden wiederherstellt. Am Rand die entfernten Verwandten Nouripour und Lang, Esken und Klingbeil und der Fraktionsvorsitzende der FDP Christian Dürr, die zum Zuhören gezwungen sind.

"Viele fragen sich inzwischen, ob diese Regierung nicht längst an ihre Grenzen gestoßen ist? Sind die Grundsätze liberaler und grüner Politik überhaupt miteinander vereinbar?" – schon diese Fragen von Deutschlandfunk-Redakteur Tobias Armbruster, einer der besten in der Politikredaktion, sind keineswegs zwingend. Man könnte den Zustand der Koalition auch ganz anders beschreiben.

Man könnte, wie der Soziologe Andreas Reckwitz (vgl. Sind wir zu müde und zu ängstlich für den Fortschritt?), die Ähnlichkeiten zwischen Grünen und FDP betonen.

Man könnte erklären, warum die Grünen auch eine liberale, in Teilen sogar neoliberale Partei sind und nicht der Gegensatz zu irgendeinem Liberalismus, egal, wie man ihn genau versteht. Man könnte auch versuchen, zu erklären, warum diese angeblich so gegensätzlichen Parteien im gleichen Sozialmilieu wildern, die gleichen Wähler ansprechen, warum beide Parteien bei den jungen Wählern führen?

Apokalyptische Zukunftsszenarien

Zwei Dystopien traten damit in Wettstreit zueinander: Während Poschardt die Dystopie eines grünen Neofeudalismus an die Wand malte, in dem die absolutistischen Regenten eines allmächtigen Staats "in die Art zu heizen, zu fahren, zu essen, zu sprechen und zu denken" eingreifen, und die Gegenwart gegen die Zumutungen durch den Angriff apokalyptischer Zukunftsszenarien verteidigte, sah Albrecht von Lucke anderes: Das Untergangsszenario in einer entfesselten Freiheit, die die Zukunft der Gier und der Verzichtsapathie der Boomer opfert.

Angesichts dessen nahm er die Position eines linkskonservativen Haushaltsmanagers ein, der immer wieder gegen Poschardts freiheitliche Positionen mit dem Wohlstand argumentierte, der für zukünftige Generationen zu bewahren sei.

Von der Utopie einer anderen Gesellschaft ist da zumindest rhetorisch keine Rede. Stattdessen liegt Luckes Utopie im Technokratischen eines Mikromanagements jedes kleinsten Lebensbereichs, kombiniert mit einem Verbotsregime, das bestimmte Energien komplett untersagt, und andere hoch besteuert, und das um jede seiner Handlung einen moralischen Kranz aus "Verantwortung" flicht.

Die Grünen, so Lucke, seien unter der Last ihrer "Zukunftsverantwortung" "die Einzigen, die die Idee der Transformationskoalition wirklich hart durchdeklinieren, mit Kosten, mit Verlusten für die gegenwärtig Lebenden".

Lucke betonte aber sehr einseitig die ökologische Frage. Als ob es keine andere gäbe. Gibt es nicht einen Krieg und außenpolitische Herausforderungen, die zu lösen sind und die Drohung eines globalen Konflikts, der jede Vorstellung von Transformation ohnehin unmöglich machte, falls er ausbricht?

Und muss Transformation nicht finanziert werden? Wie?

Kulturkampf und Innovationsblindheit

Das waren die entscheidenden Fragen der Debatte. Es erschien dabei wie ein Symbol der Inkonsequenz der Grünen: Genau an diesem Montag eröffnete Robert Habeck als Wirtschaftsminister die weltweit größte Tourismusmesse in Berlin. Dort wird mit Flugzeugen und Schiffe für die Reichen gehandelt, und mit Kreuzfahrten für weniger Reiche.

Als Energieminister muss Habeck gleichzeitig am Ausstieg aus genau diesen umweltschädlichen Verkehrs- und Umweltpraktiken arbeiten. Dieses Dilemma verdecken der Krieg und die aktuellen Schlagzeilen zu Verkehrs- und Verbotsfragen.

Tatsächlich geht es in der Ampel zum einen um das, was Poschardt einen "Kulturkampf" nennt: Zwei völlig unterschiedliche Politikstile, die am Konflikt zwischen Lucke und Poschardt deutlich wurden, wie auch an der Tatsache, dass Poschardt plötzlich als eine Art porschefahrender Robin Hood die "migrantische working class" gegen die Zumutungen grüner Verkehrs- und Energiepolitik verteidigt.

Und Albrecht von Lucke dann als ein moderner Sheriff von Nottingham im Namen der abstrakten "zukünftigen Generationen" und der nicht weniger abstrakten "enormen Kosten [des europäischen Wohlstands] auf der globalen Ebene", immer größere Steuern erhebt.

Gerade wird dieser Konflikt ganz konkret vor allem am Verkehrsbereich als dem Inbegriff individueller Freiheit ausgefochten. Für Albrecht von Lucke ist die Kernfrage: Sind wir bereit, in dieser Gegenwart Wohlstandseinbußen zu akzeptieren und sie dort, wo es erforderlich ist, auch auszugleichen, zugunsten zukünftiger Generationen? Um auf diese Weise die Umsetzung zu einer zukunftsgerechten Gesellschaft zu leisten, die auch Wohlstand für zukünftige Generationen ermöglicht.

Ob diese Aussicht realistisch ist, muss man fragen, kann aber hier nicht beantwortet werden.

Aber auch wenn das der Fall ist: Die Antwort, die aus allen Wahlen der letzten Jahre spricht, ist klar. Die deutsche Gesellschaft ist dazu nicht bereit.

Der Wählererfolg der Grünen ist genau genommen sehr gering. In den Städten verlieren sie gerade konsequent an Boden, während sie auf dem Land leicht, aber nicht genug dazu gewinnen. Dass die FDP noch mehr verliert, ist kein Gegenargument, sondern bestätigt den Befund, denn die FDP leidet gerade unter der babylonischen Gefangenschaft in der Ampelkoalition. Diejenigen, die die FDP für diese Koalition und für ihre Politik in der Regierung kritisieren, wählen natürlich nicht die Grünen, sondern die CDU.

Auch Poschardt argumentierte inkonsequent, wenn er einerseits zurecht den Moralismus und die idealistische Verbots- und Verzichtspolitik der Grünen kritisiert und andererseits Außenministerin Annalena Baerbock für ihre Außenpolitik in höchsten Tönen lobt – eine Außenpolitik, die genau auf diesem Moralismus und Idealismus fußt und dafür den Blick für die Realitäten zunehmend außer Acht lässt.

Die Verteidigung der Freiheit befindet sich bis auf Weiteres mit der Verteidigung des Wohlstands im Clinch. Oder, anders formuliert, eine Erfolgsreligion aus Risiko und Profit ist im Konflikt mit einer Gerechtigkeitsreligion aus Wohlstand und Umverteilung.

Beide finden derzeit keine Mehrheiten beim Wähler, sie taugen bestenfalls als Korrektiv zum pragmatischen Mainstream eines sozialpartnerschaftlichen Weiterso.

Zu bemerken ist eine doppelte Innovationsblindheit der deutschen Gesellschaft: Geblendet von Verzichts- und Verbotspredigten streitet man über deren Für und Wider und verliert dabei ebenso komplett aus dem Auge, dass so etwas historisch noch nie funktioniert hat, wie die Tatsache, dass es woanders große technische Innovationen gibt.

"De-Growth"-Fantasien, die den "Wohlstand zurückfahren" wollen, und ein "Zurück zum Wohlstand der 1970er-Jahre" fordern, paaren sich mit tiefer Skepsis gegenüber moderner Technologie und grundsätzlicher Veränderungsfeindschaft.

So bot die DLF-Diskussion vor allem eine Zwischenbilanz, und zeigte, dass die Ampelparteien sich in einer unterschiedlichen Problemanalyse verhakt haben. Die FDP setzt darauf, Opposition in der Regierung zu spielen, anstatt endlich ein bürgerrechtliches Projekt, das über Cannabis-Legalisierung und Geschwindigkeitsfreigabe hinausgeht, für sich zu entwickeln.

Und die Grünen besetzen geschickt den Begriff der Zukunft für sich, füllen ihn aber vor allem mit Bedrohungsszenarien. Deren gesetzliche Form ist dann handwerklich derart schlecht gemacht, oder verkommt zur reinen Symbolpolitik, dass damit kein Vertrauen wächst.