"Wenn du nicht vernünftig wirst, vererbe ich dir das Haus!"
Seite 3: "Lost Generation"
Wie sehr hat sich denn das Leben in Griechenland verteuert?
Christian Rathner: Griechenland ist grundsätzlich kein billiges Land. Auch in der Krise geben die Preise nur sehr wenig nach. Was das Leben teuer macht, ist aber vor allem der massive Kaufkraftschwund. Weniger oder kein Geld in der Börse bedeutet, dass viele Konsumgüter unerschwinglich werden. Aber es gibt noch mehr finanzielle Fallen, an die man nicht im ersten Moment denkt.
Ein Bauingenieur, der sein Leben lang viel gearbeitet hat, seine Steuern und Versicherungsbeiträge bezahlt hat, erzählte mir von einer - wohlgemerkt aus medizinischen, nicht etwa aus kosmetischen - Gründen kürzlich notwendig gewordenen Operation. Sie kostete 8000 Euro. Die völlig ausgeblutete Krankenversicherung hat ihm bisher ungefähr 25 Euro refundiert, 15,70 stehen noch aus.
Besonders prekär ist die Lage der jungen Menschen, die noch keine Gelegenheit hatten, Geld anzusparen. Mittlerweile sprechen viele in Griechenland von einer "lost generation". Ohne Aussicht auf Job beziehungsweise. ausreichend Geld ist es schwierig, auf die Beine zu kommen, zu heiraten und Kinder zu bekommen.
"Mehr als dreißig Prozent aller Griechen sind aus der Krankenversicherung herausgefallen"
Wie hat sich das Gesundheitswesen verändert?
Christian Rathner: Das ist eines der schmerzhaftesten Themen. Das Gesundheitssystem ist völlig am Ende. Viele Krankenhäuser wurden geschlossen, Ärzte entlassen. Gesundheitsbetriebe erleben heikle Engpässe an medizinischem Material. Sie leben von Monat zu Monat und hoffen, irgendwie über die Runden zu kommen, erzählte mir eine Hämatologin. Das Schlimmste aber ist die Tatsache, dass mehr als dreißig Prozent aller Griechen aus der Krankenversicherung gefallen sind und keinen legalen Anspruch auf Gesundheitsversorgung mehr haben.
Für sie wurden von engagierten Privatpersonen, zum Teil auch von Kommunen, der Ärztekammer oder der griechisch-orthodoxen Kirche so genannte Sozial- oder Solidaritätskliniken eingerichtet. Dort arbeiten - einschließlich Ärzte - ausschließlich unbezahlte Ehrenamtliche. Derzeit gibt es etwa 45 solche Einrichtungen in ganz Griechenland. Dazu werden auch Medikamente in sogenannten Sozial-Apotheken gesammelt und von Pharmazeuten weitergegeben.
Diese Gratis-Hilfe ist allerdings überfordert, wenn jemand schwer erkrankt. Mit allen Mitteln, Kniffs und Tricks versucht man Patienten, die weiter führende Therapien brauchen, doch noch in den Spitälern unterzubringen. Das funktioniert oft, aber es ist kein Geheimnis, dass aufgrund der Krise längst Menschen sterben.
Auch die Langzeitfolgen sind gravierend: Immer mehr Familien haben nicht das Geld, ihre Kinder impfen zu lassen. Kinderärzte warnen daher eindringlich vor der Wiederkehr überwunden geglaubter "Kinderkrankheiten" wie Mumps oder Kinderlähmung. Überhaupt bleiben viele Krankheiten im Anfangsstadium unbehandelt, was später zu absehbarer Häufung führen muss. "Mit großer Geschwindigkeit", sagte mir eine Ärztin kürzlich, "führen Troika und griechische Regierung das Land in eine humanitäre Katastrophe."
"Für die Häuser sind empfindlich hohe Steuern zu zahlen"
Wie steht es um die Renten?
Christian Rathner: Im Vor-Krisen-Griechenland gab es für einige Privilegierte weit überhöhte Renten. Der Großteil der Menschen musste sich mit geringen Rentenzahlungen abfinden. Das war einer der Gründe, warum viele Griechen für sich und ihre Kinder Häuser oder Wohnungen bauten, beziehungsweise kauften. Sie galten auch als eine Art Altersvorsorge.
Jetzt sind auch die allermeisten Renten massiv gesunken. Und für die Häuser ist - je nach Lage und Größe - eine empfindlich hohe Steuer zu zahlen. Oft habe ich die Anekdote gehört, dass ein Vater bei einem Streit mit der Nachkommenschaft neuerdings nicht mehr mit Enterbung droht, sondern umgekehrt sagt: "Wenn du nicht vernünftig wirst, vererbe ich dir das Haus!"
Eine Pensionistin erzählte mir, sie habe drei Wohnungen vermietet. Aber anstatt Einkünfte zu erzielen, verliert sie Monat für Monat Geld, denn die Mieter können die Miete nicht mehr zahlen. Ein Verkauf wäre sinnlos, weil die Wohnungspreise völlig verfallen sind. So zahlt sie die neue Immobiliensteuer und kocht noch Mittagessen für ihre arbeitslosen Mieter. Eine Witwe erzählte mir, sie bekomme eine Pension von 900 Euro. Davon leben allerdings vier Menschen: sie selbst, ihr arbeitsloser Bruder und ihre beiden arbeitslosen Söhne.
Ist es wahr, dass in Griechenland Schüler in der Klasse vor Hunger in Ohnmacht fallen?
Christian Rathner: Ja, das ist wahr. Apostolí, die Caritas-Organisation der griechisch-orthodoxen Kirche, hat aus diesem Grund ein Programm gestartet. Familien von Kindern, die in den Schulen Hungerschwäche zeigen, werden ausfindig gemacht und erhalten Lebensmittelpakete.
In Teil 2 des Gesprächs äußert sich Christian Rathner über die gestiegene Selbstmordrate, die Steuer- und Privatisierungspolitik und den Widerstand in Griechenland.
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