Wenn ein Nato-Mitglied sein Nachbarland angreift
Aus den USA muss es grünes Licht für die völkerrechtswidrige Militäroffensive der Türkei im Nordirak gegeben haben. Andere Bündnispartner schauen weg oder schweigen
Die Türkei hat am Ostermontag erneut eine völkerrechtswidrige Militäroffensive im Nordirak gestartet. Der Nato-Mitgliedsstaat begründete den Einsatz mit dem Schutz vor Terrorangriffen der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) und dem Recht auf Selbstverteidigung. Doch es geht um mehr: Präsident Recep Tayyip Erdogan versucht mit seiner aggressiven Außenpolitik, verloren gegangene Stimmen für die Präsidentschaftswahl 2023 zurückzugewinnen – und die Bemühungen der Selbstverwaltung in Nordostsyrien um ein demokratisches System zunichtezumachen. Die restlichen Nato-Staaten schauen tatenlos zu.
Angriffe in Nordsyrien und Nordirak sind in Deutschland kein Thema
Im Schatten des Ukraine-Krieges sind Berichte über die türkischen Menschenrechtsverletzungen rar. Von der Bundesregierung und speziell von der grünen Außenministerin Annalena Baerbock gab es zunächst keine Stellungnahme.
Die ARD-Tagesschau berichtete immerhin am Donnerstag ab Minute 3 über die Militäroperation im Nordirak und die zeitgleichen Angriffe auf Nordostsyrien: Entgegen der Behauptung Ankaras, die Angriffe seien mit Bagdad abgesprochen, habe die irakische Regierung dies dementiert.
Ein Ausschnitt von Erdogans Rede vor dem Parlament macht noch einmal deutlich, dass er die Selbstverwaltung in Nordostsyrien mit der PKK gleichsetzt, um völkerrechtswidrige Angriffe und Kriegsverbrechen zu legitimieren:
Früher oder später werden wir die Köpfe der Terrororganisation zermalmen, die in einem Teil von Syrien floriert.
Recep Tayyip Erdogan
Leider übernehmen die deutschen Medien – wie auch in der Tagesschau – unhinterfragt diese Zuschreibung. Letztlich tragen sie so zum antikurdischen Rassismus bei. Die Unterstützung der türkischen Rhetorik trägt auch dazu bei, dass "die Kurden einmal mehr im Zangengriff zwischen der Türkei und dem IS-Terror" sind.
Ein gefangen genommener IS-Kämpfer berichtet in dem ARD-Interview über die Finanzierung des IS durch die Türkei: "Der größte Teil des Geldes kam aus der Türkei. Einer ihrer Kontaktleute brachte auch verwundete IS-Kämpfer zu einem Treffpunkt in Rakka. Dort wartete ein Schleuser, um sie in die Türkei zu bringen, um sie dort medizinisch behandeln zu lassen."
Man kann es nicht oft genug wiederholen: von der Selbstverwaltung in Nordsyrien gehen keine Angriffe auf die Türkei aus. Wenn es nach den Verantwortlichen im Selbstverwaltungsgebiet ginge, gäbe es offene Grenzen, damit die Familien sich wieder besuchen können – und es gäbe gegenseitigen Handel.
Allerdings müsste die Türkei bereit sein, die Selbstverwaltung Nordsyriens zu akzeptieren und die Kurden als ethnische Minderheit mit eigener Sprache und Kultur anerkennen. Für den islamisch-nationalistischen Präsidenten Erdogan mit seiner Kurdenphobie ist das undenkbar.
Anerkennung der Kurden als ethnische Minderheit wäre Teil der Lösung
Im Norden des Iraks befindet sich das Hauptquartier der PKK, die sich wie einst der südafrikanische ANC als Befreiungsbewegung betrachtet. Der Konflikt zwischen dem türkischen Zentralstaat und der kurdischen Bewegung, die sich für Minderheitenrechte einsetzt, existiert seit 100 Jahren.
Schon lange vor der Gründung der PKK 1978 gab es immer wieder Aufstände, die von den jeweiligen Regierungen blutig niedergeschlagen wurden. Wir sprechen von einem Volk von mehr als 40 Millionen Menschen, also einer ähnlichen Bevölkerungszahl wie die der Ukraine oder Polens. Allerdings haben die Kurden das Pech, dass sie die weltweit größte Ethnie ohne eigenen Staat sind und nur in einem Herkunftsstaat, dem Irak, einen offiziellen Minderheitenstatus haben.
Dass die meisten türkischen, syrischen und iranischen Kurden mittlerweile keinen eigenen kurdischen Staat mehr fordern, sondern nur noch einen Autonomiestatus in ihrem Siedlungsgebiet, ist ein großer Fortschritt – auch gegen den kurdischen Nationalismus. Dass die Kurden in der Türkei, in Syrien und im Iran für eine Akzeptanz dieser Realität kämpfen, müsste in der modernen Welt eigentlich auf fruchtbaren Boden fallen. Aber es gibt ein Problem – nämlich die türkische Regierung.
Was die Nato-Statute nicht regeln
Die Türkei ist Mitglied der Nato. "Die Nato fördert demokratische Werte und ermöglicht ihren Mitgliedern, sich in Verteidigungs- und Sicherheitsfragen zu beratschlagen und zu kooperieren, um Probleme zu lösen, Vertrauen zu schaffen und langfristig Konflikte zu vermeiden", heißt es in der Selbstdarstellung des Militärbündnisses.
In den Statuten der Nato wie auch der EU ist allerdings nicht vorgesehen, dass ein Mitglied wegen Bruch des Völkerrechts, Verletzung der Menschenrechte oder Kriegsverbrechen ausgeschlossen werden kann. Es ist auch nicht geregelt, was passiert, wenn ein Nato-Mitglied demokratische Werte negiert und ein autoritäres Regime etabliert.
Wir erinnern uns in diesem Zusammenhang an die Worte des türkischen Präsidenten:
Die Demokratie ist nur der Zug, auf den wir aufspringen, bis wir am Ziel sind. Die Moscheen sind unsere Kasernen, die Minarette unsere Bajonette, die Kuppeln unsere Helme und die Gläubigen unsere Soldaten.
Recep Tayyip Erdogan im Jahr 1998
Ein Nato-Mitglied kann laut Nato-Statut nur selbst die Mitgliedschaft aufkündigen. Sanktionen, wie sie gegen Russland ausgesprochen werden, muss die Türkei als Nato-Mitglied daher nicht befürchten. Wäre deswegen nicht eine Reform der Nato überfällig?
Eine Änderung der Nato-Statute kann aber nur einstimmig erfolgen. Warum sollte ein Staat daran Interesse haben, etwas zu ändern, wenn das seine Handlungsmöglichkeiten beschränken würde? Letztlich kann ein Nato-Staat, der sich in eine nationalistische, autokratische Diktatur verwandelt hat, innerhalb dieses Verteidigungsbündnisses, das sich Demokratie und Menschenrechte auf die Fahnen schreibt, machen, was er will.
Ähnliches können wir auch in der EU beobachten. Um in die EU aufgenommen zu werden, müssen viele demokratische Standards erfüllt werden. Ein Grund, warum die Türkei nach wie vor kein EU-Mitglied ist, ist ihr Mangel an demokratischen Strukturen.
Was aber, wenn Beitrittskandidaten sich zuerst an die Regeln anpassen und dann – wie Ungarn und Polen – diese Standards wieder abschaffen? Beide Staaten würden in ihrer heutigen Verfassung nicht mehr in die EU aufgenommen werden. Hier besteht dringender Handlungsbedarf in der Politik.
Wer stoppt die völkerrechtswidrigen Angriffe der Türkei?
Wer kann also die völkerrechtswidrigen Angriffe der Türkei stoppen? Im Nordirak wie auch in Nordsyrien gab es ja bekanntermaßen schon mehrere türkische Militäroffensiven, die vor allem in Nordsyrien zu neuen Flüchtlingswellen führten. Der wissenschaftliche Dienst des Bundestags bewertete ähnliche Angriffe in der Vergangenheit zwar als nicht mit dem Völkerrecht vereinbar, "doch die Freundschaft mit Erdogan scheinen sich die Nato-Staaten schon mal den einen oder anderen völkerrechtswidrigen Fauxpas kosten zu lassen", kommentierte die Tageszeitung Neues Deutschland.
Das türkische Verteidigungsministerium berichtete am Ostermontag, man habe im Nordirak Verstecke, Tunnel und Munitionsdepots der PKK bombardiert, da diese einen ‚groß angelegten Angriff‘ vorbereitet hätte. Beweise für diese Behauptung konnte die Türkei allerdings nicht vorlegen.
Im April vergangenen Jahres versuchten türkische Truppen schon einmal vergeblich, mittels chemischer Kampfstoffe in die festungsartigen Tunnel- und Höhlensysteme der Guerilla einzudringen. Damals wurde der Einsatz von fünf verschiedenen chemischen Kampfstoffen nachgewiesen: Tabun, Senfgas, Grünkreuz, ein unbekanntes Schlafgas und Tränengas. 40 Kämpfer und Kämpferinnen starben durch die Giftgasangriffe.
Internationale Organisationen untersuchten entnommene Proben der Opfer und konnten den Einsatz von Chemiewaffen bestätigen. Es wurden Behälter mit Salzsäure und Bleichmittel gefunden, sowie Kisten mit der Aufschrift 'thermobarisch'. Thermobarische Raketen, auch Vakuum- oder Aerosolbomben genannt, sind international geächtet und nach der Genfer Konvention verboten. Der Organisation für das Verbot chemischer Waffen (OPCW) wurden die Beweise und Dokumentationen übergeben. Bis heute erfolgte aber keine Untersuchung.
Zurzeit bombardiert die Türkei drei kurdische Regionen in denen zahlreiche Dörfer liegen. Die Volksverteidigungseinheiten HPG, wie sich der militärische Arm der PKK nennt, konnten teilweise verhindern, dass türkische Truppen mit Hubschraubern abgesetzt wurden.
Bei den Kämpfen starben nach Angaben des HPG-Pressebüros 28 türkische Soldaten, neu wurden verletzt. Türkische Medien sprachen ihrerseits von "30 eliminierten Terroristen". Überprüfbar sind beide Angaben jedoch nicht. Über Social Media verbreitete Handyaufnahmen zeigen, wie Dorfbewohner sich den türkischen Bodentruppen aus dem türkischen Stützpunkt nahe der Ortschaft Silazde entgegenstellen, die in Richtung des Kure-Jaro-Berges vorrückten.
Dorthin verlegte die Demokratische Partei Kurdistans (KDP) in der Nacht zum Ostermontag auch ihre Peschmerga-Einheiten. Diese Einheiten sind unter anderem von der Bundeswehr bewaffnet und ausgebildet worden.
Die Unterstützung der kurdischen Regionalregierung
Wenige Tage vor dem türkischen Angriff auf den Nordirak empfing Erdogan den KDP-Premierminister der Kurdischen Autonomieregion Nordirak (KRG), Masrur Barzani, in seinem Palast. Auch der Chef des türkischen Geheimdienstes, Hakan Fidan, war zugegen. „Nach seinem Treffen mit dem türkischen Staatschef Recep Tayyip Erdogan hatte Barsani sich positiv über die "Ausweitung der Zusammenarbeit" mit der Türkei 'zur Förderung von Sicherheit und Stabilität' im Nordirak geäußert“ berichtete vergangene Woche die Zeit.
Aus Ankara war zu hören, man koordiniere die Invasion mit "Freunden und Verbündeten" - Dies ist nicht verwunderlich, wenn man bedenkt, dass der Nordirak zu 90 Prozent von der Türkei abhängig ist. Hinzu kommt, dass es eine "strategische Energiepartnerschaft zwischen dem Barzani-Clan, der die feudal-konservative KDP wie einen Familienbesitz führt, und Ankara" gibt. Um Ölgeschäfte auf eigene Rechnung an der irakischen Regierung vorbei zu tätigen, ist die Familie Barzani auf die Türkei angewiesen, die im Gegenzug auf die Unterstützung oder zumindest Duldung der kurdischen Regierung im Kampf gegen die PKK setzt.
Allerdings scheint das Treffen nicht auf Augenhöhe stattgefunden zu haben. Denn wie es eigentlich bei diplomatischen Treffen üblich ist, wurde die kurdische Fahne "Ala Rengîn" nicht aufgestellt. Regierungschef Barzani saß nicht neben Erdogan, sondern musste entfernt auf einem Sofa Platz nehmen. Erdogan hat vom russischen Präsidenten Wladimir Putin gelernt, wie man mit Symbolik seine Gäste an den Katzentisch verweist.
Diese Demütigung führte bei den Barzanis aber nicht zu der Einsicht, dass sie nur Mittel zum Zweck sind. Die kurdische Opposition, zu der auch die PKK und die nordsyrische Selbstverwaltung zählen, ist dem feudal herrschenden Barzani-Clan ein Dorn im Auge, denn sie stellen ein demokratisches Gegenmodell zum korrupten KDP-System dar. Also ist man sich mit Erdogan in der Bekämpfung der demokratischen Opposition einig, nimmt Demütigungen hin und lässt die Türkei gewähren.
Das Pressezentrum der HPG berichtete vergangene Woche, dass die Hubschrauber, die Luftlandetruppen in die Zap-Region brachten, diesmal nicht nur aus der Türkei kamen, sondern auch von den türkischen Stützpunkten im Nordirak, im von der Barzani-Partei KDP kontrollierten Gebiet. "Allein in den letzten vier Tagen sind unsere Gebiete 147 Mal von Kampfjets bombardiert worden, vom Boden aus erfolgten unzählige Haubitzenangriffe", hieß es in einer Erklärung der HPG. "Im Luftraum finden weiterhin ununterbrochen Flüge von bewaffneten Drohnen und Kampfflugzeugen statt."
Offensichtlich auch grünes Licht aus Washington
Wie bei der letzten Attacke vor einem Jahr wäre dieser erneute völkerrechtswidrige Angriff der Türkei im Nordirak ohne grünes Licht der USA nicht möglich gewesen. Auch die USA unterhalten im Nordirak und in Nordostsyrien Militärstützpunkte und sie kontrollieren dort den Luftraum. Trotzdem gab es in den vergangenen Tagen auch in Nordostsyrien zahlreiche neue türkische Drohnenangriffe bei denen mehrere Personen getötet oder verletzt wurden. Auf Kobane gab es am Samstag einen türkischen Artillerieangriff auf das Stadtzentrum, bei dem mehrere Geschäfte zerstört wurden.
In zahlreichen deutschen Städten fanden am Wochenende Kundgebungen und Demonstrationen statt – mit der klaren Aufforderung an die Bundesregierung, sie möge auf die türkische Regierung einwirken, um die Angriffe zu stoppen. Der Kurdische Nationalkongress (KNK) erinnerte an die Wichtigkeit der Einheit in allen Teilen Kurdistans:
"Bei den jüngsten Newroz-Feierlichkeiten am 21. März wurde die nationale Einheit der Kurdinnen und Kurden proklamiert, und mehr als zehn Millionen Menschen in Nordkurdistan und in der Türkei haben Erdogan deutlich zu verstehen gegeben, dass sie sich seiner Brutalität und Vernichtungspolitik nicht beugen werden. Millionen von Kurdinnen und Kurden haben der Türkei damit einen Weg zum Frieden aufgezeigt."
Der KNK rief „alle Regierungen und internationalen Organisationen, einschließlich die UN, die Nato, die EU, den Europarat und die Arabische Liga auf, dringend gegen diese Verletzung des Völkerrechts vorzugehen, dieses Verbrechen der Aggression unmissverständlich zu verurteilen und den Rückzug der türkischen Truppen aus Südkurdistan zu fordern“. Politische Parteien, Menschenrechtsorganisationen, Friedensbewegungen, Gewerkschaften und aktivistische Menschen seien aufgerufen, "sich der türkischen Aggression und Besatzung zu widersetzen".
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