Wenn es Nacht wird
Stromausfall: Betriebskosten der Zivilisation oder Terrorismus?
"Es wird Nacht, Senorita, siehst du nicht, wie ich frier'?/ Drück' mich fest an dein Herzchen, ich will gar nichts von dir!"
Die Motive von Udo Jürgens könnten seinerzeit nicht ganz lauter gewesen sein. Heute dagegen könnte der Ruf nach echter menschlicher Wärme frei von lasziven Hintergedanken sein. Denn nach den Stromausfällen in Amerika, Schweden, Dänemark und London kam es in der Nacht zum letzten Sonntag auch zu einem fast totalen Blackout in Italien. Selbst das vorgeblich vorbildliche europäische Stromverbundnetz, das gegenüber dem amerikanischen System zuvor beschworen wurde, hat offensichtlich Tücken, die in ihren Ausmaßen längst nicht erkannt sind. Das öffentliche Leben in Italien verabschiedete sich für einige Stunden. Zigtausende von Reisenden verharrten in toten Zügen. Auch im Tessin brach für eine Viertelstunde das Stromnetz zusammen.
Wen trifft die Schuld? Eine Schadensursache soll darin gelegen haben, dass herabfallende Zweige eine 380-Kilovolt-Leitung der Aare-Tessin AG für Elektrizität beschädigten und andere Leitungen überlastet wurden. Doch das allein dürfte die Kettenreaktion nicht erklären. Der erste Hauptverdächtigte für die lichterlose Nacht in Rom und anderenorts, der französische Elektrizitätsversorger RTE, wies die Schuld von sich. Für die Techniker liegt der Grund für den Blackout darin, dass das italienische Netz nach der Unterbrechung von Hochspannungsleitungen, die von Frankreich gen Italien führen, nicht wieder geöffnet worden sei.
Risikotausch: Welcher Katastrophe will man den Vorzug geben?
Dieser Stromausfall in Italien könnte nicht der letzte gewesen sein, denn das Land ist in wachsendem Ausmaß von Stromimporten abhängig. Industrieminister Antonio Marzano hat jetzt angekündigt, dass gezielte Abschaltungen bis Ende des nächsten Jahres erforderlich werden könnten. Und das bleibt eine lange Zeit für Schuldzuweisungen.
Marzano hat selbstverständlich eine Regierungsverantwortung abgestritten und die Blockade einer autarken Energiepolitik politischen Gegnern in die Schuhe geschoben. Die nationale Elektrizitätsgesellschaft ACEA hatte bereits zuvor gewarnt, dass der ständig steigende Strombedarf in Italien auf Dauer nicht gedeckt sein könnte. Schon lange vor dem Blackout wurde aber die Untätigkeit auf diesem für Hochtechnologiegesellschaften so vitalen Sektor heftig angeprangert. Inzwischen denkt man auch wieder über den Einsatz von Atomenergie nach, nachdem die Italiener nach dem Tschernobyl-Desaster für die Stilllegung der Reaktoren votiert hatten. Darin bestätigt sich das Bild einer Risikogesellschaft, die ein Risiko gegen das andere austauscht und vornehmlich allein die Wahl behält, welche Katastrophe sie für vorzugswürdig hält.
In Dänemark, das einige Tage zuvor Opfer eines Stromausfalls wurde, soll es politische Konsequenzen geben, wenngleich weder hier noch in Schweden die Analysen abgeschlossen sind, wie es überhaupt zur Katastrophe kommen konnte. In den USA kritisierte der demokratische Präsidentschaftskandidat John Kerry die Energiepolitik der Republikaner mit dem Vorwurf, man habe es unterlassen, die "Probleme anzupacken, bevor sie auftauchen".
Nun dokumentiert diese Kritik das typische Signum einer Gesellschaft von Zauberlehrlingen, die die Katastrophe braucht, um die Probleme zu erkennen. Doch deren heutige Lösung könnte den Dynamiken von morgen auch nicht gewachsen sein. Der Streit über die Ursachen ist zudem nicht nur eine Frage politischer Schuldzuweisungen, sondern die Stromversorger müssen auch mit saftigen Schadensersatzklagen - etwa von Lebensmittelhändlern - rechnen, die Waren in Millionenhöhe wegwerfen müssen. Deutschland soll gerade noch einmal verschont worden sein. Nach Darstellung von Vattenfall Europe AG, des drittgrößten Stromkonzerns, seien sofort Pumpspeicherwerke in Betrieb genommen worden seien, um Strom zu verbrauchen. Damit sei ein Überschreiten der Normalnetzfrequenz von 50 Hertz hier zu Lande verhindert worden.
Nährboden für neue Verschwörungstheorien?
Einen veritablen Verschwörungstheoretiker kann diese plötzliche Kette von "Zufällen" und die technisch halb garen Erklärungen freilich nicht befriedigen. Denn die Stromausfälle präsentieren just jene Horrorszenarien, mit denen zuvor die Angst vor dem Terrorismus illustriert wurde. Soll hier nur einer euroamerikanischen Massenpanik vorgebeugt werden, dass al-Qaida längst begonnen hat, uns nach und nach die Lichter auszublasen?
Die Verantwortlichen in Amerika haben jedenfalls bisher die Gründe für den Stromkollaps nicht offen gelegt und das nährt frei schwebende Spekulationen. Die deutschen Strombetreiber prüfen jetzt die Sicherheit ihrer Anlagen vor terroristischen Angriffen. Insbesondere Angriffe aus dem Netz bereiten den Betreibern arge Kopfschmerzen, obwohl andererseits auf die Unabhängigkeit der Rechnersysteme vom Internet verwiesen wird. Teilweise werden noch ältere Prozessrechner von den Unternehmen eingesetzt, die nicht über "Windows" laufen.
Doch das Terrorsyndrom könnte hier ähnlich groteske Blüten treiben wie im Fall des Anschlags vom 11. September. Wurden zuvor Cyberwar-Attacken als das neue Schreckgespenst des Terrorismus in allen Farben ausgemalt, waren es schließlich Terroristen, die mit Teppichmessern ausgerüstet ihr Vernichtungswerk verrichteten. Wenn also tatsächlich herabfallende Zweige mitursächlich für die tiefschwarze italienische Nacht waren, wären hier eher asymmetrische Angriffe auf die fragilen Stromdinosaurier zu befürchten. Ein kleiner Sabotageakt, ein paar mit der Axt gekappte Leitungen, könnten nach den aktuellen Erfahrungen dann schon reichen, einen weiteren Vorgeschmack auf die Apokalypse zu geben.
Eine Hochtechnologie-Gesellschaft wird gelegentlich in die Steinzeit zurückfallen
Wer solche terroristischen Gefahrenszenarien nun für Hysterie hält, muss wohl schlicht erkennen, dass Zivilisation betriebstechnisch eine aufwändige Angelegenheit ist und sich nicht immer, aber immer öfter "bugs" in immer komplexere Versorgungsnetze einschleichen, die wiederum von hochkomplexen Steuerungsnetzen abhängig sind. Dieses Problem reduziert sich längst nicht auf die Diskussion über die Schwächen der Privatisierung der Energieversorgung. Mit der Öffnung des europäischen Strommarkts für Endverbraucher stehen die Unternehmer unter erheblichem Druck, kostengünstig und damit auch höchst störungsanfällig Strom zur Verfügung zu stellen.
Eine Hochtechnologie-Gesellschaft fällt kurzfristig oder gar für länger in die Steinzeit zurück. Der immer versorgungsabhängigere Zivilisationsmensch verspürt die in früheren Zeiten so alltägliche Angst vor der Dunkelheit als neues Existenzgefühl. Und das ist vielleicht gut so. Denn in Italien ist auch jenseits der Verbesserungsbedürftigkeit der Stromversorgung die Verbrauchsmentalität der Bürger ein Thema geworden.
Solange die italienische Energiepolitik die überfällige Strukturmaßnahmen nicht realisiert, gibt es also nur zwei Modelle: Entweder reduzieren die Verbraucher ihren Stromverbrauch oder stecken weiter im Aufzug fest und denken über Neuwahlen nach. Denn Usama bin Ladin kann diesmal wohl auch nicht weiter helfen. Zwar gibt es in diesen Tagen mal wieder eines der beliebten, von al-Dschasira ausgestrahlten Tonbänder, das von Usama-Stellvertreter Al-Sawahiri stammen soll. Aber von Stromausfällen ist dort partout nicht die Rede.
Und selbst Bush versagt sich Vorwürfe gegen seine Intimfeinde, um diese neuesten Zivilisationsgefahren zu erklären. Für ihn ist es ein "Weckruf", das antiquierte System der Stromversorgung zu modernisieren. Schuld daran haben nach Bush freilich die Umweltschützer und Demokraten, die notwendige Gesetze im Kongress verhindert hätten. Nun reichen Amerikas Stromversorgungsprobleme bis in die Sechzigerjahre zurück, ohne dass für diese Versäumnisse über Jahrzehnte die üblichen Verdächtigen herangezogen werden könnten.