"Wer etwas um jeden Preis verkaufen will, muss eben selber zahlen"
Protokolle von gescheiterten Entrepreneuren spiegeln die Unternehmerkultur der deutschen Hauptstadt
Seit Jahren wächst in Deutschland die Zahl der Unternehmen. Noch schneller wächst die Zahl der Insolvenzen. Der unsichere Arbeitsmarkt drängt immer mehr Menschen dazu, sich selbst anzustellen - trotz ungenügender Finanzierung. Wer scheitert, hat es wenigstens versucht. Eine Zeitlang darf man handeln, als würden dann die Träume wahr. Wenn nicht, verspricht nur ein neues Unternehmen den baldigen Ausgleich der Verluste. Doch wie oft lässt sich der Neuanfang wiederholen?
Im Flexibilisierungsprogramm der New Economy wurden von Anfang an herkömmliche Hierarchien genauso negiert, wie sichere Arbeitsbedingungen. Dieses riskante, ja mitunter gefährliche Leben konnte nur durch eine Fiktion kompensiert werden. Man selbst war gefährlich, ein Rebell: asozial und gegen die bestehende Ordnung. So wundert es nicht, dass gescheiterte Unternehmer, die sich Anfang 2001 stetig vermehrten, im Zuge dieses dystopisch-utopischen Mythos als Slacker, Punks und abgedrehte Nihilisten auftreten konnten. Die Saga der New Economy schien auch nach dem Crash fürs erste genauso stimmig wie zuvor.
Doch waren diese mit Pop-Ethos gewürzten Selbstentwürfe genauso widersprüchlich, wie die mit einem kulturellem Überbau versehene, selbsternannte Wirtschaft von morgen. Projekte wie Scheitern als Chance versuchten diese Widersprüche produktiv zu machen, sie hoben das faule Gedankengebäude der Neo-Liberalisierer aus den Angeln. Ingo Niermann, ein junger Schriftsteller aus Berlin, begann sich unter die Verlierer zu mischen, als "Scheitern als Chance" schon pleite war und der Club der polnischen Versager noch gar nicht existierte. In Streifzügen durchquerte er die Szene auf der Suche nach Unternehmern, die eine interessante Geschichte hatten.
Er stieß auf Menschen, die mal ein Sägewerk oder eine panpazifische Küche hatten, Leute, die wegen Anlagebetrug oder Pornodreh das Handtuch werfen mussten. Niermann interviewte diese Menschen und befragte sie nach ihren Lebensläufen, ihren Motiven, ihren Erfolgserlebnissen und ihren Pleiten. Ihre Geschichten hat er, einem Polizisten gleich, mit einem Tonband aufgezeichnet, wortwörtlich abgetippt und nun in einem Buch herausgebracht: "Minusvisionen. Protokolle" (Suhrkamp, November 2003). Fünfzehn Wagemutige, die bereits ein oder mehrere Unternehmen hinter sich haben, kommen darin zu Wort. Entstanden ist damit ein teils exotisch anmutendes Panoptikum der hauptstädtischen Unternehmerkultur - richtig, das sollte nicht unterschlagen werden, die Befragten stammen großenteils aus Berlin.
Ohne diese gestrandeten Entrepreneure im üblichen Stil zu verklären, präsentiert Niermann sie trotz allem als Helden, ja: als Vorbilder. Sie erscheinen als kompetente Berater mit Erfahrung in Sachen Schiffbruch, die sie in den Dienst anderer Unternehmen stellen können. Vorbilder sind sie aber auch, weil sie den Mut hatten, sich aus dem Fenster zu lehnen und auf dem Markt anzubieten, was ihnen persönlich am meisten gefehlt hat. Niermann notiert in der Einleitung:
Man wollte, dass überall in Berlin Ökosandwiches und nicht mehr nur Döner und Buletten zu kaufen waren, oder alte Filme, die man liebte, mit neuen unzerkratzten Kopien in die Kinos bringen. Man stellte Kunst aus, auch wenn die Sammler fehlten. Sammelte weiterhin Kunst, auch wenn längst das Geld fehlte. Diese Unternehmer schienen mir trotz Misserfolg keine Verlierer zu sein. Sie hatten immer gewusst, dass ihre Chancen gering waren. Wer etwas um jeden Preis verkaufen will, muss eben selber zahlen.
Niermanns Interesse an diesen Idealisten ist keiner naiven Begeisterung geschuldet. Er hat sich Gedanken gemacht, Recherchen betrieben und öffentliche Veranstaltungen wie zum Beispiel eine Diskussion anlässlich des zwanzigjährigen Jubiläums des Deutschen Herbstes besucht. Auf diesen für einen jungen Schriftsteller wohl recht ungewöhnlichen Pfaden ist er offenbar zu der Einsicht gelangt, dass die sozialen Utopien der 1960er in der New Economy aufgegangen sind.
Doch präsentiert Niermann diese Beobachtung nicht in der für politisch engagierte Kreise üblichen Weise; also nicht als Ideologiekritik. Sprachlich gewitzt erkennt er in der historischen Linie zunächst einmal eine wahre Seelenverwandtschaft. Nicht zuletzt eine Kongenialität zwischen zwei schief gewickelten: Schließlich sei zu bezweifeln, ob die sexuelle Befreiung die Menschen glücklicher, genauso wie es nicht erwiesen sei, dass die ökonomische Befreiung sie reicher gemacht habe.
Minusvisionen-Buchvorstellung gemeinsam mit Lena Braun (Boudoir, Deinhoff), Ingo Romeo Mocek (Scho-ka-kola Abendvertrieb), Markus Schneider (Lukas & Hoffmann), Jens Thiel (Jens & Friends, Venturepartner) und Alexander Wolf (Tuscon, Idealo) am 1. November 2003 in Berlin: Volksbühne, Roter Salon, Rosa-Luxemburg Platz, 21 Uhr