"Wer nichts zu verbergen hat, hat auch nichts zu befürchten"
Eine Analyse der Formel, mit der im "Kampf gegen den Terror" immer wieder der Ausbau der Überwachung gerechtfertigt wird
Im so genannten „Kampf gegen den Terror“ sind die Bürgerrechte zunehmend unter Druck geraten. Kritiker dieser Entwicklung werden allerorten mit der Aussage „Wer nichts zu verbergen hat, hat auch nichts zu befürchten“ beschieden. Diese Standardformel "...ist das Killer-Argument schlechthin, dem offenbar viel abzugewinnen ist". Sie gibt sich den Anschein, selbstredend zu sein. Diejenigen, die sie verwenden, erwarten, dass dieser Satz bereits alle Fragen beantworten könne. Seine Evidenz mache weitere Erklärungen und Debatten obsolet. Doch wie schlagkräftig ist dieses „Argument“ wirklich und worauf beruht seine vermeintliche Überzeugungskraft?
Geprüft werden soll, welchen Gehalt diese Formel eigentlich besitzt. Dazu muss zur Sprache gebracht werden, was sie in ihrer Kürze nicht sagt, nicht sagen will und was sie womöglich für irrelevant erklärt. Ich werde die Aussage „Wer nichts zu verbergen hat, hat auch nichts zu befürchten“ ausdeuten, indem ich sie in den Kontext des „Kampfes um den Terror“ einordne. Mit der Identifizierung ihres Gehalts werden auch ihre Schwachpunkte sichtbar. Da ich kein Experte in Sicherheitsfragen bin, nutze ich dafür vor allem medienvermitteltes Wissen. Meine Interpretation ist spekulativ und keine gesicherte Wissenschaft.
1. „Wer nichts zu verbergen hat ...“
1.1. Der Staat und seine Bürger
Die Aussage „Wer nichts zu verbergen hat, ...“ macht zunächst Geheimnisse zum Thema: Irgendjemand verbirgt etwas vor jemand anderen.
Weil dieser Satz zur Rechtfertigung von Sicherheitsgesetzen gebraucht wird, kann man nun bestimmen, um welche Art von Geheimnissen es sich handelt und welche Personen wem gegenüber etwas zu verbergen haben könnten. Nicht gemeint sind Geheimnisse wie die heimliche Geliebte oder eine politische Intrige. Die Enthüllung des Verborgenen folgt also weder einem privaten noch öffentlichen Aufklärungsbedarf. Es geht um Geheimnisse, die die innere Sicherheit bedrohen. Sachwalter der inneren Sicherheit ist der Staat (im Sinne der Exekutive), der diese Aufgabe durch Überwachung der Einhaltung geltender Gesetze erfüllt. Er ist damit derjenige, vor dem etwas verborgen wird. Geheimgehalten werden nun tatsächlich begangene und geplante Gesetzesübertretungen, also Straftaten. Von besonderer Bedeutung sind terroristische Straftaten, da sie die innere Sicherheit am stärksten bedrohen.
Die Eigenheit der meisten Straftaten ist es, dass deren Geheimhaltung die Bedingung ihres Erfolgs ist. Der Terrorist muss seine Opfer überraschen, um sie zu treffen. Nur so kann er verhindern, dass diese sich vorsorglich schützen. Entsprechend ist die – aufgrund der Gefährdung von Leib und Leben zwingend erforderliche - Aufdeckung eines Terrorplanes bereits seine Vereitelung (siehe auch: Stölting, Erhard: Das Geheimnis, die Macht und die soziologische Neugier. Antrittsvorlesung, Potsdam 1996, unveröfftl. Manuskript).
Die Aussage „Wer nichts zu verbergen hat ...“ beschreibt also zwischen den Zeilen das Verhältnis von Staat und Bürger. Es sind die Bürger, die dem Staat gegenüber etwas geheim halten könnten, und es ist der Staat, der einen Aufklärungsbedarf hat. Und: Es ist richtig, dass der Staat diese Aufklärung unternimmt.
1.2. Geheimnisse des Staates
An diesem Punkt zeigt sich, dass die Aussage „Wer nichts zu verbergen hat ...“ ein wichtiges Problem ausspart: Nicht nur die Bürger können Geheimnisse gegenüber dem Staat haben, sondern der Staat hat auch Geheimnisse gegenüber dem Bürger. Die Geheimdienste bezeugen diese Tatsache bereits durch ihren Namen. Deren Tätigkeit ist der Kontrolle des Bürgers weitestgehend entzogen. Nur eine ausgewählte kleine Gruppe von Leuten, das Parlamentarische Kontrollgremium, darf Einblick nehmen, muss aber der Öffentlichkeit gegenüber schweigen.
Staatliche Geheimhaltung ist auch Bestandteil der debattierten wie umgesetzten Verschärfungen der Sicherheitsgesetze. Zwar gibt es Ausnahmen, wie die Videoüberwachung, die aus Präventionsgründen für jedermann erkennbar ist. Doch andere Maßnahmen wie Telefon- oder Internetüberwachung funktionieren nur, wenn sie geheim gehalten werden. Zum Geheimnis gehört die Täuschung (siehe: Stölting): Der Überwachte darf nicht merken, dass er überwacht wird. Nur dann, wenn er sich in Sicherheit wähnt, wird er relevante Informationen auch am Telefon preisgeben.
Die Aussage „Wer nichts zu verbergen hat, ...“ stellt nur in einer Richtung den Zusammenhang zwischen Geheimhaltung und Sanktionswürdigkeit her: Nur der Bürger muss etwas befürchten, wenn er etwas verbirgt. Die staatliche Geheimhaltung ihrerseits wird von den Nutzern des „Killerarguments“ keiner besonderen Erwähnung für Wert befunden. Man sieht sich nicht genötigt, zwischen legitimen und illegitimen Staatsgeheimnissen zu unterscheiden. Folglich lässt man den Kritiker wissen, dass staatliche Geheimhaltung grundsätzlich legitim ist.
Damit wird das Problem, dass die Täuschung des Bürgers die Grundsätze demokratischer Transparenz verletzt, nicht argumentativ aufgelöst, sondern lediglich ignoriert.
1.3. „...hat auch nichts zu befürchten“: Ungleich verteilte Sanktionsgewalt
Der hier zitierte Teilsatz weist darauf hin, dass die staatliche Kontrolle nicht harmlos ist. Jene, die illegitim Geheimnisse hüten, müssen mit Konsequenzen rechnen. Es sind unangenehme Konsequenzen, anderenfalls müsste ihr Eintreten nicht befürchtet werden. Der Staat hat also die Mittel, unerwünschtes Verhalten mit unangenehmen Konsequenzen zu sanktionieren.
Über die Art dieser Konsequenzen kann man an dieser Stelle bereits einiges ableiten. So gehört die oben bereits erwähnte Täuschung des Bürgers durch den Staat im Beispielfall einer Telefonüberwachung offenbar nicht dazu. Diese Sanktionen nach der Aussage „Wer nichts zu verbergen hat ...“ sind ausschließlich jenen vorbehalten, die etwas zu verbergen haben. Die Täuschung im Überwachungsfalle trifft aber auch den fälschlich der Geheimniskrämerei verdächtigten Bürger, dessen Unschuld erst im Zuge der Überwachung erkenntlich wird. Folglich kann die Täuschung nicht gemeint sein, wenn von den unangenehmen Konsequenzen die Rede ist.
Zudem wird diese Täuschung in der Aussage „Wer nichts zu verbergen hat ...“ gar nicht thematisiert, somit schon gar nicht problematisiert. Dass diese Täuschung unangenehm sein könnte, wird damit verneint. Hier wird auch sichtbar, dass die durch den Bürger selbst vorgenommene Definition, was ihm an staatlichem Handeln als unangenehm erscheint, nicht gelten gelassen wird. Was als zu Befürchtendes gilt, bestimmt allein der Staat. Der Staat bestimmt auch, wann seine Macht gegen den Bürger eingesetzt wird.
Die Aussage „Wer nichts zu verbergen hat ...“ teilt die Bürger in zwei Gruppen ein: Auf der einen Seite gibt es jene, die wegen ihrer geheimen Aktivitäten mit Sanktionen zu rechnen haben. Auf der anderen Seite steht der unbescholtene Bürger. An diesen richtet sich diese Aussage, um dessen Furcht vor staatlicher Sanktion zu besänftigen. Auch er ist prinzipiell der staatlichen Sanktionsfähigkeit unterworfen, sonst müsste man ihn nicht erst von der Grundlosigkeit seiner Furcht überzeugen. Maßstab für den Einsatz der Sanktionen ist nach der Aussage „Wer nichts zu verbergen hat ...“ allein das Verhalten des Bürgers: Entspricht es den Vorstellungen des Staates, verzichtet dieser auf den Einsatz der Sanktionsmacht. Inwiefern eine Kontrolle dieser staatlichen Sanktionsmacht möglich und sinnvoll ist, blendet die Aussage dagegen aus. Weil das Verhalten des Bürgers ausschlaggebend ist, wird Kontrolle hier durch Selbstkontrolle ersetzt.
2. Wie sicher weiß ich, dass mir nichts geschieht?
Der Satz „Wer nichts zu verbergen hat ...“ suggeriert, es sei gesicherte Tatsache, dass der unbescholtene Bürger staatliche Sanktionen nicht befürchten muss. Doch auf welchem Fundament steht diese vermeintliche Gewissheit? Dieser Satz unterschlägt tatsächlich wichtige Zusätze, die nötig sind, um seinen Status zu erkennen. In mindestens zwei Weisen kann bzw. muss man ihn daher ergänzen:
- „Ich weiß: Wer nichts zu verbergen hat, hat auch nichts zu befürchten.“
- „Ich glaube: Wer nichts zu verbergen hat, hat auch nichts zu befürchten.“
Jeder, der zu wissen meint, dass dem so ist, muss dem Zweifler und dem Kritiker nun glaubhaft machen, woher und wie er das weiß. Anderenfalls verfällt das Argument. Nur unter bestimmten, durch die Aussage selber nicht mit benannten Voraussetzungen kann man dieses Argument als Wissen behaupten. Diese Voraussetzungen will ich nachfolgend benennen und prüfen.
2.1. Kriterien des Unbescholtenseins
Angenommen, ein Bürger sagt, er wisse, dass er nichts zu befürchten habe. Grund für dieses Wissen sei sein Wohlverhalten. Dann unterstellt er, dass die staatlichen Behörden seine Selbsteinschätzung teilen und ihn ebenfalls für unbescholten halten. Dieser Bürger hat recht in dem Falle, wo es objektive Kriterien gibt, anhand derer sein Unbescholtensein nachweisbar ist. Solche Kriterien bietet das Gesetz.
Das Gesetz definiert, welches Verhalten als strafwürdig eingestuft werden muss. Es bestimmt damit die Fälle, in denen der Einsatz staatlicher Sanktionen geboten und jene, in denen er ausgeschlossen ist. Das Gesetz ist objektiv: Es ist schriftlich dokumentiert, damit für alle einsehbar und es bindet Bürger und staatliche Behörden gleichermaßen. Schuld und Unschuld werden bestimmt nach den Regeln des Gesetzes und nicht nach subjektiven Empfinden des Bürgers oder der ermittelnden Behörden.
Instanz der Regelanwendung ist das Gericht, der Richter als neutraler Dritter. Dessen Unabhängigkeit schiebt einer möglichen staatlichen Willkür einen Riegel vor. Die Ermittler müssen ihre Vorwürfe vor Gericht beweisen und ihr Vorgehen rechtfertigen. Hinzu kommen die Abwehrrechte, die das Rechtssystem dem Bürger einräumt: Der Bürger kann von sich aus eine Prüfung veranlassen, ob die staatliche Seite sich rechtstreu verhält.
Sind diese Voraussetzungen erfüllt, kann die Aussage „Wer nichts zu verbergen hat ...“ als Wissen formuliert werden. Das auf das Gesetz gestützte Sicherheitsgefühl wird allerdings durch mindestens zwei Probleme wieder untergraben.
2.2 Gesetze sind veränderbar - aber nicht durch jedermann
Ein fundamentales Problem ist verbunden mit der Frage der politischen Mitbestimmung. In der repräsentativen Demokratie werden die Gesetze von einer Minderheit gemacht. Zwar hat der Bürger die Wahl zwischen Parteien bzw. Personen und damit die Möglichkeit, eine ihm näher stehende Politik zu begünstigen. Sind diese erst einmal gewählt, kann der Bürger nur noch geringfügig intervenieren: Welche Gesetze konkret entwickelt werden, kann der Bürger nun nicht mehr beeinflussen. Er ist nicht souverän, sondern dem politischen Geschehen weitgehend ausgesetzt.
Dies bedeutet auch, dass der Bürger die Veränderung geltender Gesetze hinnehmen muss. Damit kann sich keiner drauf verlassen, dass seine Selbstsicht als gesetzestreu auch künftig noch auf festem Fundament steht. Verschärfungen von Sicherheitsgesetzen können die Kriterien dessen, was als verdächtig oder strafwürdig gilt, verändern. Was gestern noch unbedenklich war, ist heute ein Verdachtsmoment. Da jeder Bürger an die staatliche Gesetzgebung gebunden ist, muss er sich fügen, auch wenn die neuen Kriterien seinem Rechtsempfinden nicht entsprechen mögen.
Dieses Problem blendet die Aussage „Wer nichts zu verbergen hat ...“ einfach aus. Staatliches Handeln ist kein Gegenstand der Besorgnis, im Gegenteil: Man erklärt jegliche Sorge diesbezüglich als unbegründet. Dies betrifft dann auch die Gesetzgebung. Folglich lautet die implizite Botschaft dieser Aussage: Der Bürger möge darauf vertrauen, dass die beschlossenen Gesetze schon die richtigen seien. "Wir sollen also einfach vertrauen, wenn auch der anderen Seite dieses Vertrauen den vielen 'Braven' nicht entgegengebracht wird". Das heißt auch, dass jegliche demokratische Kontrolle des Staates durch den Bürger eigentlich nicht nötig sei.
2.3. Abschaffung von Abwehrrechten und Erweiterung von behördlichen Spielräumen
Das zweite Problem bezeichnet etwas, was eintreten kann, aber nicht muss. Das geltende Recht kann dahingehend geändert werden, dass Abwehrrechte der Bürger eingeschränkt und der Handlungsspielraum staatlicher Behörden erweitert wird. Diese Entwicklung kann man seit Jahren beobachten.
Solche Eingriffe in die Bürgerrechte können auf verschiedenen Wegen erfolgen. So kann etwa der Katalog an Überwachungsmaßnahmen, welche man lediglich auf Verdacht hin einsetzen darf, ausgeweitet werden. Desgleichen kann der Interpretationsspielraum der Ermittlungsbehörden ausgeweitet werden, indem auch ein unspezifischer und durch wenige Indizien begründeter Verdacht als ausreichende Handlungsbasis angesehen wird. Die Begründungspflicht für behördliche Maßnahmen kann abgeschwächt bis abgeschafft werden, indem man den Zeitpunkt der Einholung eines richterlichen Beschlusses nach hinten schiebt oder den Richtervorbehalt gänzlich außer Kraft setzt.
Ein Beispiel ist die Sicherungshaft in Großbritannien: „Sie wurde in Großbritannien vor kurzem auf 28 Tage verlängert, die britische Regierung würde gerne Verdächtige ohne Anklage bis zu 90 Tagen festhalten....“ Wichtig ist daran, dass in der Frist bis zur Vorführung vor einen Richter die Polizei über Notwendigkeit und Dauer der Haft entscheidet. Eine Verlängerung der Frist, wie hier geschehen, erweitert den Freiraum der Polizei, eigenständig zu entscheiden. Der Inhaftierte muss die Haft hinnehmen, denn die Rechtslage erlaubt ihm keinerlei Interventionsmöglichkeiten. Erst der Richterspruch zwingt die Behörden, ihre Maßnahmen als begründet auszuweisen. Die kann (muss nicht) zu (temporärer) Willkür führen: Jemand kann auch grundlos oder aufgrund von Vorurteilen der Ermittler hinter Gittern landen.
Nun ist jede U- oder Sicherungshaft bereits spürbare Staatsgewalt und damit auch Sanktion. Sie kann auch den unbescholtenen Bürger treffen, entweder aufgrund von Willkür oder von falschen Verdächten. Die Aussage „Wer nichts zu verbergen hat ...“ zieht diese Möglichkeiten aber nicht in Betracht. Sie propagiert stattdessen, dass jeglicher als unangenehm zu empfindender Einsatz der Staatsgewalt allein die strafwürdigen Menschen trifft. In dieser Logik ist U- oder Sicherungshaft, als Haft ohne Urteil, noch keine Sanktion. Als schadensträchtiger Einsatz der Staatsgewalt gilt nur jene, die als vom Gericht verhängte Strafe daherkommt.
Man kann die Aussage „Wer nichts zu verbergen hat ...“ auch so lesen, dass sie zu Vertrauen in die Rechtschaffenheit der mit diesen Freiräumen ausgestatteten Ermittlungsbehörden aufruft. Vertrauen bietet aber keine Gewähr dafür, im Ernstfall auch tatsächlich fair behandelt zu werden. In dieser Lesart versagt das „Argument“ „Wer nichts zu verbergen hat...“, denn die von ihm suggerierte Sicherheit erweist sich als Etikettenschwindel.
3. Staatliche Kontrolle und individuelles Kosten-Nutzen-Kalkül
Es heißt: Wer nichts zu verbergen hat, muss staatliche Sanktionen (siehe oben: durch Gerichte verhängte Strafen) nicht fürchten. Wo der Unbescholtene aber keine Strafe zu befürchten hat, kann die staatliche Kontrolle auch keinerlei Schaden für ihn bedeuten. Sie schadet nur denen, die diesen Schaden ohnehin verdient haben. Ein DNA-Test im Zuge einer Mordermittlung z.B. schadet nicht, denn der Unbescholtene ist auch danach noch ein freier Mann. Eine solche Argumentation spricht vor allem die individuelle Nutzenkalkulation der Bürger an. Sie beantwortet die Frage, ob ich als Individuum persönlich Nachteile befürchten müsse.
Für schadlos wird auch die Verschärfung staatlicher Kontrolle gehalten. Laut der Aussage „Wer nichts zu verbergen hat ...“ gilt prinzipiell, also in absolut jedem Fall, dass sich für den unbescholtenen Bürger durch die Kontrolle nichts ändert, vielmehr erweist sie, dass er tatsächlich rechtschaffen ist. Wo aber Kontrolle grundsätzlich keinen Schaden birgt, spielt auch die Reichweite des staatlichen Zugriffs keine Rolle. Eine Ausdehnung der Reichweite von Kontrollen ist damit also kein nennenswertes Problem.
Insgesamt kümmert sich die Aussage „Wer nichts zu verbergen hat ...“ überhaupt nicht um die möglichen Qualitäten staatlichen Handelns. Nur das Verhalten des Bürgers wird direkt thematisiert: Offenbar hängt es allein vom Verhalten des Bürgers ab, ob staatliche Sanktionen zu befürchten sind oder nicht. Hat der Bürger ein Geheimnis, hat er ein Risiko, hat er kein Geheimnis, gibt es keine Gefahr. Hinweise auf mögliche Gefahren aufgrund staatlichen Verhaltens bekommen wir dagegen nicht. Zwischen Sanktionsgefährdung und staatlichem Verhalten scheint es keinen Zusammenhang zu geben. Problemfelder wie Machtmissbrauch sind in dieser Aussage ausgeblendet. Auch ist die Frage nach Rechtsgrundlagen und Kriterien des staatlichen Machteinsatzes kein Thema. Thema ist allein das Wohlverhalten des Bürgers. Der Bürger erscheint hier als Untertan des Staates. Wer die Kontrolleure kontrolliert, ist in der benannten Aussage irrelevant. Damit stellt sich dann auch gar nicht die Frage, ob eine Kontrolle des Staates angebracht wäre.
Ist das Wohlverhalten des Bürgers Kern der Argumentation, geht es wiederum vor allem um den individuellen Nutzen oder Schaden: wer das richtige Verhalten wählt, wird keinen Schaden erleiden. Die andere Handlungsalternative ist aufgrund der zu erwartenden Strafen zu kostenträchtig.
In der Sicherheitsdebatte wird nun noch ein individueller Nutzen durch staatliche Kontrolle behauptet. Die Kontrolle enthüllt mögliche Terrorplanungen und schafft damit Sicherheit durch Prävention. Da potenziell jeder ein Opfer von Terror werden kann, ist diese Prävention ein zusätzlicher Sicherheitsgewinn. Entsprechend kann man die Akzeptanz der Kontrolle durch den Bürger nicht nur verlangen, er müsste sie auch freudig begrüßen: Sie bescheren keine individuellen Kosten, bieten aber maximalen Sicherheitsgewinn. Heißt: Weil sie einen hohen Nutzen versprechen, müssten die Bürger sich von sich aus für diese Kontrollen entscheiden.
Eine solche Argumentation verzichtet auf demokratietheoretische Begründungen. Das macht sie blind für die Tatsache, dass die von Staats wegen verhängten Sicherheitsmaßnahmen obligat werden, sobald sie Gesetz sind. Der Appell an das individuelle Nutzenkalkül hat darum keine Basis, denn Bürger hat gar keine Wahl. Er kann sich nicht freiwillig der Kontrolle unterwerfen, denn er ist (in der Sicht unseres „Arguments“) längst unterworfen. So ist alle individuelle Freude nichts denn mentale Anpassung an bereits bestehende Autoritätsverhältnisse (siehe Tappenbeck, Inka: Phantasie und Gesellschaft. Zur soziologischen Relevanz der Einbildungskraft, Göttingen: 1998, Kap. 3: Macht, S. 150- 169)
4. Die Verletzung der Privatsphäre durch die Logik des Verdachts
Im letzten Kapitel wurde bereits gezeigt, dass die Aussage „Wer nichts zu verbergen hat ...“ die Ausdehnung der Reichweite staatlicher Kontrolle kategorisch als Problem verneint. Deshalb passt sie in einen Sicherheitsdiskurs, der in Richtung einer totalen Überwachung tendiert. Die Diagnose einer Entwicklung hin zur totalen Überwachung wird in der Regel als paranoid verworfen. Aber unter bestimmten Umständen ist totale Überwachung schlicht vernünftig für einen Staat, der sich der Aufgabe der Terrorprävention verschrieben hat. Ich will diese Umstände grob skizzieren.
4.1. Erzeugung von Handlungsdruck durch die Terrorgefahr
Die Prämisse der gegenwärtigen Sicherheitsdiskussion ist der Schutz vor Terroranschlägen. Das ist ein legitimes Ziel. Für die Ermittlungsbehörden erzeugt es allerdings großen Handlungsdruck: Steht ein Anschlag zu befürchten, sind Menschenleben in Gefahr. Deshalb müssen die Behörden den Terroristen zuvorkommen, um dessen Pläne zu vereiteln. Sie müssen also handeln, bevor die eigentliche Straftat geschieht. Das heißt: Sobald der Verdacht eines Terroranschlages besteht, muss etwas unternommen werden. Weil niemand riskieren will, dass Menschen sterben, nur weil man eine Spur für unbedeutend hielt, zwingt auch der kleinste Verdacht schon zum Handeln. Damit setzen auch vage Ahnungen die Präventionsmaschinerie in Gang.
Ich verstehe hier Verdacht im Sinne des Alltagsverstandes, nicht juristisch. Als Basis der Prävention hat der Verdacht einige Eigenheiten. Der Verdacht ist eine Hypothese: Ich halte jemanden für schuldig, aber mein Verdacht kann sich am Ende auch als falsch herausstellen. Was ich als Verdacht behaupte, ist also kein gesichertes Wissen. Oberflächlich gesehen hat ein Verdacht keinerlei Konsequenzen, denn er ist kein Urteilsspruch, aus dem eine Strafe folgt. Bin ich an den Konsequenzen interessiert, muss ich die Hypothese prüfen, indem ich Fakten herbeischaffe, die sie erhärten oder widerlegen.
Die Möglichkeit des Irrtums schafft eine Hintertür: Ich kann meinen Verdacht widerrufen. Er ist ein korrigierbarer Fehler. Falsche Verdächtigungen sind revidierbar, also kein schwerwiegendes Problem. Dies lädt dazu ein, auch vage Verdächte zu formulieren. Sie blühen vermutlich dort, wo man nicht in der Beweispflicht steht, am intensivsten. Weil jeder Verdacht das Signum der Vorläufigkeit hat, darf man ihn auch äußern.
Für die Ermittlungsbehörden sind allerdings Verdächte ein Imperativ, etwas zu unternehmen. Die aktuelle Sicherheitsdiskussion favorisiert als Mittel der Wahl die Überwachung. Laut der Aussage „Wer nichts zu verbergen hat, ...“ ist die Überwachung kein Problem für den Überwachten. Folglich ist der kontrollierende Zugriff in jedem Fall das rationale Mittel der Wahl: Die Möglichkeit a) des berechtigten Verdachts erzwingt eine Überwachung, die Möglichkeit b) des unberechtigten Verdachts schließt die Überwachung nicht aus, weil sie ja nicht schadet.
4.2. Der Bürger unter Generalverdacht
Rational ist eine Totalisierung der Überwachung auch aufgrund des Verhaltens der Terroristen. Bedingung des Erfolgs eines Terroranschlages ist die Geheimhaltung ihrer Planung: Um seine Opfer zu treffen, muss der Terrorist sie überraschen. Ort und Zeit des Anschlags müssen ein Geheimnis bleiben. Entsprechend ist die Aufdeckung des geheimen Plans bereits dessen Vereitelung (siehe: Stölting).
Deshalb ist der Terrorist bemüht, keinerlei Hinweise auf seine Absichten zu hinterlassen. Zudem muss er selbst als Person zusehen, keinen Verdacht zu erregen: Er muss möglichst unscheinbar wirken, eben wie jedermann. So täuscht der Terrorist über seine Absichten hinweg.
Aus der Sicht des Staates, welcher die geheimen Pläne vor ihrer Realisierung zu enthüllen sucht, folgt daraus: Sieht der Terrorist aus wie jedermann, kann jedermann nun auch ein Terrorist sein. Weil der äußerliche Eindruck der Rechtschaffenheit Trugbild sein kann, ist Kontrolle besser als Vertrauen. Der Täuschung zu erliegen, kann Menschenleben gefährden. Erst die Kontrolle schafft Sicherheit, dass der Rechtschaffene auch ist, was er zu sein vorgibt. Also: Wo der konkrete Anhaltspunkt fehlt, ist ein Generalverdacht gegen jeden Bürger sinnvoll (zumal man die Mittel zu haben glaubt, mit denen man die Nadel im Heuhaufen finden kann).
4.3 Der Schutz der Privatsphäre als Präventionshemmnis
Der strategisch denkende Terrorist weiß um die Kontrollbemühungen des Staates und wird versuchen, sich ihnen zu entziehen. Er nutzt also Räume oder Medien, von denen er glaubt, dass sie nicht überwacht werden. Überwachung erzeugt Verdrängung, woraus Nils Zurawski Nach Kofferbombenfunden - mehr Videoüberwachung gegen den Terror? folgert: „Verdrängung hieße aber auch eine Ausweitung, denn kein Verantwortlicher könnte begründen, warum die Kameras nicht dorthin folgen, wo auch die Kriminalität hin abwandert.“ Will die Überwachung ihr Ziel erreichen, muss sie tendenziell flächendeckend vorgenommen werden.
In dem Film „Das Leben der Anderen“ protokolliert der Stasihauptmann Wiesler, was er beim Abhören eines Künstlerpaars erfährt: „Danach vermutlich Geschlechtsverkehr.“ Die Effekt dieser Szene gelingt, weil der Stasimann in die Privatsphäre des Paares eindringt. Gemeinhin gilt das Liebesleben als Privatsache, seinen symbolischen Ort hat es im gemeinsamen Schlafzimmer, welches unerwünschtes Publikum ausschließt. Für den bundesrepublikanischen Kinozuschauer steht Wieslers Spitzelei vermutlich für den Unrechtscharakter der DDR. Hingegen ist in der Bundesrepublik die Privatsphäre etwa über das Prinzip der Unverletzlichkeit der Wohnung gesetzlich geschützt. Hier existiert ein fundamentales Verbot staatlicher kontrollierender Zugriffe.
Aus staatlicher Sicht ist es aber vernünftig, anzunehmen, dass ein vorausschauender Terrorist gerade hierher seine konspirativen Aktivitäten verlegt. Eben weil das Schlafzimmer so fundamental vor Kontrolle geschützt ist, ist es ein geeigneter Ort, um etwas zu verbergen. Der Schutzraum wird zum Ermittlungshindernis. Auch eine umfassende Überwachung aller anderen Sphären muss nutzlos bleiben, solange solche Schutzräume als Rückzugsort bestehen. Die Ermittler müssen befürchten, dass das Relevante immer dort geschieht, wo der staatliche Arm nicht mehr hinreicht. Das an das Schlafzimmer geknüpfte Verbot bindet den Ermittlern letztlich die Hände, weil es die Aufdeckung geheimer Pläne verhindert. Und dies motiviert dann die Forderung, scheibchenweise diese Hemmnisse abzubauen.
Sofern eine solche Entwicklung nicht aufgehalten wird, muss man auch in der Bundesrepublik einst befürchten, dass das eigene Liebesleben in den Protokollen von Leuten auftaucht, die es eigentlich nichts angeht. Allerdings übersieht die Aussage „Wer nichts zu verbergen hat ...“ dies bzw. hält derartige Befürchtungen für übertrieben.
4.4. Perpetuierung des Verdachts durch die grundsätzliche Möglichkeit der Lüge
Dem Verdacht wohnt also eine Steigerungslogik inne: Der Verdacht erfordert Überwachung. Die Überwachung gebiert den Folgeverdacht, dass sich die Überwachten der Überwachung entziehen. Dies erzwingt die Ausweitung der Überwachung. Diese Steigerungslogik führt aber tendenziell auch zu einer Intensivierung der Überwachung.
Der Terrorist plant seine Aktionen im Geheimen und täuscht Harmlosigkeit vor. Das Ziel staatlicher Überwachung ist darum die Enttarnung des Terroristen, mithin die Enthüllung der wahren Natur seiner Person und seines Tuns.
In der öffentlichen Debatte zum Thema Innere Sicherheit ist dieses Ziel unschwer erkennbar. Ein strategisch denkender Terrorist wird einkalkulieren, dass er überwacht werden könnte und darauf reagieren. Eine Möglichkeit ist dabei, den Umstand der Überwachung zu nutzen, um die Überwacher zu täuschen. Wenn der Terrorist z.B. ahnt, dass sein Telefon abgehört wird, kann er über diesen Kanal falsche und irreführende Informationen über seine Pläne kommunizieren. Die Überwacher wiegen sich nun in falscher Sicherheit, etwas Relevantes enthüllt zu haben.
Will der Überwacher dieser Falle entgehen, ist es vernünftig, den Überwachungsdaten zunächst zu misstrauen. Das erfordert eine Prüfung der Daten. Dazu muss man einerseits weitere Daten beschaffen, die als Prüfkriterien der bisherigen dienen können. Die Folge ist, dass die „klassische“ Telefonüberwachung ergänzt wird durch die Speicherung von Internetverbindungen usw. Andererseits müssen die Methoden der Datengewinnung verbessert werden. Dafür steht beispielhaft der Lügendetektor. Dieser ist zwar kein Überwachungsinstrument, aber er verkörpert die Furcht, belogen zu werden als auch die (wie auch immer begründete) Hoffnung, unbezweifelbare Gewissheit darüber erlangen zu können, was im Kopf des Verdächtigten vor sich geht. Furcht und Hoffnung dieser Art werden nun aber tendenziell überall, wo man das Schlimmstmögliche (einen Terroranschlag) erwartet, zu weiteren technologischen Versuchen führen, die Gedanken des Verdächtigen zu lesen.
Von sich aus hat dieser Prozess aber keinen Punkt, an dem er von alleine stoppt. Schließlich kann man die Möglichkeit, belogen zu werden, nicht aus der Welt schaffen. Weil (noch) niemand in den Kopf eines Anderen hineinschauen kann, kann auch niemand wirklich wissen, was dieser tatsächlich denkt. Deshalb ist Zweifel immer angebracht, entsprechend auch alle Aktivitäten, um ihn zu beseitigen.
Die Aussage „Wer nichts zu verbergen hat...“ beruht auf der Illusion, man könne einst Gewissheit finden. Sie erweckt den Eindruck, staatliche Kontrolle sei ein zeitlich begrenzter Prozess, der am Ende zweifelsfrei erweist, wer zu den Guten oder zu den Bösen gehört. Genau diese Versicherung erweist sich bei näherem Hinsehen als naiv und unberechtigt.
5. Rhetorik gegen die Überwachungskritiker
Mit dem Satz „Wer nichts zu verbergen hat...“ wird die Beweislast umgekehrt. Gemeint ist nicht die Beweislast im juristischen Sinne: Bislang steht (in Deutschland jedenfalls) am Ende immer noch der Richter, der über Schuld und Unschuld befinden muss. Die Beweislastumkehr erfolgt hingegen in der Debatte um die Innere Sicherheit. Die Logik der Aussage „Wer nichts zu verbergen hat...“ macht es schwer, die Legitimität von Bürgerrechten zu begründen. Der Verteidiger der Bürgerrechte muss beweisen, dass er zu Recht verteidigt, was doch eigentlich Status Quo und verfassungsmäßig verbrieft ist. Hingegen haben die „Revolutionäre“, die den Status Quo verändern wollen, das Recht scheinbar auf ihrer Seite.
Sie müssen nichts beweisen, weil ja nichts zu befürchte stehe für den Unbescholtenen. Zudem schöpfen die „Revolutionäre“ ihr Recht aus dem beschworenen Extremfall, dem terroristischen Anschlag. Die Gefahr für Leib und Leben erfordert unverzügliches Handeln. Das Leben des Einzelnen ist das höchste Gut. Dies zu schützen hat darum absoluten Vorrang. Entsprechend müssen andere Anliegen vor dieser Aufgabe zurücktreten. Das gilt auch für den Schutz der Privatsphäre. Die rhetorische Botschaft lautet ja nun: Die Privatsphäre ist Privatinteresse, dessen Verfolgung im Ernstfall sehr vielen Menschen das Leben kosten kann: Es bindet dem Staat durch Verbote die Hände, dem Terror effizient vorzubeugen. Wer aber sieht sich berechtigt, diesen Preis für den Schutz seiner Privatsphäre zu zahlen?
Darauf ist schwer zu antworten. Dies gelingt nur, wenn man die Widersprüche und verdrängten Probleme der Aussage „Wer nichts zu verbergen hat ...“ zum Thema macht. Weil die Kontrolle unabdingbar und deren Verhinderung als Ausbremsen des Staates bei der Erfüllung seiner Aufgaben angesehen werden, wird der Widerstand gegen die Aushebelung der Bürgerrechte selbst unter Verdacht gestellt.
Aus der Behauptung, dem Einzelnen entstehe ja kein Schaden durch die Kontrolle, folgen zwei mögliche Gründe für Proteste gegen die Ausweitung: a) Der unbescholtene Bürger rennt unwissentlich gegen einen Popanz an. Hier helfe dann Aufklärung und die Aussage „Wer nichts zu verbergen hat...“ leiste diese mit dem Hinweis, dass die Angst unbegründet ist. Oder: b) Der Protestierer hat etwas zu verbergen, der Protest ist also lediglich Schein und Mittel, sich der drohenden Entdeckung zu entziehen.
Entsprechend erscheint der Protest letztlich als unberechtigt und kann abgewiegelt werden. Wo er den Verdacht erregt, lediglich Strategie zu sein, wird wiederum Kontrolle unvermeidlich, denn sein Zweck ist dann die Aufrechterhaltung jener Schutzräume, in denen ungestört auch Terrorpläne gedeihen können. Der ehrliche wie auch der lediglich strategische Protest sehen nach außen aber gleich aus. Deshalb ist es eigentlich sinnvoll, jeden Protest vorsorglich unter Verdacht zu stellen. Ob diese Befürchtung dann berechtigt war, erweist allein der kontrollierende Zugriff des Staates.
Ein solcher Zugriff erfolgt derzeit wohl nicht. Der rhetorische Kniff besteht stattdessen in der zwischen den Zeilen formulierten Drohung, dass der Protestierer als verdächtig angesehen werden könnte. Die Kritiker geraten dadurch in Begründungsnot, weil sie beweisen müssen, dass sie nicht durch heimliche Sympathie oder fahrlässige Naivität motiviert sind.