Werbung maßgeschneidert
Sind Anzeigen, die auf individuelle Kunden abgestimmt sind, die Zukunft der Werbeindustrie? Möglicherweise - auf jeden Fall werden sie den Charakter von Öffentlichkeit verändern, sagen die US-Medienwissenschaftler Turow und Hoofnagle
Ob Lebensmittel, Haushaltsgeräte oder kommerzialisierte Freizeitaktivitäten - seit die Bedürfnisse der Bevölkerung in erster Linie durch Massenproduktion gestillt werden, gibt es auch Werbung für die Massen. Die Hersteller wollen mit ihrer Hilfe den Absatz der Waren ausweiten oder ihn wenigstens stabil halten. Aber die Konsumenten sind notorisch eigensinnig. Sie wechseln die Waschmittelmarke, wie es ihnen beliebt, ohne dass man sagen könnte, warum. Sie fliegen nach Ägypten statt nach Mallorca und schauen den Kinofilm, dessen Herstellung einige Millionen gekostet hat, hartnäckig trotzdem nicht an.
Deshalb versuchen eine veritable Wissenschaft und eine ganze Industriebranche, die Konsumenten unter Kontrolle zu bekommen. Sie portionieren [1] die potentiellen Käufer in verschiedene Zielgruppen – von „hedonistischen Doppelverdiener ohne Kinder“ über „Konsum-Materialisten“ bis zu „DDR-Nostalgikern“ -, erfassen sie statistisch und konfrontieren sie mit entsprechenden Werbebotschaften, die sie für wirkungsvoll halten. Die Marktforschung bildet repräsentative Testgruppen, misst Reaktionszeiten und die Bewegungen der Iris oder stellt graphisch dar, wie der typische Blick über eine Anzeige wandert.
Die Werbeindustrie betreibt also eine Menge Aufwand, allerdings mit nur bescheidenem Erfolg. Der britische Medienwissenschaftler John Fiske schätzte im Jahr 2000, dass „zwischen 80 und 90 Prozent der neuer Produkte auf dem Markt trotz großen Werbeaufwands versagen“. Und nach wie vor gilt die Klage von John Wanamaker, dem Erfinder des modernen Kaufhauses und Marketing-Pionier: „Die Hälfte der Werbung ist nutzlos, aber man weiß nicht, welche Hälfte.“
Der Entscheidungsprozess der individuellen Konsumenten ist und bleibt eine black box. Oder doch nicht? Das populäre Internet eröffnet der Werbeindustrie neue, ungeahnte Möglichkeiten. Die Marktforschung erhält Einblick in das individuelle Verhalten der Nutzer in Echtzeit und damit in deren Interessen und Vorlieben. Die Zauberworte heißen „Web-Tracking“, „maßgeschneiderte“ oder „Verhaltenswerbung“ (tailored/behavioural advertising). Sie soll den Konsumenten genau das anbieten, was diese gerade brauchen (könnten). Das wäre der Königsweg zum Kunden, einer ohne die finanziellen „Streuverluste“, unter denen die herkömmlichen Werbekampagnen leiden. Ja, sogar ein alter Markthändlertraum könnte nun wahr werden: Die Preise ließen sich auf den jeweiligen Konsumenten abstimmen, bis zu der maximalen Summe, die er für eine bestimmte Ware zu zahlen bereit ist.
Das sieht heute beispielsweise folgendermaßen aus: Der Student Thomas will mit Freunden Urlaub machen, „irgendwo in den Süden“, vielleicht in Indonesien. Er informiert sich also in einem Internetforum über das Land, fragt nach Tipps für günstigen Übernachtungsmöglichkeiten – und sieht auf jeder neuen Seite eine andere Werbeanzeige für Hotelübernachtungen. Thomas hat bei seiner Anfrage bestimmte Stichworte benutzt, durch die er in das Raster der Werbefirmen geraten ist, die automatisch Angebote macht. Aber tailored advertising geht noch ambitionierter: Die Journalistin Anja betreibt einen Blog. Dort verschafft sie ihrer politischen Frustration Luft, präsentiert ihren Freunden kurze Musikvideos oder erzählt kleine Begebenheiten aus ihrem Alltag. Eines Tages beschwert Anja sich in ihrem Blog heftig über eine Fluggesellschaft, die ihren Flug verlegt hat, ohne ihr das mitzuteilen. Auf ihrem Bildschirm erscheint prompt eine Anzeige einer Anwaltskanzlei, die anbietet, ihre Schadensersatzforderungen zu prüfen und durchzusetzen.
Individualisierte Profile der Internetnutzer
Solche Praktiken sind bereits gängig. Auf gezielte Werbung setzen Internethändler wie Amazon, große Werbe-Netzwerke wie Google, Yahoo, AOL oder ValueClick und schließlich Einzelhandelsketten, die das Geschäft im Internet nebenbei betreiben. Email-Provider und Internet-Netzwerke verkaufen digitale Werbeflächen en gros an Dritte. Allerdings handelt es sich nicht um Informationssammlungen über bestimmte Personen, sondern um Analysen, die Stichworte des Internetnutzers mit der Webseite in Verbindung bringen, die er besucht. Es können auch mehrere Stichworte „semantisch“, also nach ihren Sinnbezügen, verknüpft werden, wie im Fall der Journalistin Anja.
Aber auch aus der Kombination von mehreren Wortfeldern lassen sich nur begrenzt Rückschlüsse ziehen. Das Bild des Netznutzers bleibt unscharf. Entsprechend ungenau ist die Platzierung der Werbung bei Suchmaschinen. Dazu kommt das Problem der Anonymität. Vielleicht treibt sich da ein Habenichts aus reiner Langeweile auf der Internetseite für Luxuslimousinen herum? Dann hieße es, Zeit, Geld und Speicherplatz zu verschwenden, wenn man ihm beispielsweise einen Kredit anbietet. Um von der Zielgruppe zur Zielperson zu kommen, sind individuelle Profile nötig, die tatsächlich existierenden Individuen zugeordnet werden können.
Den individualisierten Kundenprofilen von Netznutzern stehen aber nicht nur gesetzliche Vorschriften im Weg, sondern auch technische Schwierigkeiten. Es ist nicht so einfach, die Kommunikation über das Internet einer bestimmten Person zuzuordnen. Sie läuft über das Internetprotokoll und verrät dem Betreiber einer Webseite nur eine IP-Adresse, die sich normalerweise jeden Tag ändert, außerdem das benutzte Betriebssystem, den Typ des Browsers und die letzte Seite, von der aus der Besucher auf die Webseite kam. Aus der IP-Adresse wiederum lässt sich sein ungefährer Standort ableiten, der für sich genommen nicht besonders aussagekräftig ist. Nur die Internetanbieter können IP-Adressen einer Person zuordnen. Es gibt auch tatsächlich Werbe-Unternehmen, die das Kundenverhalten auf dieser Ebene analysieren; das bekannteste Beispiel ist Phorm [2]. Aber dazu muss der Provider mitspielen, und dessen Kunden reagieren in aller Regel sehr ungehalten auf deep packet inspection, wie die Durchsuchung des Datenstroms an der Schnittstelle der Internetdienstanbieter genannt wird.
Es bleibt also nur das Internetprotokoll, und aus dessen Inhalt lässt sich wenig über die Konsumenten ableiten – jedenfalls auf den ersten Blick. Aber schon aus der Kombination des verwendeten Betriebssystems, der Uhrzeit und einem eingegebenen Suchbegriff werden Schlüsse gezogen. Die sogenannten „Klickpfade“ und begonnene, aber nicht abgeschlossene Käufe taugen für „Arbeitshypothesen“ über die Kunden. Manche Firmen versuchen außerdem, das Internetverhalten mit sozialdemographischen Daten wie Alter und Wohnort zu verbinden. Dabei kommen ihnen viele Nutzer sogar entgegen, wenn sie diese beispielsweise in sozialen Netzwerken freiwillig zur Verfügung stellen.
Um die Besucher einer Webseite über einen längeren Zeitpunkt hinweg zu identifizieren, obwohl sich ihre IP-Adressen ändern, kommen bekanntlich HTTP-Cookies zum Einsatz. Offenbar steigt die Zahl der Internetnutzer, die diese Textdateien regelmäßig löschen. Die Firmen reagieren mit dem verstärkten Einsatz von Flash Cookies, die bisher nur wenige ambitionierte und technikaffine Nutzer für problematisch halten. Eine Stichprobe [3] der Berkeley School of Law ermittelte im Sommer, dass über die Hälfte der untersuchten amerikanischen Webseiten Flash zur Identifikation einsetzte.
Die Menschen lehnen gezielte Werbung ab
In der Vergangenheit argumentierten die Werbeunternehmen regelmäßig, dass es im Interesse der Nutzer sei, „personalisierte Informationen“ zu erhalten. Eine Gruppe von US-amerikanischen Medienwissenschaftlern hat jetzt die Einstellungen der Bevölkerung zu gezielter Werbung im Internet [4] untersucht. Zumindest in den USA scheinen die Nutzer nicht begeistert zu sein. Zwei Drittel der Befragten lehnten sie ab. Wenn die gängigen Methoden erklärt wurden, mit denen Firmen die Internetnutzer identifizieren und ihr Verhalten zu verfolgen, stieg die Ablehnung weiter an.
Unsere Ergebnisse legen nahe, dass die Amerikaner heute behavioural advertising abschaffen würden, wenn sie darüber abstimmen dürften.
Turow/King/Hoofnagle/Bleakley/Hennessy (2009): Americans Reject Tailored Advertising and Three Activities that Enable It
Die Autoren gehen dennoch davon aus, dass sich die mehr oder weniger gezielte Werbung immer häufiger zum Einsatz kommen wird – wahrscheinlich auch außerhalb des Internets.
Werbe-Netzwerken wie Google, AOL, ValueClick und anderen Firmen benutzen komplexe Formeln, um Millionen Menschen in bestimmte Kategorien einzuteilen, sie treffen Annahmen über das Geschlecht des Nutzers – ob das Suchverhalten männlich oder weiblich ist -, über Lebensstil und Persönlichkeit. Noch haben die Werbe-Netzwerke nur wenige geographische, demographische und psychologische Informationen über die einzelnen Netznutzer. Nichtsdestotrotz wächst das Wissen dieser Netzwerke, und Tracking verbreitet sich über das Internet hinaus auf Mobiltelefone und TV Set-Top-Boxen.
Turow/King/Hoofnagle/Bleakley/Hennessy
Besonders brisant werden die Informationssammlungen über das Online-Verhalten, wenn sie mit Rabattsystemen im nicht-virtuellen Leben verbunden werden. Die US-amerikanische Supermarktkette Stop and Shop [5] experimentierte vor kurzem mit Einkaufswagen mit digitalem Display, bei dem sich die Kunden mit ihrer persönlichen Kundenkarte einwählen können, um dann während ihres Einkaufs Hinweise auf Sonderangebote zu bekommen.
Trotz der wachsenden Informationsfülle kann die Werbeindustrie dem individuellen Warenkäufer niemals gerecht werden, schon gar nicht sein Verhalten voraussehen. Auch mit maßgeschneiderter Werbung wird sie also ihr Grundproblem – den unberechenbaren Kunden – nicht lösen können. Aber schon ihr Versuch könnte den Charakter und die Struktur der Öffentlichkeit grundlegend verändern. Das Mediensystem, wie wir es kennen, ist schließlich nicht zuletzt das Ergebnis der Strategien, mit denen die Werbeindustrie das Dilemma des unbekannten Kunden umgehen will. Dass die Bahnhofsbuchhandlungen in ihren Regalen kaum noch Platz für die unzähligen Magazine für Spezialinteressen finden – vom Modelleisenbahnbau über Bodybuilding für Frauen bis zu einem Heft für jede noch so kleine Popmusik-Sub-Sub-Szene – liegt daran, dass diese Magazine ihren Anzeigenkunden einen privilegierten Zugang zur Kundschaft bieten können. Dass Zeitungen wie die Frankfurter Allgemeine oder die Zeit immer noch eine qualitativ bessere Berichterstattung bieten als andere, liegt nicht zuletzt daran, dass sie die kaufkräftigeren Leser haben und für Werbung für teure Autos, Rolex-Uhren und Armani-Anzüge mehr verlangen können.
„Gezielte Werbung führt zu einer Zersplitterung der Öffentlichkeit“
Wie wird gezielte Internet-Werbung die Medien verändern? Wie funktioniert sie und was sind ihre Grenzen? Darüber sprachen wir mit Joseph Turow [6], Professor für Kommunikationswissenschaft an der Universität von Pennsylvania, und Chris Hoofnagle [7] vom Berkeley Center for Law and Technology, zwei Autoren einer aktuellen Studie über gezielte Internetwerbung. Sie befürchten eine zunehmende Fragmentisierung der Öffentlichkeit.
URL dieses Artikels:
https://www.heise.de/-3383679
Links in diesem Artikel:
[1] http://www.sociovision.de/loesungen/sinus-milieus.html
[2] http://www.phorm.com
[3] http://papers.ssrn.com/sol3/papers.cfm?abstract_id=1446862
[4] http://graphics8.nytimes.com/packages/pdf/business/20090929-Tailored_Advertising.pdf
[5] http://www.stopandshop.com/account/login.htm
[6] http://www.asc.upenn.edu/ascfaculty/FacultyBio.aspx?id=128
[7] http://www.chrishoofnagle.com/mainsite/home.html
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