Westliche Diplomatie-Verachtung: Kriege in der Ukraine, Nahost könnten beendet werden
Seite 2: Chancen für Frieden nach US-Wahl
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Seitdem hat es immer wieder Signale von Russland gegeben, für Verhandlungen bereit zu sein. Doch die USA weigerten sich, Gespräche zu ermöglichen, während die ukrainische Führung von Russland de facto verlangt zu kapitulieren. Das ist die Bedeutung von Selenskyjs Friedensplan.
Zugleich wurde die Aufnahme der Ukraine in die Nato von den USA wie zuvor betrieben, und die Europäer haben nicht den Mut, dem einen Riegel vorzuschieben.
Wie die Chancen für Diplomatie im Moment stehen, nach der US-Wahl, ist nicht leicht zu bewerten. Trumps Ankündigung als Präsidentschaftskandidat, den Krieg in 24 Stunden zu beenden, ist erstmal Wahlkampfrhetorik. In seiner ersten Amtszeit hat er die Ukraine unterstützt, Waffen geliefert und keinen Schritt unternommen, den Konfliktkern, die Nato-Mitgliedschaft der Ukraine, vom Tisch zu holen.
Trump hat auch bisher nicht erklärt, wie eine Einigung erzielt werden soll. Sein designierter Vize-Präsident JD Vance hat im Wahlkampf die Eckpunkte eines möglichen Deals mit Putin skizziert: Die Ukraine solle die von Russland eroberten Gebiete abtreten.
Im Gegenzug wird garantiert, dass die Ukraine nicht der Nato beitritt. Dazu soll es Sicherheitsgarantien für die Ukraine geben, eine militärische Pufferzone, um einen erneuten Angriff von Russland zu unterbinden.
Das wäre eine Anfangsbasis, mal schauen, was daraus wird.
Schwierige Fahrwasser
Es hat nach der Wahl von Trump auch Signale aus Kiew und Moskau gegeben, die man dahingehend interpretieren könnte, dass sich beide Seiten Gesprächen nicht verschließen wollen.
Wie auch immer: Die USA spielen weiter eine entscheidende Rolle: Geben sie den Weg tatsächlich frei für Verhandlungen oder blockieren sie still und heimlich weiter, während sie die Nato-Mitgliedschaft puschen? Ist es ihnen wirklich ernst mit einer Friedenslösung, inklusive der dafür notwendigen Zugeständnisse von ukrainischer Seite?
Anatol Lieven, einer der erfahrensten Eurasien-Experten in den USA, legt den Finger in die Wunde, wenn er vor der US-Wahl prognostizierte:
Wenn Trump gewinnt, wird es einen frühen Vorstoß für eine Friedensregelung geben. Er wird nicht alle Forderungen Russlands erfüllen, aber Russland könnte sie dennoch vorläufig akzeptieren, in der Hoffnung, dass die Ukraine (und Polen) sie ablehnen und Trump die Ukraine dann im Stich lässt. Wir werden dann sehen müssen, ob Trump und seine Regierung das Geschick und die Ausdauer haben, einen komplizierten und angespannten Verhandlungsprozess zu führen.
Verhandeln oder Weltkrieg
Ein wichtiger Faktor ist auch die Situation auf dem Schlachtfeld. So erklärte George Beebe, Direktor des Grand Strategy Programms beim Quincy Institute, ebenfalls vor der US-Wahl:
Unabhängig davon, wer gewinnt, wird der nächste amerikanische Präsident in der Ukraine mit harten Realitäten konfrontiert werden, die eine Änderung von Bidens derzeitiger Politik erfordern. Die Russen sind der ukrainischen Bevölkerung zahlenmäßig weit überlegen und verfügen über weitaus mehr militärisches Material als die Ukraine und ihre westlichen Unterstützer.
Infolgedessen könne die Ukraine einen Zermürbungskrieg mit Russland nicht gewinnen und steuere früher oder später auf einen allgemeinen Zusammenbruch zu, so Beebe, wenn nicht entweder eine diplomatische Einigung zur Beendigung des Kriegs oder eine Entscheidung der USA, direkt Krieg gegen Russland zu führen, getroffen werde.
Das ist die Alternative: Diplomatie oder Weltkrieg, darauf läuft es hinaus. Eine Alternative, die seit Beginn des Kriegs über unseren Köpfen schwebt – auch wenn das im Westen als Putin-Propaganda abgetan wird.
Die Büchse der Pandora
Die prekäre Realität auf dem Schlachtfeld für die Ukraine scheint auch ein Nachdenken in europäischen Hauptstädten auszulösen. Kanzler Scholz soll z.B. informell vor einem Treffen mit Nato-Generalsekretär Mark Rutte am 4. November in Berlin von einer "Finnlandisierungs-Option" gesprochen haben, also Neutralisierung der Ukraine.
Am 16. November telefonierte Scholz sogar mit Putin, nach zwei Jahren Funkstille. Selenskyj war verärgert und warnte davor, mit dem Gespräch die "Büchse der Pandora" zu öffnen.
Pessimisten sind vielleicht geneigt zu sagen: Russland könnte nun angesichts der Vorteile auf dem Schlachtfeld kaum noch daran interessiert sein, Kompromisse einzugehen, während der Kreml unerfüllbare Forderungen stellt. Diese Befürchtung ist sicherlich berechtigt.
Eine Untersuchung zeigt uns jedoch, dass es weiter Chancen für ein Ende des Kriegs auf dem Verhandlungsweg gibt, da auch Russland Interesse daran haben muss. Denn es wäre der bessere bzw. einzige, zudem weit kostengünstigere Weg für Moskau, seine Ziele in der Ukraine nachhaltig zu erreichen.
Darunter fallen Demilitarisierung, nachhaltige Sicherheit an der eigenen Grenze, Entnazifizierung und der Schutz von russischsprachiger Bevölkerungsteile usw. Vor allem stelle die starke Abhängigkeit von China im Zuge der wirtschaftlichen Abkopplung durch die Sanktionen und die geopolitische Isolierung von Europa und dem Westen ein Problem für Moskau dar, was nur durch eine Friedenslösung überwunden werden könne.
Aber auch das ist wahr: Die Möglichkeit auf Frieden schwindet, so die Studie, je länger der Krieg andauert.
Darum ist es so dringend, dass endlich verhandelt wird, der Westen aktiv den Frieden ermöglicht. Es sind keine schönen Wege hin zu Gerechtigkeit, die sich uns bieten, aber sie würden ein größeres Übel verhindern: endloser Krieg mit atomarer Eskalationsspirale.
Frieden ist möglich
Es sollte klar geworden werden, warum die USA und ihre Verbündeten, der Westen, bei beiden Kriegen, in der Ukraine und in Gaza, versagt haben, moralisch und realpolitisch, wenn auch in unterschiedlicher Dimension. In Gaza ist es ein kriminelles, inhumanes Komplettversagen.
Es gibt für beide Kriege bis heute Wege für eine zivile Beendigung, wenn der Westen bereit ist, das ernsthaft zu unterstützen. Aber dazu ist das von den USA angeführte Bündnis bisher nicht bereit. Im Fall der Ukraine muss in den USA und Europa vor allem anerkannt werden, dass das Land nicht Nato-Mitglied werden kann.
Im ersten Teil des Essays habe ich darüber hinaus aufgezeigt, dass Frieden in Nahost seit Jahrzehnten möglich wäre. Einzige Voraussetzung: Israel darf nicht länger von den USA darin unterstützt werden, seine illegale Besatzung und Annexionspolitik fortzusetzen und die international geforderte Zweistaatenlösung zu blockieren.
Aber weil der Westen an "militärischen Lösungen" und am Diplomatie-Tabu festhalten will, werden beide Kriege in der westlichen Öffentlichkeit in "schwarze Wolken" gehüllt. Darum lässt man die Konflikt-Zeitrechnung in der Ukraine am 24. Februar 2022 starten, die in Gaza am 7. Oktober 2023, als ob die Kriege vom Himmel gefallen wären.
Darum wird das Recht auf Selbstverteidigung völkerrechtlich und moralisch in eine Grauzone gepackt.
Hysterie und Zensur
Deswegen hängen ukrainische Flaggen überall im Land vor öffentlichen Gebäuden, aber keine palästinensischen. Die werden bei Protesten vielmehr von Polizisten konfisziert oder von randalierenden israelischen Hooligan-Fußballfans wie vor einiger Zeit in Amsterdam aus Fenstern gerissen, während der Mob den Genozid feiert und rufen darf: "In Gaza gibt es keine Schulen, weil es keine Kinder mehr gibt."
Weil das Versagen des Westens so weit reicht und die militarisierte Zeitenwende, von Ukraine bis Nahost, gegen alle Vernunft und gegen friedliebende Bevölkerungen durchgesetzt werden musste, herrschen Hysterie und Zensur gegenüber abweichenden Stimmen und Meinungen, die die westliche Haltung infrage stellen und kritisieren.
Kritiker der westlichen Eskalationsstrategie werden pauschal Putin-Versteher genannt. Russische Künstler verlieren ihre Engagements, mit absurden Begründungen, russische Sender werden verboten.
Derweil wird aufgerüstet gegen den vermeintlichen russischen Expansionismus, dem "Drachen, der fressen muss", wie es Selenskyj nun, ermutigt vom Westen, im Spiegel formulierte, der so bedrohlich ist, dass er nicht einmal ukrainische Städte 30 Kilometer von der russischen Grenze einnehmen konnte. Aber in Warschau, Berlin, Paris und London liegt man bereits in den Schützengräben.
Angriff auf die Meinungsfreiheit
Israel-Kritiker:innen werden mundtot gemacht, an den Antisemitismus-Pranger gestellt, selbst wenn sie Juden oder Israelis sind. Sie verlieren Jobs und Reputation. Demonstrationen werden verboten oder attackiert. Die Kontrolleure der sozialen Medien filtern Unliebsame aus.
Es gibt abstruse Sprachverbote, während der israelischen Regierung ein Blankoscheck ausgestellt wird, auch den Libanon und Iran zu attackieren, während die USA und Deutschland die Waffen liefern. Die ganze Region könnte in Brand gesteckt werden.
Das Ausmaß der Angriffe auf die freie Meinungsäußerung in den USA und Europa in Bezug auf die beiden Kriege ist meines Erachtens historisch beispiellos, obwohl auch in der Vergangenheit die Bürger auf Linie gebracht wurden, siehe das größte Verbrechen des 21. Jahrhunderts, die sogenannten Antiterrorkriege der USA mithilfe der Nato-Staaten.
Wer damals die Angriffskriege gegen die wehrlosen Entwicklungsländer Afghanistan und Irak als Verbrechen kritisierte, wurde als "Terroristenversteher" diffamiert.
Die Botschaft der intellektuell-politischen Klasse ist: Schweigt, wenn ihr uns nicht folgen wollt. Wir geben den Rahmen vor, in dem über die Kriege gesprochen werden darf.
Die Stimmungslage im Westen wird zu Recht mit der im Vorfeld des Ersten Weltkriegs verglichen, jener unheilvollen Phase, in der Europa in die katastrophale Zerstörung schlafwandelte. Diesmal wäre es mit Atomwaffen.
Was immer mehr Menschen wollen
Umfragen zeigen uns, dass viele Menschen, sogar Mehrheiten, nicht im vorgegebenen Rahmen denken, sie wollen mehr Diplomatie und ein Ende der Kriege. Aber die "schwarzen Wolken", die Flut an Propaganda und Meinungsmache, isolieren und paralysieren.
Darum ist Aufklärung und Austausch so wichtig. Nicht nur, um eine rationale Gegenposition zu entwickeln, sondern auch, um der Isolierung und Hilflosigkeit zu entkommen. Es sind die Samenkörner für die dringend benötigten politischen Gegenbewegungen, die die Welt besser und friedlicher machen wollen.