Westliche Heuchelei: Wollen wir wirklich den "Big Bang" in Nahost?
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- Höchste Zeit für Diplomatie
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Die Propagandalinie heißt: Wir sind die "Guten", sie die "Bösen". Das ist nicht nur falsch, sondern könnte die Region in den Abgrund reißen. Was jetzt klug wäre. Gastbeitrag.
Der Blitzkrieg der Hamas hat Politik und Militär in Israel kalt erwischt. So brutal und menschenverachtend er auch war, hat die "Bewegung des islamischen Widerstands", arabisch abgekürzt Hamas, jetzt schon Geschichte geschrieben.
Zum einen hat sie den Nimbus der israelischen Armee, nämlich unbesiegbar zu sein, nachhaltig erschüttert. Fast drei Tage lang hielten mehr als 1.000 Kämpfer der Hamas bis zu 25 israelische Ortschaften in Grenznähe unter ihrer Kontrolle, feuerten sie Tausende Raketen auf Israel, töteten wahllos Zivilisten und verschleppten rund 150 Israelis [heute sollen es nach neuesten Angaben bis zu 200 sein, Telepolis] in den Gazastreifen, wo sie ein düsteres Schicksal erwartet. Das ist, jenseits aller moralischen Erwägungen, ein bemerkenswerter militärischer und politischer "Erfolg".
Und zum anderen dürften die geopolitischen Karten in der Region neu verteilt werden. Bereits unter US-Präsident Trump erfolgte die Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen dem jüdischen Staat und Bahrein, den Vereinigten Arabischen Emiraten, Sudan und Marokko 2020/21.
Gekrönt werden sollten diese "Abraham Accords" durch einen von Präsident Biden mit Nachdruck angestrebten Friedensvertrag zwischen Saudi-Arabien und Israel. Der saudische Machthaber Mohammed Bin Salman hat allen Grund, dieses Projekt auf unbestimmte Zeit zu vertagen.
Die militärische Antwort Israels wird ohne jeden Zweifel dermaßen blutig ausfallen, dass die zu erwartende Empörung in der arabischen und islamischen Welt den dortigen Herrschern gefährlich werden könnte. Sie selbst haben die Palästinenser politisch längst abgeschrieben, wie auch der kollektive Westen – das gilt allerdings nicht für die arabische Straße. Was übrigens die Sonnenallee in Berlin-Neukölln ausdrücklich mit einbezieht.
Niemand weiß, was in den nächsten Tagen und Wochen geschieht. Alles ist denkbar, nichts unmöglich. Kommt es zum Krieg auch im Westjordanland, zwischen Israel und der Hisbollah im Libanon?
Bislang hält sich die "Partei Gottes" abgesehen von Nadelstichen zurück – das muss nicht so bleiben. Israels Premier Netanjahu warnt seit drei Jahrzehnten obsessiv vor dem iranischen Atomprogramm und hat wiederholt mit Angriffen auf den Iran gedroht. Die grausamen Bilder hingemordeter Zivilisten in Südisrael liefern ihm jetzt den erforderlichen Vorwand und die westliche Rückendeckung, weit über den Gazastreifen hinaus Vergeltung zu üben.
Was für eine glückliche Fügung, dass das Wall Street Journal am 8. Oktober exklusiv zu berichten wusste, dass iranische Offizielle und Angehörige der Islamischen Revolutionsgarde den Angriff auf Israel über Wochen hinweg vorbereitet hätten, gemeinsam mit Vertretern der Hamas in Beirut. Als Beleg gelten Interviews mit ungenannt bleibenden lokalen Quellen.
Die iranische Führung lässt keinen Zweifel an ihrer Freude über Israels Unglück. Deren Hardliner lassen ebenso wenig Vernunft erkennen wie Israels Ideologen – die beste Voraussetzung für einen weiteren Stellvertreterkrieg in der Region oder gar den Big Bang.
Es verheißt nichts Gutes, dass die USA den größten Flugzeugträger der Welt, die "Ford", begleitet von einer Armada kleinerer Kriegsschiffe, ins östliche Mittelmeer verlegen. Vordergründig ist das eine Geste der Solidarität mit Israel. Es könnte aber auch der Auftakt sein für eine Entwicklung, die in einer Katastrophe mündet.
Unterdessen ruft Premier Netanjahu, der das Land zu spalten wusste wie keiner seiner Vorgänger, zur nationalen Einheit auf. Wer redet jetzt noch vom Angriff seiner Regierung auf die Demokratie?
Die monatelangen Proteste Hunderttausender Israelis gegen die geplante Justizreform sind fast schon ferne Vergangenheit. Die Regierung Netanjahu handelt indes nicht rational und strategisch, sondern geleitet von Rache. Emotional mag das verständlich sein, politisch gießt sie damit Öl ins Feuer.
Verteidigungsminister Yoav Galant trägt auch deswegen eine Mitverantwortung für den Blitzkrieg der Hamas, weil er größere Truppenteile von der Grenze zum Gazastreifen abziehen ließ – um sie stattdessen zum Schutz fanatisierter Siedler im Westjordanland einzusetzen. Es passt ins Bild, dass er Palästinenser als "menschliche Tiere" bezeichnete.
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Netanjahu empfahl denen im Gazastreifen, ihn "jetzt zu verlassen", denn alle Orte, an denen sich Hamas-Kämpfer aufhielten, würden "in Trümmer" gelegt. Der Ratschlag ist zynisch: Die 2,3 Millionen Bewohner des Gazastreifens, mehrheitlich Nachfahren von Palästinensern, die 1947/48 aus eben jenen Gebieten in Südisrael vertrieben wurden, in denen jetzt der Blitzkrieg der Hamas erfolgte, leben in einer der am dichtesten besiedelten Regionen der Welt.
Israel wie auch Ägypten haben dieses Freiluftgefängnis hermetisch abgeriegelt. Weder gibt es für sie ein Entkommen vor dem israelischen Dauerbombardement, noch Bunker – entsprechend hoch sind ihre Opferzahlen. Das gilt erst recht für den Fall einer Bodenoffensive.
Die israelische Regierung ist die rechteste in der Geschichte des Landes. Großisrael-Ideologen und messianisch aufgeladene Zeloten geben den Ton an. Sie träumen davon, den von den Römern zerstörten Zweiten Tempel in Jerusalem wiederaufzubauen – allerdings steht die Al-Aqsa-Moschee (noch?) im Weg.
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