Wettrüsten ohne Substanz: Moral ist eine Show – und zwar eine ziemlich schlechte!

Rüdiger Suchsland
Faust mit den gut lesbaren Buchstaben

Bild: No-Mad /Shutterstock.com

Moral als Statussymbol. Philosoph Philipp Hübl über gefühlte Wahrheiten, woke Selbstdarstellung und die Abkehr von der Einschüchterungskultur. (Teil 1)

Moral ist einfach die Haltung, die wir gegenüber Menschen einnehmen, die wir persönlich nicht mögen.

Oscar Wilde (1854 - 1900)

Guy Debords Gesellschaftsdiagnose, nach der wir in einer "Spektakelgesellschaft" leben, ist bald 60 Jahre alt. Dabei meinte der französische Künstlerphilosoph mit seiner spektakulären These vor allem die Medien und den Kapitalismus. Ein drittes Element spielte bei ihm keine Rolle: die Moral.

Diese rückt der Berliner Philosoph Philipp Hübl jetzt in seinem neuen Buch "Moralspektakel" ins Zentrum. Dort legt er auf knapp 300 Seiten dar, wie die richtige moralische Haltung gegenwärtig zu einem Statussymbol verkommen ist.

Die Mitte der Gesellschaft interessiert sich nicht für diese Themen

Gefühlte Wahrheiten sind nicht immer wahr. Manchmal aber eben doch. So verhält es sich zum Beispiel mit der "cancel culture", die es, glaubt man manchen woken Linken, ja überhaupt nicht gibt, außer in den kleinen Hirnen irgendwelcher dumpfer Rechter.

Das Problem für diese woken Linken ist, dass seit einigen Jahren die cancel culture zurückgespiegelt wird, und man ihnen selbst nicht mehr alles durchgehen lässt. Die Debatte über canceln, über das, was man sagen darf und das Sagbare, über Diversität, über Gender-Sprache, über Rassismus sogenannte Queerfeindlichkeit, sogenannte Mikroaggressionen und Ähnliches, sind keine Debatte zwischen links und rechts und nicht mal eine Debatte zwischen der Linken und der sogenannten "Mitte der Gesellschaft".

Tatsächlich handelt es sich um eine Debatte, die allein innerhalb linker und linksliberaler Kreise geführt wird. Die Mitte der Gesellschaft, vulgo: normale Menschen, interessiert sich nämlich überhaupt nicht für diese Themen. Und die Rechten, vulgo: Rechtsextremisten sind noch nicht mal für Konservative satisfaktionsfähig.

Die Welt ist sensibler, "empathischer", "hysterischer" geworden

Im Gegensatz zu derartigen Nischenthemen ist ein anderer Umgang mit Themen, die vermeintlich Moral, Ethik und Werte betreffen und die Moralisierung aller anderen Themen aber in den Wohlstandsgesellschaften des Westens zu einem Breitenphänomen geworden.

Die Welt ist sensibler, und je nach eigener Position "empathischer" oder "hysterischer" geworden. Werte dienen in der postmodernen Gesellschaft nicht mehr dazu, Entscheidungen abzuwägen, sondern sind zum Medium der Selbstdarstellung und zum Exzellenzmerkmal geworden.

Dies ist es, das Hübl das "Moralspektakel" nennt. Ein solches "Moralspektakel" liegt nach Hübl immer dann vor, "wenn es in der moralischen Auseinandersetzung nicht um die Sache, sondern vorrangig um Selbstdarstellung geht".

Hübl weiß übrigens selbst genau, wovon er redet: Der Philosoph hat bis zum letzten Jahr eine Weile an der UdK in Berlin gelehrt. In der deutschen Hauptstadt mit ihrem – vorsichtig gesagt – sehr speziellen Kulturmilieu und einer sehr speziellen Studentenschaft war es allerdings für ihn nicht möglich, dass er dauerhaft seine Thesen weiter lehren konnte.

Im Interview mit dem SZ-Magazin berichtete er von der – "Shitstorm wäre übertrieben" – fäkale Brise nach einer Kolumne im Deutschlandradio zu Rassismus.

Die Sache drang bis zur Universität der Künste in Berlin vor, an der ich damals unterrichtete. Zwei Kolleginnen schrieben einen offenen Brief auf der Webseite der Uni, statt persönlich mit mir zu sprechen. Und wollten zunächst verhindern, dass ich dort darauf antworte. Eine skurrile Erfahrung.

Philipp Hübl

Wie zu hören ist, fühlte sich manche Studis auch in seinen Lehrveranstaltungen unbehaglich oder zumindest in ihren vorhandenen Ansichten und (Vor-)Urteilen nicht bestätigt – was neuerdings gern zur Aufgabe von Lehrveranstaltungen gerechnet wird.

Hübls Professur wurde zur Überraschung vieler, aber nicht zur Überraschung mancher Eingeweihter nicht verlängert. Ein Eigentor der UdK, eines von vielen in letzter Zeit. Zugleich ein Symptom für die hier an diesem Ort schon öfter bemerkte Tatsache, dass die deutsche Kultur ein Berlin-Problem hat.

Symbole statt Substanz: Probleme sind durch moralische Sensibilitäten abgelöst worden

In der "schönen neuen Welt" unserer Gegenwart, haben sich die Themen vom Öffentlichen, Politischen ins Private, Gefühlige und vom Substantiellen ins Symbolische verschoben – so das Fazit von Hübls Einleitung.

Die Debatten über die großen Probleme seien durch moralische Sensibilitäten abgelöst worden: Gesundheit, Einkommen, Familienplanung, Gesundheit und Ernährung der einzelnen Bürger, erst recht sogenannter "prominenter Vorbilder" und "Influencer" spielen in den öffentlichen Debatten oft eine wichtigere Rolle als Fragen von Krieg und Frieden, oder Menschenrechten in der Welt.

Plötzlich ist es wichtig, ob eine Autorin mit weißer Hautfarbe den Text einer Autorin mit schwarzer Hautfarbe übersetzen darf, oder ob eine deutsche Politikerin als Kind gerne Indianerhäuptling gespielt hat.

Hübl spricht auch über jene "Einschüchterungskultur, die manchmal missverständlich cancel culture genannt wird", wenn man "Leute deren Wertvorstellungen einem missfallen, nicht einfach ignoriert oder mit Argumenten widerlegt, sondern sie stattdessen öffentlich oder privat unter Druck setzt oder sogar versucht, ihre berufliche Lebensgrundlage zu zerstören".

Die wohlfeile Gegenrede, nach der es Cancel Culture "eigentlich" gar nicht gebe, widerlegt Hübl dabei konsequent mit Belegen und Verweisen auf wissenschaftliche Studien, die sich in seinem Buch in Hülle und Fülle finden.

Gefangen in der Moralillusion

Im Folgenden mischt Hübl in zwei Teilen die Beobachtung der Gesellschaft mit einer Analyse und Bewertung ihrer Diskurse.

Der erste Teil des Buches heißt "Das Statusspiel" und schließt unmittelbar an Gedanken in Hübls vorherigem Werk über "Die aufgeregte Gesellschaft" und an seine parallel zum Schreiben des neuen Buches entstandene UdK-Vorlesung "Bullshit Resistenz" an, die jetzt auch in zweiter veränderter Auflage nochmals in Buchform erschienen ist.

Hübl beschreibt hierin, dass viele Menschen überhaupt nicht wissen, wovon sie reden, wenn sie von "Moral" reden. "Wir überschätzen unser Wissen über Moral, indem wir uns einbilden, wir hätten gute Gründe für unsere Werturteile", meint Hübl.

Im Alltag in Talkshows und Diskussionsrunden geben Menschen für ihre Meinung selten Gründe an, sondern sagen meist nur, ob sie etwas gut oder schlecht finden.

Philipp Hübl

Sie lassen sich von ihrem Bauchgefühl leiten, so der Philosoph. Aber unser Bauchgefühl irre in der Regel, wir seien in einer Moralillusion gefangen. Allzu oft herrscht, so Hübl, der Instinkt über die Vernunft.

Wettrüsten im Moraltheater

"Alle spielen Moraltheater", schreibt Hübl: Weil der Moralinstinkt sich entwickelt habe, um Anerkennung zu erreichen, es gehe bei Moralfragen nicht zuerst darum, das Richtige oder Gute zu tun, sondern darum, moralisch zu erscheinen. So weit, so normal - das sei die Natur des Menschen, gewissermaßen ein evolutionärer Zwang.

Doch in den letzten Jahrzehnten hat sich dieser Kampf um moralische Anerkennung deutlich zugespitzt. Die Ursache sind einmal mehr Digitalisierung und soziale Medien. Aber nicht nur die Form, auch die Kategorien und Werte des Moraldiskurses selbst haben sich deutlich verschärft.

Ein Problem liegt vor, wenn die moralische Selbstdarstellung wichtiger als das eigentliche Anliegen wird. Wenn "Moral" draufsteht, aber keine Moral drin ist. Wenn sich Hashtag-Aktivisten über Sätze aufregen, die Promis vor zehn Jahren im Suff getwittert haben.

Dann geht es nur darum, Signale an die eigene Gruppe zu senden, oder darum, Moral als Waffe gegen Konkurrenten einzusetzen, aber nicht darum, die Welt besser zu machen. So entwickeln wir uns als Gesellschaft nicht weiter, sondern fördern überflüssige Symbolpolitik, und sogar verzerrte Forschung und wirkungslose Maßnahmen gegen Diskriminierung.

Philipp Hübl, Interview, SZ-Maagzin

Diese Art der öffentlichen Diskussion verleitet die Menschen dazu, sich besonders moralisch korrekt darzustellen. Entweder, weil man nicht missinterpretiert werden will und es in Kontexten der schnellen, teilweise rasanten Kommunikation sehr leicht zu Missverständnissen kommt oder in denen man auch absichtlich falsch verstanden wird.

Man muss sich gegen etwaige moralische Angriffe vorab schützen. Denn auch bewusste Missverständnisse und das bewusste Ignorieren von Kontexten werden von den moralischen Selbstdarstellern gern eingesetzt.

Eine Art "Wettrüsten" in moralischer Reinheit sei entstanden: wenn man einmal damit anfängt, das bestimmte moralische Signale für eine Gruppe wichtig sind – zur Selbststabilisierung der Gruppe – dann beginnt ein gegenseitiger Überbietungswettbewerb.

Man kennt das Phänomen von den Religionen: Die Lehre wird immer reiner und besser. Noch reiner, noch sensibler, noch religiöser, noch tapferer, noch mehr auf der richtigen Seite. Solche sozialen und kulturellen Dynamiken haben sehr viel mit den sozialen Medien zu tun.

Die "sogenannte kreative Klasse"

Philipp Hübl macht vor allem akademische Kreise, Künstlermilieus und Medienmenschen dafür verantwortlich, dass diese Diskurse aus den Nischen der Fachliteratur in die breite Öffentlichkeit geschwappt sind.

In diesen Kreisen befindet sich der alltägliche Schau- und Kampfplatz des Moralspektakels. Hübl spricht von "der sogenannten kreativen Klasse, die in den Universitäten, im Kulturbereich, in den Medien und in der Technologiebranche arbeiten", vor allem aus den "reichen demokratischen Industrieländern, ... in denen die Menschen die geringsten materiellen Sorgen haben und vor allem nach Selbstverwirklichung streben".

Dies sind fast alles Akademiker. "Je besser ist einem materiell geht, desto eher ist man sensibilisiert für soziale Anliegen, desto weniger hat man einen Überlebensinstinkt." "Survival values" verändern sich hin zu "expression values".

Hübls Ansicht nach haben vor allem Akademiker die Begriffe aus dem engen und sehr genau situierten wissenschaftlichen Kontext in die Breite getragen und damit auch oft ins Diffuse verallgemeinert. Große Folgen hat das nicht, außer für die Beteiligten selbst:

In der kreativen Klasse spricht man die Sprache der neuen Moral. Doch das macht die Welt nicht gerechter – solche Sprachspiele sind entweder billige Signale, mit denen man vor allem seine Gruppenzugehörigkeit belegt, oder kostspielige Signale, die man sendet, um Status zu erlangen.

Philipp Hübl

So setzt ein Überbietungskampf ein, ein Konformitätsprozess, den man auch evolutionsbiologisch beschreiben kann.

Von der Blacklist zur Blocklist

In der kreativen Klasse ist man ebenfalls für Schaden sensibilisiert, doch hier ordnen sich viele der progressiven Fürsorgekultur zu, zeigen ihre Zugehörigkeit also, indem sie sich demonstrativ bemühen, vermeintliche Opfergruppen zu schützen.

Doch sobald Sensibilisierung zur Effekthascherei verwendet wird, entsteht auch hier ein Wettrüsten. Denn wenn alle mit der Lupe nach Diskriminierung suchen und ein falsches Wort dazu führen kann, dass andere einen angreifen oder kritisieren, muss man selbst noch genauer hinschauen.

Das mag erklären, warum das Berliner Staatsballett im Jahr 2021 Tschaikowskys Nussknacker vom Spielplan strich, weil die Intendantin den Chinesischen Tanz in diesem Ballett für rassistisch hielt, ohne Belege oder Umfragen vorzulegen, dass Chinesen das auch so empfinden.

Es könnte erklären, warum einige Aktivisten ein Wort wie 'Schwarzfahren' zu einem rassistischen Ausdruck erklären, obwohl es sprachhistorisch nichts mit der Hautfarbe von Menschen zu tun hat, sondern auf die Dunkelheit der Nacht anspielt, die man mit Kriminalität verbindet; und warum der Konzern Google seine "Blacklist" für schadhafte Websites zur "Blocklist" umbenannt hat, obwohl sich der Ausdruck ebenfalls nicht von der Farbe der Haut, sondern von der Farbe der schwarzen Tinte ableitet, die man schon im 17. Jahrhundert für Listen von unerwünschten Personen verwendet hat.

Philipp Hübl

In Teil 2 geht es um die zunehmende Normierung unserer Sprache und die daraus resultierende "Empörungserschöpfung".

Philipp Hübl: "Moralspektakel. Wie die richtige Haltung zum Statussymbol wurde und warum das die Welt nicht besser macht"; Siedler Verlag, München 2024.

Philipp Hübl: "Bullshit-Resistenz. Wie wir uns vor Lügen, Fake News und Verschwörungstheorien schützen können", (ursprünglich Berlin 2018, jetzt in zweiter veränderter Auflage) München 2024.

Philipp Hübl: "Die aufgeregte Gesellschaft: Wie Emotionen unsere Moral prägen und die Polarisierung verstärken, C. Bertelsmann Verlag, München 2019