Wie Atomkraftwerke zu Atombomben werden

US-Manöver an stillgelegtem AKW. Bild: army.mil

Die EU verteidigt die Kernenergie und nimmt zugleich militärische Auseinandersetzungen in Kauf. Eine gefährliche Kombination, findet unser Autor

Seit Monaten ringen die EU-Kommission und die Regierungsspitzen der EU-Staaten um die Vorlage einer sogenannten "Taxonomie", also auch darüber, ob sie Atomkraft und Erdgas als nachhaltig einstufen. Der Vorschlag bezieht sich auf die Idee, dass beim Entstehen einer Kilowattstunde maximal 100 Gramm CO₂-Äquivalente entstehen.

Die Oberflächlichkeit der Rechnung ergibt sich schon daraus, dass angesichts der Halbwertzeiten von Atommüll die Entsorgungsbelastungen der nächsten tausenden Generationen in dieser Rechnung unberücksichtigt bleiben – und damit auch die ökologischen Belastungen der Biosphäre auf der Erde.

Nur die Emissionen der Stromproduktion zu rechnen, ist daher ein Betrug auf Kosten unserer Nachfahren. Es handelt sich um eine Technik, die Atommüll als Abfallprodukt hervorbringt, für den es kein Endlager gibt, der aber für Jahrhunderttausende hermetisch von der Umwelt abgesondert bleiben muss. Hier betreibt die EU Greenwashing.

Hinzu kommt die Verantwortungslosigkeit, die damit zusammenhängt, dass man eine Technik grün nennt, die niemals einen größten anzunehmenden Unfall erleiden darf; der aber ist einkalkuliert, auch wenn es dazu wenige Informationen in der Öffentlichkeit gibt. Hier eine seltene Ausnahme in einer Stellungnahme des Bundesamts für Strahlenschutz gegenüber dem Evangelischen Pressedienst (epd):

Zur Vorsorge für einen möglichen Atomunfall in Deutschland oder in benachbarten Ländern vergrößert das Bundesamt für Strahlenschutz (BfS) den deutschen Vorrat an Jodtabletten. 189,5 Millionen dieser Tabletten seien für einen radiologischen oder nuklearen Notfall bestellt worden.

Es müssten genügend Tabletten vorgehalten werden, um auch Mehrfacheinnahmen zu ermöglichen, falls das erforderlich sei. Derzeit hätten Bund und Länder rund 130 Millionen Jodtabletten auf Vorrat.

Die Jodtabletten sollen an die Bevölkerung verteilt werden, sollten radioaktive Stoffe freigesetzt werden.

So lächerlich diese Vorkehrungen angesichts der Gefahren sind, die von einem '"Größten anzunehmenden Unfall" ausgehen, so interessant ist es, dass die Konzeption Zivile Verteidigung des Bundesinnenministeriums für "Schadensereignisse in einem Kernkraftwerk" diese großflächige Evakuierung vorgesehen ist:

"Die Länder haben für großräumige Evakuierungen (...) eine 'Rahmenempfehlung für die Planung und Durchführung von Evakuierungsmaßnahmen einschließlich der Evakuierung für eine erweiterte Region", konsentiert und sich ergänzend auf einen Aufnahmeschlüssel in Höhe von einem Prozent ihrer Wohnbevölkerung verständigt (Beschluss der IMK vom 11./12. Dezember 2014). Auf dieser Grundlage planen und bereiten sie großräumige Evakuierungen vor.)

"Massenanfall von Verletzten" – und Toten?

Vier Seiten weiter wird der Gefährlichkeit ein wenig mehr Rechnung getragen: "Die Länder treffen Vorkehrungen, um bei einem friedenszeitlichen Massenanfall von Verletzten einen erhöhten Bedarf der medizinischen Versorgungseinrichtungen an Sanitätsmaterial (Arzneimittel und Medizinprodukte) abdecken zu können." (IMK-Beschluss, Seite 28)

Ein Massenanfall von menschlichen Überresten wird nicht erwähnt, aber für den Fall eines Krieges ist klar, dass es neben einem Massenanfall an Verletzten noch mehr zu bewältigen gibt:

Die Fähigkeit Bergung und Rettung beinhaltet folgende Teilfähigkeiten:

  • Orten, Retten und Bergen von Menschen und Sachwerten,
  • Räumen und Sprengen,
  • Abstützen von Bauwerken und Bauwerksteilen,
  • Stabilisierung nach Beschädigung
  • Retten und Bergen auf dem Wasser.
IMK-Beschluss, Seite 42

Alle Gefahren durch Kriegsereignisse oder einen größten anzunehmenden Unfall in einem Atomkraftwerk geht die EU ein, wenn sie gleichzeitig die Atomkraft als nachhaltig ausweist und damit ihren Ausbau fördert, während sie sich zugleich militärisch konkret auf einen Krieg in Europa vorbereitet.

"Im Falle einer neuen Krise könnten Truppentransporte aus Mittel- und Westeuropa ins Baltikum jedoch möglicherweise zu lange dauern", hieß es in einer Meldung der Nachrichtenagentur dpa bereits 2018.

Ein Problem aus Sicht der EU-Kommission sei es, dass besonders schwere oder überdimensionierte Militärfahrzeuge nicht überall auf Europas Straßen fahren könnten. Die Behörde wollte bis 2019 Verkehrswege in Europa auf ihre militärische Tauglichkeit überprüfen.

Das aktuell vom EU-Außenbeauftragten Josep Borrell vorgelegte sicherheitspolitische Konzept, das dieses Jahr zur Beschlussfassung vorgesehen ist, sieht eine militärische Eingreiftruppe von bis zu 5.000 Soldaten mit Bodentruppen sowie Luft- und Seestreitkräften vor, die im Fall eines Konflikts schnellstmöglich zum Einsatz an die Stelle des Geschehens verbracht werden sollen:

Das bisherige EU-Battlegroup-Konzept sieht vor, dass ständig zwei Einheiten mit im Kern jeweils rund 1500 Soldaten bereitgehalten werden, die alle sechs Monate wechselnd von unterschiedlichen EU-Staaten zur Verfügung gestellt werden. Zuletzt hatte es allerdings (...) Probleme gegeben, genügend Truppen zusammenzubekommen. So gibt es derzeit beispielsweise nur eine Battlegroup. Zum Einsatz kamen die EU-Kräfte noch nie.

dpa

Die Chemie-Anlagen, weitere ökologisch belastete Industriegebiete und die hochempfindliche digitale Vernetzung der Einrichtungen des öffentlichen Lebens und der Haushalte erzwingen, dass es zu einem derartigen Waffengang in unserem Erdteil nie kommen darf.

Gefährliche Reaktoren in der Ukraine

Die Gefahr ist allerdings noch weit ernster: Im Mai 2014 hat die Nato die sogenannte Übergangsregierung Jatsenjuk in der Ukraine darin beraten, wie sie mit den 15 Atomreaktoren im Land umgeht: Eine Sensation sei eher beiläufig ans Licht gekommen und von der Öffentlichkeit bislang weitgehend unbeachtet geblieben, hieß es damals.

Gegen Ende der Frage-und-Antwort-Runde seiner Pressekonferenz am 19. Mai sagte der damalige Nato-Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen: "Ja, wir haben auf Bitten der Ukraine eine kleine Gruppe ziviler Experten in die Ukraine entsandt, um den Behörden zu helfen, die Sicherheit ihrer zivilen Nuklearanlagen zu verstärken."

Allein, in der Ukraine, dem Land, in dem die Ruine von Tschernobyl eine Zeitbombe ist, sind 15 Atomreaktoren aktiv.1

Ein zerbombtes Krankenhaus ist ein zerbombtes Krankenhaus, ein getroffenes Atomkraftwerk ist eine Atombombe. Der Ausbau einer Nuklearindustrie und die gleichzeitige Vorbereitung eines Krieges, beides in Kombination ist eine Infragestellung der Existenz nicht nur der europäischen Zivilisation.

Anders als die österreichischen Grünen hat Bündnis 90/ Die Grünen in der Ampel-Koalition keine Klage gegen den Taxonomie-Plan der EU-Kommission angekündigt.

Eine grundsätzliche Antwort auf das Himmelfahrtskommando der EU sieht anders aus. Es reicht nicht, wie Robert Habeck von einer 'Verwässerung' des "guten Labels Nachhaltigkeit" zu sprechen.

Die hier drohenden Gefahren rufen die Verantwortung der Friedens- und der Ökologiebewegung für die Zukunft nicht nur Europas auf den Plan. Die Aktivitäten der nächsten Zeit erfordern die Verbindung der ökologischen Forderungen mit denen nach Abrüstungs- und Friedenspolitik, so bei den Aktionen gegen die sogenannte Münchner Sicherheitskonferenz im Februar und demnächst auf den Ostermärschen für den Frieden.