Wie Corona die Angst in die Linke getragen hat

Zu Hause bleiben ist nicht immer die beste Idee. Bild: Pxhere, CC0 Public Domain

Und warum die Ideologie der "Sprecherposition" eine unvoreingenommene Sicht auf die gesellschaftliche Lage verhindert. Eine Spurensuche mithilfe von Marx, Brecht und Bloch

Immer wenn Rechte ihre politischen Vorstellungen mit persönlichen Ängsten (etwa vor Migranten) begründen, finden sich sehr schnell Linke oder liberale Akademiker, die völlig zurecht darauf verweisen, dass diffuse Empfindungen keine logischen Argumente ersetzen können und Angst prinzipiell kein guter Ratgeber sei.

Man spricht da lieber von "Herausforderungen", die zu "meistern" seien. Während der Corona-Pandemie scheinen das zumindest einige vergessen zu haben. Plötzlich war es vor allem bei Linken beliebt, mit ihren Ängsten – diesmal vor Krankheit – zu argumentieren.

Die Auffassung, der Wahrheitsgehalt einer Äußerung sei von der Person, von deren Sprecherposition abhängig, entstammt nicht dem Ideen-Fundus identitätspolitischer Aktivisten, sondern ist eine traditionelle bürgerliche Denkweise. Alle tun das: "Wenn die Person, die ich mag, es sagt, dann wird es schon stimmen.

Wenn jene Person, die mir nicht passt, dasselbe sagt, stimmt es sicher nicht." Seit jeher existiert ein bürgerlicher, liberaler Aktivismus, der Sätze nicht danach beurteilt, ob deren Inhalt wahr ist, sondern ob einem der Aussagende sympathisch ist, welches Interesse er vertritt. Das Denken in Sprecherpositionen ist also schon immer selbstverständlich. Um den reinen Inhalt eines Satzes geht es kaum jemandem.

Das Brecht'sche Motto "Findest du deinen Gedanken bei einem andern: verleugne ihn" stand offenbar Pate bei jenen Linken, die sich während der Pandemie über die Angstlosigkeit anderer empört haben. Die Maßgaben von Kontaktbeschränkung und Selbstisolation zu Hause bot vielen von ihnen die unverhoffte Möglichkeit, ihren ohnehin vorhandenen Ängsten und das sowieso gepflegte Stubensitzen einmal den Nimbus der Vorbildlich- und Fürsorglichkeit zu verleihen.

Wenn sich zwei Sprecherpositionen (früher nannte man sie: Interessen) in ihren politischen Zielen entgegengesetzt sind, können sie trotzdem dieselben Inhalte verkünden: Das Publikum wird ihre Worte schon zu deuten wissen, nämlich im Sinne des jeweiligen Interesses.

Die Aussagekraft eines Satzes also erschöpft sich nicht in Semantik. Sie ist allerdings auch mehr als bloßer Ausdruck einer Sprecherposition, sondern vielmehr Teil eines gesellschaftlichen, politischen, ökonomischen Zusammenhangs, in dem die Wahrheit eines Gedankens sich erst herausbildet. Hinter der Wirklichkeit der Sprache aber stehen immer noch die Gewehrläufe; wer die Macht hat, kann jedes Wort so einsetzen, dass es in seinem Interesse zu wirken beginnt.

So kann gut beraten sein, auch seinen eigenen Gedanken im Brecht'schen Sinne zu leugnen, wer ihn in neuem Zusammenhang wieder findet. Schließlich macht die Öffentlichkeit mit den Äußerungen, was sie will, reißt sie aus ihrem Zusammenhang, stellt sie in einen anderen, konstruiert fantastische Narrative um sie herum, sodass schon ihre Urheber selbst sie gar nicht mehr als ihre eigenen wiedererkennen.

Vom Recht, recht zu haben

Der Dialektiker Ernst Bloch fand, es gebe Leute, die nicht das Recht hätten, recht zu haben. Er verweist mit dem Rechthaben auf eine Ebene, auf der es um mehr als das richtig oder falsch eines Inhalts geht, nämlich um die Haltung, die gesellschaftliche Wirklichkeit einer Person, die sich in einer Aussage widerspiegelt. Dass es beim Rechthaben nicht darum geht, ob ein Satz wahr ist, sondern um das Verhältnis von Aussage und Aussagendem.

Hält man, wie Bloch, eine Person für falsch (also im falschen Zusammenhang befindlich, als nicht zugehörig, oder ein doppeltes Spiel spielend, heuchelnd), wird zwar dem Inhalt ihres Satzes, sofern er denn zutrifft, Wahrheit bescheinigt, aber das Verhältnis des Aussagenden zu dieser Wahrheit des ausgesagten Satzes erscheint dann als unrichtig.

Leute, die Sätze als Aussagen bewerten, meinen zwar, sie beurteilten den Satz, doch tatsächlich beurteilen sie das Verhältnis von Aussagendem zur Aussage. Die Sympathie zum jeweils Sprechenden ist innerhalb des bürgerlichen Meinungsmarkts immer schon mit eingepreist in der Beurteilung des Gesagten. Die Ideologie der Sprecherposition ist daher seit langem Normalität.

Zu unterscheiden ist also zwischen der Richtigkeit und der Wahrheit einer Aussage. Die Aussage kann Wahrheit beinhalten, die Richtigkeit hingegen hängt an der gesellschaftlichen Realität, in der die Aussage getätigt wird. In der Linguistik bildet die Erforschung dieses Verhältnisses neben der Semantik (Bedeutung von Zeichen) und der Syntaktik (Beziehungen von Zeichen zueinander) einen dritten Zweig, die Pragmatik.

Richtigkeit ist mehr als eine bloße abstrakte Wahrheit; sie besagt, ob die Wahrheit auch auf die konkrete Situation anwendbar - pragmatisch – bleibt – ob sie passt. Zum Beispiel ist die Aussage "Alle Menschen sterben" wahr. Wenn dieser Satz aber als Antwort auf die Frage "Mein Kind ertrinkt gerade, können Sie mir bitte helfen?" von einer besorgten Mutter am Schwimmbeckenrand geäußert wird, ist er - in diesem Zusammenhang -, zwar nicht unwahr, aber unrichtig.

Die Wahrheit eines Satzes wird also von der Person, die ihn spricht, nicht getrübt. Trotzdem kann die Richtigkeit einer Aussage, als die der Satz gesellschaftlich wirksam ist, angebracht von einer bestimmten Person mit einer bestimmten Haltung zu einem bestimmten Zeitpunkt und einer bestimmten Position in der Gesellschaft, also in einem bestimmten Zusammenhang, zurecht in Zweifel gezogen werden, auch wenn der abstrakte Satz wahr ist. Die Wahrheit ist also noch nicht der Garant für die Richtigkeit eines Satzes, die nur in Relation bestimmt werden kann. Das meinte Wolfgang Kohlhaase, als er schrieb, es ließe sich mit der Wahrheit auch lügen - und sogar "am besten".

Identitätspolitik, Dante und Pipi Langstrumpf

Die heute identitätspolitische Sprecherpositionsgesinnung wiederum gibt sich einer Täuschung hin, indem sie jeden Satz, der irgendwo geschrieben steht oder gesagt wird, als eine solche Handlung, als einen Sprechakt auffasst, selbst wenn er nicht in einem direkten sozialen Kontext fällt, sondern etwa in einem alten Buch steht

Für sie scheint es keinen syntaktischen und semantischen Rahmen von Sprache zu geben, sondern nur noch den pragmatischen. Diese Auffassung führt bisweilen zu einer sich aktivistisch verstehenden Verzagtheit, die etwa in Neuübersetzungen alter Werke Wörter – oder im Falle der neuen niederländischen Übersetzung von Dantes "Inferno" eine ganze Passage über Mohammed – streicht, um niemanden unnötig zu verletzen.

Das ist in den wenigen Fällen von z.B. Pippi-Langstrumpf-Büchern, deren Übersetzungen einer modernen, nicht mehr rassistischen Sprache angeglichen werden, sicher nicht das Problem, zu dem es die rechten Aufgeregten machen wollen. Würden aber literarische Klassiker allesamt nach der Maßgabe ediert, ob Leser verletzt reagieren könnten, bliebe von den meisten Werken der Weltliteratur nicht mehr viel übrig.

Der einzelne, objektive Satz ist stets eingebettet in einen Zusammenhang, der die Objektivität des Satzes überhaupt erst herzustellen imstande ist. Solche Zusammenhänge gehen über das Empfinden einzelner Personen hinaus. Diejenigen, die Sprecherpositionen verabsolutieren, verfahren also auf dieselbe Weise, die sie ihren Gegnern vorwerfen: sie achten nicht auf den gesellschaftlichen Kontext.

Zunächst ist nichts falsch daran, den Inhalt von Gesagtem darauf zu prüfen, wer ihn geäußert hat. Aber zum einzigen Maßstab, also zum System, zur Ideologie und vor allem: zum politischen Instrument erhoben, stiftet das die Verwirrungen, die zur Zeit umherspuken - und nicht nur bei den Identitätspolitischen.

Dagegen ist an die Vorgehensweise des dialektischen Materialismus zu erinnern: Dessen Urheber, Marx und Engels, hatten im Sinn, nicht die bloßen Aussagen zu betrachten, sondern immer die gesellschaftliche Formation, die sie hervorbringt: Sie stellten die materiellen sozialen Verhältnisse in den Mittelpunkt ihrer Analyse. Den Großteil der heutigen identitären Einlassungen hätten sie als undialektisch, als nicht zum Kern, also zum Materiellen, findend, als "deutsche Ideologie", als Idealismus verworfen.

Eine Tendenz der Sprecherposition-Verabsolutierung ist der Rückfall in Authentizitätshuberei, die einzelne Wörter, Äußerungen, Urteile nur als authentischen Ausdruck von auf bestimmte Identitäten festgelegten Sprechern herunterbricht. Das führt aber letztlich nur zur Frage von "Glaubwürdigkeit", deren Kriterium immer ist, wie geschickt denn eine Lüge vorgebracht wurde. Das Dilemma der Glaubwürdigkeit-Maßstabs ist zudem immer, dass er auf alle Sprecher anwendbar ist: Der Vorwurf der Unglaubwürdigkeit kann auf den zurückfallen, der an der Glaubwürdigkeit anderer zweifelt. So fallen die Positions-Konstruktionen auf ihre Verteidiger zurück.

Dumm bleibt dumm, auch im Falle Unterdrückter

Idealistisch im Marx'schen Sinne, also dumm, ist das Sprecherposition-Argument, wenn es Dummheiten verteidigen will, bloß weil sie von einer bestimmten (und sei's unterdrückten) Person oder Gruppe geäußert werden. Materialistisch, also vernünftig ist es, wenn sie die Aussagen und Ideale darauf prüft, welche materiellen Interessen, welche Klassenzugehörigkeit der sie Verkündende hat.

Die dialektische Analyse der materiellen Verhältnisse aber geht darüber noch hinaus. Sie bleibt nicht bei einzelnen Personen stehen, sondern sieht größere gesellschaftliche Zusammenhänge, Staaten, Klassen, die ebenso Identitäten, Interessen und Sprecherpositionen haben. Auch der herrschenden bürgerlich-liberalen Öffentlichkeit wird eine Identität zugeschrieben, auch sie spricht aus einer bestimmten (Klassen-)Position. Und ihr politisches Funktionieren ist darauf angewiesen, Verhältnisse als Identitäten, Beziehungen als Dinghaftes, also Unveränderbares zu verabsolutieren.

Daher überrascht wenig, dass es in dieser Öffentlichkeit hauptsächlich um Subjektives, nicht Überprüfbares - also persönliche Empfindungen und Vorstellungen - geht, statt um Objektives wie Haltungen, Begriffe, materielle Interessen und Klassenzugehörigkeiten.

In dem, was Marx und Engels als "deutsche Ideologie" bekämpften - nämlich das Denken in bloßen Etiketten, Symbolen und anderen ideellen Faktoren in Absehung von der materiellen Wirklichkeit - treffen sich heute sowohl betroffenheitslinke Identitätspolitik wie reaktionärer Liberalismus. Die Kritik der Sprecherposition-Ideologie kann nur eine Kritik der deutschen, der herrschenden Ideologie sein, weswegen etwa die Untergebenen des Springerkonzerns denkbar ungeeignet für diesen Job sind.

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