"Wie Hooligans": Israels Gaza-Feldzug 2008 und 2009
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Das brutale Vorgehen gegen Palästinenser hat sich abgezeichnet. Ebenso wie der Umgang mit den Kritikern der Armee. Ein kommentierender Rück- und Ausblick.
Die Operation "Gegossenes Blei" zeigte schon vor 15 Jahren das gewaltsame Ende von Politik. Und offenbart Parallelen einer Tragödie. Mit einer bösen Ahnung: Warum die Grenzen zwischen Staatsgewalt und Terrorismus verschwimmen.
Israel macht mehr und mehr von sich reden als Staat mit besonderer Lizenz zum Töten. Wer im Meinungskorridor nicht mitmarschiert, ist plötzlich Antisemit. Am Gaza-Desaster zeigt sich jedoch etwas, wofür Israel geradezu ein Muster abgibt: Die fatale Dialektik von Staat und Krieg. Und da gibt es eine spezielle Gaza-Vorgeschichte, in mehr als einer Hinsicht problematisch.
Der aktuell in Gaza wütende Krieg hat ein Vorspiel, das 15 Jahre zurückliegt, woran es insofern heute einmal mehr zu erinnern gilt: Die israelische Militäroffensive Cast Lead ("Gegossenes Blei") vom Winter des Jahres 2008/2009. Es ist bestürzend, wie die Verhältnisse einander gleichen, auch in den Mitteln der Rechtfertigung; und sich an Härte (Gnadenlosigkeit) und Blutvergießen indes ins Extreme steigern.
Die Militäraktion um die Jahreswende 2008/2009 hielt die Welt in Atem. Die Zeitschrift Vereinte Nationen (VN) nannte in ihrer Ausgabe 6/2010 unter Berufung auf den Untersuchungsbericht der UN (im Folgenden "Goldstone Report") sowie auf weitere Quellen, darunter Ärzte ohne Grenzen, nähere Einzelheiten. Hier kann nur ein grober Überblick gegeben werden.
Kalkulierter Tod
Bei der Operation, die – gleich wie im Gazakrieg heute – als Antwort auf Raketenangriffe der Hamas offiziell legitimiert und seitens der israelischen Regierung als alternativlos eingestuft wurde, verloren in den drei Winterwochen zwischen dem 27. Dezember 2008 und dem 18. Januar 2009 schätzungsweise 1.400 Palästinenser ihr Leben, unter ihnen 350 Kinder; 13 Israelis starben.
Um diese Jahreszeit können in Gaza die Temperaturen morgens und abends auch unter 10 Grad fallen, es ist also kalt. Kritiker behaupteten, schon dies sei Bestandteil des Kalküls gewesen.
Der UN-Bericht, nach dem Kommissionsvorsitzenden Richard Goldstone benannt, bietet ambitionierte 450 Seiten voll mit Fakten und Problematisierungen.1 Die englische Bezeichnung der Kommission lautete: "UN Fact-Finding Mission on the Gaza Conflict".
Fact-Finding Mission
Goldstone, ein profilierter südafrikanischer Jurist und Völkerrechtler, 1938 in Johannesburg geboren, entstammt einer jüdischen Unternehmerfamilie. Anfang April 2009 wurde Goldstone von der UN-Menschenrechtskommission beauftragt, mögliche Menschenrechtsverbrechen während der israelischen Militäroperation "Gegossenes Blei" aufzudecken.
Neben der Dokumentation und Rekonstruktion des eigentlichen Kriegsgeschehens schloss Goldsteins Fact-Finding Mission eine Fülle rechtlicher Fragen ein, wie diese:
Konnte sich Israel auf das Selbstverteidigungsrecht stützen? Ist es im Gaza-Streifen "Besatzungsmacht" im Sinne des Völkerrechts? Hat es im Zuge der Operation gegen Völkerrecht verstoßen?
Der Goldstone-Bericht zum Gaza-Krieg 2008/2009 aus Sicht des Völkerrechts, VN 6/2020
Die "Goldstone-Gefahr"
Vorweg gesagt, kaum je hat ein UN-Bericht dermaßen viel Aufsehen erregt, so urteilten jedenfalls alsbald Beobachter und Experten. Kurz nach Erscheinen am 15. September 2009 war der Bericht in aller Munde. Die israelische Regierung hatte Goldstones Ermittlungen allerdings boykottiert.
Aus gutem Grund: Ministerpräsident Benjamin Netanjahu sah sich unter Druck und stufte den Bericht glatt als Bedrohung für Israel ein, indem er ihn die "Goldstone-Gefahr" nannte.
Einige der Fakten. Die folgenden Angaben stammen aus dem Goldstone Report unter Mitverwendung von Norman G. Finkelstein: Israels Invasion in Gaza, März 2011, sowie Angaben der AG Friedensforschung.
Operation Gegossenes Blei
Am 27. Dezember 2008 vormittags startete Israel die Operation "Gegossenes Blei"; in den Straßen Gazas herrschte dichter Passantenverkehr. Mehr als 300 Menschen starben allein an diesem Tag. "In der ersten Woche griff Israel Gaza aus der Luft an. Ab dem 3. Januar 2009 kamen zum Luftbombardement Angriffe der Bodentruppen hinzu."
Das israelische Luftwaffenkorps, das "über die modernsten Kampfflugzeuge der Welt verfügt", flog laut Finkelstein annähernd 3.000 Einsätze über Gaza und warf 1.000 Tonnen Sprengstoff ab. "Von der israelischen Armee waren mehrere Brigaden im Einsatz, die über ausgefeilte Spähtechnik und hoch entwickelte Waffen verfügten, darunter Roboter und mithilfe von Bildschirmübertragung ferngesteuerte Gewehre."
Während des Angriffs, so Finkelstein weiter, schossen palästinensische Gruppen rund 570 meist rudimentäre Raketen sowie 200 Mörsergranaten auf Israel ab. Am 18. Januar trat eine Waffenruhe in Kraft, "aber die wirtschaftliche Strangulierung Gazas wurde fortgesetzt."2
In der Mehrzahl: Zivile Todesopfer
Mehr als die Hälfte der 1.400 palästinensischen Todesopfer waren Zivilisten, andere Quellen sprechen von bis zu vier Fünfteln. Etwa 5.400 weitere Personen auf palästinensischer Seite wurden verletzt, darunter 1.872 Kinder und 800 Frauen. Mehr als 20.000 private und öffentliche Häuser und Einrichtungen wurden zerstört. Auf israelischer Seite forderten die Kämpfe und der Beschuss israelischer Städte 13 Tote, darunter drei Zivilisten.3
Wie Finkelstein im Nachgang festhielt, wurden von Israel außerdem zerstört und beschädigt: Fast die Hälfte der 122 Gesundheitseinrichtungen Gazas (darunter 15 Krankenhäuser), 29 Krankenwagen, 280 Schulen und Kindergärten, 45 Moscheen, 1.500 Fabriken und Werkstätten, Anlagen für die Strom- und Wasserversorgung, Klärwerkanlagen, 190 Gewächshausanlagen, 80 Prozent der Ernten und fast ein Fünftel der landwirtschaftlichen Nutzfläche.
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Finkelstein beruft sich u. a. auf Human Rights Watch, demnach zündete Israel "phosphorhaltige Munition mehrfach über Wohngebieten: Dabei wurden Zivilisten getötet und verletzt und zivile Gebäude beschädigt, darunter eine Schule, ein Markt, eine Lagerhalle für humanitäre Hilfsgüter und ein Krankenhaus."
Fatal: Die "Militärische Logik"
Zentralen Raum im Goldstone-Papier nimmt die Dokumentation von Verstößen gegen Regeln zum Schutz der Zivilbevölkerung ein. Staaten sind verpflichtet, zwischen militärischen und zivilen Zielen zu unterscheiden; unverhältnismäßige Angriffe sind verboten. Diese Gebote, so die Kritik, hat die israelische Armee in vielfacher Weise verletzt.
Die UN Mission unter Goldstones Leitung befasste sich direkt mit zahlreichen Vorfällen, bei denen Frauen und Kinder infolge von absichtlichen oder wahllosen Angriffen der israelischen Streitkräfte getötet wurden und dokumentierte gezielte Angriffe auf die Zivilbevölkerung, die keiner "militärischen Logik" folgten, darunter auf Zivilisten, die sich ergeben wollten.4
Der Fall der Familie al-Samuni
Israels Boykott betraf vorwiegend diese Sachverhaltsermittlung, die in illustrativer Weise relevante Einzelfälle herausgreift, darunter den Fall der Familie al-Samuni, der zu trauriger Berühmtheit gelangte. Goldstone selbst nannte ihn den "schwerwiegendsten Vorfall", mit dem sich der Kommissionsbericht befasst habe.
Am kalten Wintermorgen des 5. Januar 2009 schoss demnach das israelische Militär in der Nähe eines Kommandopostens von Kampfhubschraubern aus auf eine Gruppe von Männern, die Feuerholz zum Haus der Familie al-Samuni trugen. Weitere Geschosse schlugen in dem Haus ein. Insgesamt wurden bei diesem Vorfall 29 Mitglieder der Familie getötet und elf verletzt, darunter Frauen und Kinder.5
Die Statistik der Todesopfer zeugt nicht von einem Krieg, sondern von einem Massaker, schreibt der Autor.
AG Friedensforschung
Blockade!
Mitte Dezember 2008, also kurz vor der Militäroperation, hatte das UN-Büro für die Koordinierung humanitärer Angelegenheiten (Ocha) bereits eine Studie über die verheerenden Auswirkungen der Gaza-Blockade veröffentlicht.
Die Verschärfung der Blockade in den zwei Monaten vor Gegossenes Blei brachte für die Programme und Aktivitäten der Vereinten Nationen, zum Beispiel seitens des UNRWA und des WFP, bedrückende Einschränkungen mit sich, dies betraf Nahrungsmittel und andere Formen der Unterstützung der Bevölkerung im Gazastreufen.
Während der Militäroperation wurden auch UNRWA-Mitarbeiter und Lastwagen getroffen, es gab Todesopfer und Verletzte; diese Vorfälle wurden eigens untersucht und dokumentiert.