Wie Israel für seine Gaza-Säuberungspläne die Soldaten ausgehen

David Goeßmann
Soldaten der 36. Einheit des israelischen Militärs bei Operationen im Gazastreifen am 5. April 2025.

Soldaten der 36. Einheit des israelischen Militärs bei Operationen im Gazastreifen am 5. April 2025. Bild: IDF

Es ist die größte Rekrutierungskrise seit Jahrzehnten. Doch die Netanjahu-Regierung treibt das kriegsmüde Land weiter an die Front. Ist sie zum Scheitern verurteilt?

Der israelische Verteidigungsminister Israel Katz droht, Gaza weiter zu verkleinern und zu isolieren, während die Militäroperationen in der Küstenenklave intensiviert werden. "Gaza wird kleiner und isolierter werden, und immer mehr seiner Bewohner werden gezwungen sein, die Kampfgebiete zu verlassen", sagte Katz in einem Beitrag auf seinem X-Account.

Sicherheitszonen und Säuberung

Manche Gebiete seien schon "Teil der israelischen Sicherheitszone" geworden, die nun erweitert werden soll. Das Militär werde dort anders als zuvor auf unbestimmte Zeit verbleiben.

Er sagte auch, dass keine Hilfe nach Gaza gelangen wird, und fügte hinzu, dass Israel Lebensmittel als Druckmittel gegen die Hamas einsetzt, während von unterschiedlicher Seite die Aufhebung der Blockade des Gazastreifens gefordert wird.

Diese Äußerungen müssen vor dem Hintergrund gesehen werden, dass von der israelischen und der Trump-Regierung in den USA in den letzten Monaten immer wieder erklärt worden ist, die palästinensische Bevölkerung, über zwei Millionen Menschen, zu evakuieren bzw. zum "freiwilligen" Weggang in andere Länder zu bewegen.

Umzäunte Lager

Beim Besuch Netanjahus im Weißen Haus in Washington D.C. am 8. April wiederholte der US-Präsident Donald Trump den Plan, die Palästinenser aus Gaza zu vertreiben, wie er ihn schon bei einem früheren Treffen am 4. Februar ins Spiel gebracht hatte. Seit die USA grünes Licht für die Operation "freiwillige Auswanderung" gegeben haben, hat Israels Sicherheitskabinett damit begonnen, Vorbereitungen für die Umsetzung zu treffen.

Doch das Vorhaben ist unter den gegebenen Umständen kaum umsetzbar, einerseits, weil die Gaza-Bewohner auch unter weiterem Bombenhagel ihre Heimat nicht verlassen wollen, und andererseits, weil kein Land bereit ist, sie aufzunehmen. Das habe die Netanjahu-Regierung wahrscheinlich auch realisiert, so der israelische Journalist Meron Rapoport auf den Nachrichtenseiten Local Call (auf Häbräisch) und +972 Magazine mit Sitz in Tel Aviv.

Daher habe man einen Zwischenschritt eingefügt. Israel bereite sich nun darauf vor, so Rapoport, die gesamte Bevölkerung von Gaza – durch eine Kombination aus Evakuierungsbefehlen und intensiver Bombardierung – in ein umschlossenes und möglicherweise eingezäuntes Gebiet zu vertreiben. Jeder, der sich außerhalb dieser Grenzen aufhalte, sei ein legitimes Feindziel. Gebäude im gesamten Rest der Enklave werden wahrscheinlich dem Erdboden gleichgemacht.

Riviera-Plan durch die Hintertür

Eine derartige Strategie der Kasernierung legten Militärleaks sowie Aussagen von Verteidigungsminister Katz und israelischen Journalisten nahe, die von Evakuierungen der Bevölkerung aus den Kampfzonen in "humanitäre Zonen" sprechen, die vom israelischen Militär kontrolliert werden, während an der Option "Umsiedlung" in andere Länder als Zielperspektive festgehalten wird. Wobei Rapoport hinzufügt:

Diese "humanitäre Zone", wie [der Journalist] Magal sie freundlich benennt, in der die Armee die zwei Millionen Einwohner des Gazastreifens einzusperren gedenkt, ist tatsächlich mit einem Wort zusammenfassen: Konzentrationslager. Das ist keine Übertreibung, sondern einfach die präziseste Definition, die uns hilft, besser zu verstehen, womit wir es zu tun haben.

Der Plan gehe dabei davon aus, dass Hunger und Verzweiflung, aber auch fehlende Hoffnung, jemals wieder eine lebensfähige Zukunft in einem völlig zerstörten Gaza zu haben, die Palästinenser dazu bringen, auszuwandern und die arabischen Länder zu drängen, sie aufzunehmen.

Ob das israelische Militär (IDF) oder die Regierung in Tel Aviv bereit sind, den "Riviera-Plan" (nach Worten von Trump) tatsächlich umzusetzen, bleibt eine offene Frage. Denn er beinhaltet eine ganze Reihe von Hindernissen und Problemen – wie der Tod der verbleibenden israelischen Geiseln, sich vergrößernder politischer Druck auf Netanjahu vonseiten der israelischen Protestbewegung und die weitere internationale Isolierung Israels, insbesondere im arabischen Raum.

Über 100.000 Reservisten verweigern Dienst

Zudem stellt sich die Frage, ob der Plan überhaupt militärisch realisierbar ist. Denn die Hamas besitzt weiter die Fähigkeit, den israelischen Truppen schwere Verluste zuzufügen, wie vor dem Waffenstillstand zu beobachten war. Das wiederum könnte eine andere Tendenz verstärken, die seit einiger Zeit im Gang ist.

Denn der IDF kommen die Soldaten abhanden. Israel kann neben den 100.000 regulären Streitkräfte seit dem 7. Oktober 2023 auf rund 300.000 Reservesoldaten zurückgreifen. Doch von denen erscheinen laut Schätzungen nun nur noch 50 bis 60 Prozent zum Dienst, ein enormer und rapider Schwund.

Der Rückgang beläuft sich auf über 100.000 Streitkräfte, die nicht mehr der Kriegsführung zur Verfügung stehen. "Das ist eine enorme Anzahl", erklärt Ishai Menuchin, einer der Leiter der israelischen Organisation Yesh Gvul ("Es gibt eine Grenze"), die Wehrdienstverweigerer vertritt und während des Libanon Kriegs 1982 gegründet wurde.

"Das bedeutet, dass die Regierung ein Problem haben wird, den Krieg fortzusetzen." Es sei die größte Verweigerungswelle seit Jahrzehnten, so Menuchin.

Anwerbungen für Gaza-Eroberung

In der militärischen Führung scheint dann auch die Befürchtung umzugehen, dass man nicht mehr über eine Armee verfügen wird, um Gaza zu erobern, die Palästinenser zu kasernieren und zum Verlassen zu drängen. Nach 18 Monaten Krieg sind viele der Soldaten müde, zahlreiche Einheiten geschrumpft, so dass die Kommandanten beginnen, mit Social-Media-Posts und unkonventionellen Methoden neue Reservisten anzuwerben.

Die Vorzeichen haben sich damit seit dem 7. Oktober umgekehrt. Damals strömten selbst die Netanjahu-Protestierende, die gegen dessen Justizreform auf die Straße gegangen waren und den freiwilligen Dienst eingestellt hatten, zur Armee und versammelten sich um die Flagge.

Doch spätestens seit die Netanjahu-Regierung den Waffenstillstand kollabieren ließ und wieder auf Angriff setzte, gingen die Rekruten-Zahlen laut Medienberichten stark zurück.

Kippende Stimmungslage

Die Gründe für den Rückzug sind unterschiedlich. Es gibt einige, die sich aus moralischen und Gewissenmotiven den Einberufungsbefehlen widersetzen. Der größte Teil dürften aber sogenannte "graue Verweigerer" sein, wie Menuchin betont, die demoralisiert, erschöpft oder genervt sind, dass kein Ende abzusehen ist. Sie stehen zudem nicht mehr hinter den Zielen des Kriegs.

Die kippende Stimmungslage zeigt sich auch in der israelischen Mainstream-Öffentlichkeit, in der der Krieg mehr und mehr als Netanjahus Krieg um Machterhalt angesehen wird. Es gibt Verweigerer-Deklarationen, Meinungsartikel von Soldaten und Soldatenmüttern in den führenden Zeitungen, die sich gegen den Krieg aussprechen.

Eine ehemalige Richterin am Verfassungsgericht unterstützte in einem Interview "zivilen Ungehorsam" und ein offener Brief von weit über 1.000 Reservisten verlangte von der Regierung einen Geisel-Deal, um den Krieg zu stoppen.

Vertrauensverluste, aber Krieg geht weiter

Ein anderer Faktor, warum immer weniger Reservisten zum Dienst erscheinen, hängt damit zusammen, dass sie sich zunehmend missbraucht fühlen, während der Staat ihnen nicht hilft. Dazu kommen ökonomische Gründe. 48 Prozent der befragten Reservisten gaben in einer Umfrage an, bedeutsame Einkommensverluste hinnehmen zu müssen.

Auch wenn Risse im Vertrauen deutlich sichtbar sind, hat die Verweigerungswelle die Armee bisher nicht zum Umdenken bewegen können.

So setzt Israel seine Angriffe auf den Gazastreifen mit heftigen Bombardements fort, während Bodentruppen tiefer in die Enklave vorrücken. Die neue Offensive der israelischen Streitkräfte wurde gestartet, nachdem die Netanjahu-Regierung den zweimonatigen Waffenstillstand am 18. März aufkündigte.

"Postapokalyptische Todeszone"

Durch die wieder aufgenommenen Bombardierungswellen und die Blockade von Hilfslieferungen sind nach Angaben des Gesundheitsministeriums in Gaza seit Mitte März bereits wieder 1.630 Menschen getötet worden, darunter laut Rettungsdiensten Hunderte Kinder. Der Leiter der UN-Agentur für palästinensische Flüchtlinge (UNRWA), Philippe Lazzarini, beschreibt die aktuelle Situation in Gaza als "postapokalyptische" Todeszone.

Seit Beginn des Krieges im Oktober 2023 wurden mindestens 51.000 palästinensische Bewohner des Gazastreifens getötet und 116.343 verwundet, so das Gesundheitsministerium.

Der Internationale Strafgerichtshof hat im vergangenen November Haftbefehle gegen den israelischen Premierminister Benjamin Netanjahu und seinen ehemaligen Verteidigungsminister Yoav Gallant wegen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit in Gaza erlassen. Israel sieht sich wegen seines Krieges gegen die palästinensische Enklave auch einem Völkermordverfahren vor dem Internationalen Gerichtshof gegenüber.