Wie Israel in die Anti-Terror-Falle der Hamas getappt ist
Nach dem Massaker der Islamisten drohen Kriegsverbrechen Israels. Das entspricht einem brutalen Kalkül, meint der US-Autor Jeffrey D. Sachs. Er skizziert einen Ausweg.
Angesichts der immer bedrohlicher werdenden militärischen Auseinandersetzungen in Israel und Palästina, die mit entsetzlichen Gräueltaten auf beiden Seiten einhergehen, warnt der US-Ökonom Jeffrey D. Sachs eindringlich vor einer ethnischen Säuberung des Gazastreifens. Dies würde eine weitere Nakba (arab.: Katastrophe) bedeuten, vergleichbar mit der Massenvertreibung der Palästinenser aus ihren Häusern und ihrem Land im Jahr 1948.1
Vor einigen Tagen hat er einen weiteren Text zu diesem Thema verfasst2, den unser Autor Klaus-Dieter Kolenda mit freundlicher Erlaubnis des Autors ins Deutsche übertragen und mit einigen Zwischenüberschriften versehen hat. Von ihm stammt auch diese Zusammenfassung.
Jeffrey D. Sachs ist US-Wirtschaftswissenschaftler, Professor an der Columbia Universität in New York und Direktor des dortigen Center for Sustainable Development. Zugleich ist er Präsident des UN-Sustainable-Development-Solutions-Network. Er war Berater von drei UN-Generalsekretären und ist derzeit als Anwalt für die 17 Ziele für nachhaltige Entwicklung der Unounter Generalsekretär António Guterres tätig. Hier sein Beitrag:
Jeffrey D. Sachs: Israel läuft die Zeit davon
Israel läuft die Zeit davon, sich zu retten – nicht vor der Hamas, der ja die Mittel fehlen, Israel militärisch zu besiegen, sondern vor sich selbst.
Israels mutmaßliche Kriegsverbrechen in Gaza, die nach Ansicht des New Yorker Thinktanks Center for Constitutional Rights als beginnender Völkermord verstanden werden können, drohen, Israels zivile, politische, wirtschaftliche und kulturelle Beziehungen zum Rest der Welt zu zerstören.
In Israel mehren sich die Rufe nach einem sofortigen Rücktritt von Ministerpräsident Benjamin Netanjahu. Eine neue israelische Regierung sollte die Gelegenheit ergreifen, das Blutbad zu beenden und durch Diplomatie einen dauerhaften Frieden zu erreichen.
Netanjahu führt Israel in die gleiche Falle, in die die USA nach dem 11. September 2001 getappt sind. Das Ziel der Hamas bei ihrem abscheulichen Terroranschlag vom 7. Oktober war es, Israel in einen langen und blutigen Krieg zu verwickeln und Israel dazu zu bringen, Kriegsverbrechen zu begehen, damit sein Ruf in der Welt mit Schande bedeckt wird.
Das ist ein klassischer politischer Einsatz von Terror: nicht nur, um zu töten, sondern auch, um den Feind in Angst und Schrecken zu versetzen, zu provozieren, zu erniedrigen und schließlich seine Position zu untergraben.
Al-Qaida und die Täter von 9/11 stachelten die politische Klasse der USA dazu an, katastrophale Kriege in Afghanistan, im Irak und anderen Ländern zu begehen. Das Ergebnis war ein Gemetzel, Folter durch US-Behörden und Militärs, acht Billionen US-Dollar Regierungsschulden und der Zusammenbruch des Ansehens sowie der Macht der USA weltweit.
Die Hamas stachelt Israel in ähnlicher Weise zu Kriegsverbrechen und möglicherweise zu einem Krieg in der gesamten Region an. Israels Vorgehen bringt Israels Freunde auf der ganzen Welt gegen Israel auf.
Israels Handlungen werden vom Hass angetrieben, sodass es die Meinung der meisten Menschen in der Welt ignoriert oder für Ausdruck von Antisemitismus hält und glaubt, dass die Vereinigten Staaten Israel weiter schützen werden.
Doch die USA, geschwächt, wie sie derzeit in der Weltpolitik sind, können Israel unmöglich vor sich selbst retten. Schauen Sie sich nur an, wie die USA die Ukraine "retten": Die Ukraine wird durch ihr Streben nach Nato-Mitgliedschaft und die Ablehnung der Diplomatie zerstört. Beide Maßnahmen wurden durch US-Versprechen ermutigt, die Ukraine "so lange wie nötig" militärisch zu unterstützen.
Israels Vorgehen brüskiert seine Freunde auf der ganzen Welt
Es gibt noch eine weitere deutliche Ähnlichkeit zwischen dem 9/11 von al-Qaida und dem 10/7 der Hamas. Al-Qaida war ebenfalls eine US-Schöpfung, die sich später zum Bumerang entwickelt hat.
Durch die verdeckte Finanzierung islamischer Dschihadisten in Afghanistan für den Kampf gegen die Sowjetunion in den 1980er-Jahren trug die CIA zur Entstehung von al-Qaida bei. Im Fall der Hamas hat Netanjahu – wie gut dokumentiert ist – insgeheim die Hamas unterstützt, um die Palästinensische Autonomiebehörde zu spalten und zu schwächen.
Den Israelis wird von Netanjahu und seinem Kabinett nun gesagt, dass es keine Alternative gibt, um Sicherheit und Frieden zu erreichen, als in Gaza einzumarschieren, um die Hamas zu besiegen.
Die Duldung des Einmarsches Israels in Gaza durch die US-amerikanischen und europäischen Regierungen vermittelt dem israelischen Volk die Botschaft, dass ihre Führer die Wahrheit sagen, dass die Hamas militärisch besiegt werden kann, dass die Zahl der zivilen Opfer in Gaza durch sorgfältige militärische Operationen begrenzt werden kann und Israel zur Sicherung seiner Existenz so handeln muss.
Doch diese Ansichten führen auf einen falschen Weg und werden von derselben politischen Klasse geäußert, die im Vorfeld von 10/7 Israels Wachsamkeit sträflich untergraben hat. Die israelische Führung versucht jetzt, ihre Fehler durch den Krieg in Gaza zu vertuschen.
Die Fakten sind jedoch: Während die Hamas am 7. Oktober ihre Fähigkeit demonstrierte, einen überraschenden Terroranschlag durchzuführen, ist die Wahrheit, dass Israel an diesem Tag seine Wachsamkeit vernachlässigt hat. Durch die Stärkung seiner Grenzen und seiner Geheimdienste kann Israel die Hamas von einem erneuten Angriff abhalten.
Weiterhin ist Israel nicht dem Risiko einer militärischen Niederlage durch die Hamas auf seinem Gebiet ausgesetzt, da es über eine enorme militärische Dominanz verfügt. Das Gleiche galt für 9/11, das ein katastrophales Versagen der US-Heimatschutz- und der Geheimdienste war, aber nicht einmal im Entferntesten eine Bedrohung durch eine militärische Niederlage für USA darstellte.
Das soll nicht heißen, dass es einfach wäre, die Hamas in Gaza zu besiegen. Bei einer großen israelischen Bodeninvasion hätte die Hamas den Vorteil eines urbanen Guerillakriegs auf ihrem eigenen Territorium, und zweifellos würde eine große Anzahl israelischer Soldaten bei einer solchen Kampagne sterben.
Eine politische Lösung für Palästina muss endlich geschaffen werden
Es gibt einen völlig anderen Ansatz für Israels Sicherheit, den die politische Klasse Israels seit Jahrzehnten ablehnt, der aber der Einzige ist, der wirklichen Frieden und Sicherheit bringen kann. Es ist eine politische Lösung für Palästina, gepaart mit umfassenden, durchsetzbaren Sicherheitsvereinbarungen für Israel.
Israel sitzt auf einem Vulkan, weil es dem palästinensischen Volk seit Langem grundlegende menschliche, wirtschaftliche und politische Rechte verweigert. Gaza wurde von Human Rights Watch als Freiluftgefängnis beschrieben. Israels Besetzung Palästinas kommt nach Ansicht von Menschenrechtsgruppen wie Amnesty International einer Apartheid gleich.
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Der UN-Sicherheitsrat und die UN-Generalversammlung haben zu Recht und mit überwältigender Mehrheit eine Resolution nach der anderen verabschiedet, die eine Zwei-Staaten-Lösung fordert, zuletzt am 26. Oktober, vor wenigen Tagen.
Israel sitzt auf einem Vulkan
Leser, die sich für die detaillierte Darstellung dieser langen Geschichte interessieren, verweise ich auf die weise und wissenschaftliche Studie meines geschätzten Kollegen Professor Rashid Khalid, The Hundred Years' War on Palestine.
Der Historiker Ian Black berichtet in seinem Buch Feinde und Nachbarn: Araber und Juden in Palästina und Israel 1917-2017, dass Netanjahu, Israels dienstältester Premierminister, "nicht bereit war, die Zugeständnisse zu machen, die notwendig waren, um [die Zweistaatenlösung] möglich zu machen".
Das Versagen der politischen Klasse Israels, echte Sicherheit für Israel und Gerechtigkeit für Palästina zu erreichen, öffnet jedoch die Tür für einen anderen Ansatz.
So könnte eine diplomatische Lösung aussehen und funktionieren
Der UN-Sicherheitsrat würde sich zur Entwaffnung militanter Gruppen, einschließlich der Hamas und des Islamischen Dschihad, verpflichten. Länder, die diese Gruppen finanzieren und bewaffnen, insbesondere der Iran, würden sich bereit erklären, sich mit dem UN-Sicherheitsrat zusammenzuschließen, um diesen Gruppen im Rahmen des Friedensabkommens die Finanzierung zu entziehen und sie zu demobilisieren.
Sowohl Saudi-Arabien als auch der Iran würden im Rahmen des Friedensabkommens diplomatische Beziehungen zu Israel aufnehmen.
Israel und der UN-Sicherheitsrat würden einen souveränen, unabhängigen und sicheren Staat Palästina mit seiner Hauptstadt in Ost-Jerusalem und mit Vollmitgliedschaft in den Vereinten Nationen anerkennen. Palästina würde die souveräne Kontrolle über die heiligen Stätten der Muslime in Ost-Jerusalem erhalten, einschließlich des Haram al-Sharif.
Die fünf ständigen Mächte (P5) des UN-Sicherheitsrats – die USA, Russland, China, Großbritannien und Frankreich – befürworten alle ein solches Friedensabkommen. Tatsächlich hat Biden kürzlich die Unterstützung der USA für die Zwei-Staaten-Lösung bekräftigt.
Ferner könnte es unter den P5 Spielraum für wohlwollende Diplomatie geben. Die USA und China könnten bald ein Gipfeltreffen von Präsident Biden und Präsident Xi abhalten, und es gäbe sogar einen Schimmer der Hoffnung für Diplomatie hinter den Kulissen zwischen Russland und den USA, um den tragischen Konflikt in der Ukraine zu klären und zu beenden.
Israel droht ein verheerender Preis
Der Iran könnte für ein solches Abkommen gewonnen werden, solange das Abkommen die Normalisierung der diplomatischen und wirtschaftlichen Beziehungen des Iran mit der EU und den Vereinigten Staaten beinhaltet.
Im Jahr 2015 verhandelte der Iran mit den USA und Europa über den Joint Comprehensive Plan of Action (JCPOA), um das iranische Atomwaffenprogramm im Gegenzug für ein Ende der westlichen Sanktionen zu beenden. Es waren die USA unter Ex-Präsident Donald Trump, nicht der Iran, der sich 2018 schamlos aus dem JCPOA zurückzog.
In jüngster Zeit hat sich der Iran mit Saudi-Arabien versöhnt und ist den BRICS-Staaten beigetreten, was das Interesse des Iran an dynamischer und kreativer Diplomatie zeigt.
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Auch die übrigen UN-Mitgliedstaaten sprechen sich klar für eine Zwei-Staaten-Lösung aus. Sobald Israel ein umfassendes Friedensabkommen annimmt, wird es weltweit Freunde gewinnen und die Welt wird aufatmen.
Wenn Israel dagegen Netanjahus Gift schluckt, dass "dies eine Zeit für Krieg ist", wird Israel sich vom Rest der Welt isolieren und einen verheerenden Preis zahlen müssen.
Israels erreichbares Ziel ist somit dauerhafter Frieden und Sicherheit durch Diplomatie. Israels Freunde, angefangen bei den USA, müssen ihm helfen, sich für Diplomatie statt für Krieg zu entscheiden.
Freunde lassen nicht zu, dass Freunde Verbrechen gegen die Menschlichkeit begehen, geschweige denn, dass sie ihnen die finanziellen Mittel und Waffen zur Verfügung stellen, um dies zu tun.
Übersetzer: Klaus-Dieter Kolenda, Prof. Dr. med., Facharzt für Innere Medizin – Gastroenterologie, Facharzt für Physikalische und Rehabilitative Medizin/Sozialmedizin, war von 1985 bis 2006 Chefarzt einer Rehabilitationsklinik für Erkrankungen des Herz-Kreislaufsystems, der Atemwege, des Stoffwechsels und der Bewegungsorgane. Seit 1978 ist er als medizinischer Sachverständiger bei der Sozialgerichtsbarkeit in Schleswig-Holstein tätig. Zudem arbeitet er in der Kieler Gruppe der IPPNW e. V. (Internationale Ärztinnen und Ärzte für die Verhütung des Atomkriegs und für soziale Verantwortung) mit. E-Mail: klaus-dieter.kolenda@gmx.de