Wie Krieg in der Ukraine alles vergiftet – insbesondere die Wahrheit

Seite 2: Warum der Staatscoup im Zuge des Maidan nicht Geschichte ist

Zudem widerspricht Katchanovski der Ansicht, dass die ukrainische Regierung und das Militär Nazi oder neo-Nazi seien. Es gäbe keinen einzigen Neo-Nazi in der Regierung oder im Parlament, so der kanadische Forscher. Auch in der Streitkräften machten Neo-Nazis nur ein Prozent aus. Gleichwohl seien Neo-Nazi-Organisationen wie das Asow-Bataillon in alle Sicherheitskräfte der Ukraine integriert. Dessen Anführer drohte Selenskyj zu Beginn des Krieges auch, einen Friedensdeal mit Russland zu schließen, während seine Truppen eine wichtige Rolle beim Kampf um Mariupol im Frühjahr spielten, bei dem Augenzeugen von Exekutionen berichten.

Auch der Versuch Russlands, die eigenen Kriegsverbrechen als von der Ukraine inszenierte darzustellen, sei nicht überzeugend und falsch. Acht- bis zehntausend Zivilisten seien dort getötet worden – vor allem durch unterschiedslose Bombardierungen. Eine Reihe von Menschenrechtsberichten zeigten zudem, dass zum Beispiel in Butscha zahlreiche Opfer, nach UN-Angaben rund 50 Zivilisten, durch unrechtmäßige Tötungen und Massenexekutionen umgekommen seien. Anders als im Westen behauptet, handele es sich aber nicht um ein "zweites Srebenica", da der größte Teil der 458 Butscha-Opfer in Kriegsgefechten oder auch auf natürliche Weise gestorben seien.

Auch die ukrainischen und westlichen Narrative hätten blinde Flecken und verzerrten die Konfliktlage. So sei der russische Angriff auf das Land zwar nicht zu rechtfertigen und illegal, aber keineswegs unprovoziert und nur militärisch zu stoppen. So habe die ukrainische Regierung unter Selenskyj ihre Wahlversprechen nicht eingelöst und sei dem Minsk-Abkommen nicht gefolgt. Das habe die Situation eskaliert. Wäre Minsk umgesetzt worden, so Katchanovski, wäre der Krieg zu verhindern gewesen.

Die nach Kriegsbeginn angelaufenen Verhandlungen zwischen Russland und der Ukraine wurden im April zudem plötzlich abgebrochen, nachdem der britische Premierminister nach Kiew gereist war. Auf die Grundzüge eines Friedensvertrag inklusive ukrainischer Neutralität hatte man sich laut Berichten in Gesprächen bereits verständigt. Jetzt hieß es von Selenskyj auf einmal, dass alle Territorien zurückgegeben werden müssten, einschließlich der Krim. US-Verteidigungsminister Lloyd Austin bekräftigte, dass "man Russland derart schwächen wolle, dass es Dinge wie den Überfall auf die Ukraine nicht mehr tun könne."

Der Ukraine-Krieg ist nicht nur durch die Blockade der USA, eine diplomatische Lösung anzustreben, und die massive militärische Unterstützung und Zielsetzung längst ein Stellvertreter-Krieg, der dazu führe, den Krieg anzuheizen und zu verlängern. Auch die Ereignisse rund um die Maidan-Proteste von 2014 und die Ereignisse danach, so Katchanovski, hätten den Konflikt eskaliert und das Kriegsrisiko erhöht.

Die Analyse zeigt, dass der Maidan eine Mischung aus Massenprotest, politischer Revolution, Staatsstreich und Regimewechsel unter Führung der USA gewesen ist. Die beiden letztgenannten Elemente waren beim politischen Übergang dominant. Die Regierung Janukowitsch wurde nicht durch friedliche Massenproteste gestürzt, sondern durch inszenierte Maidan-Massaker ("false flag") an Maidan-Demonstranten und der Polizei sowie durch Attentatsversuche. Es gibt überwältigende Beweise dafür, dass das Massaker und die Attentatsversuche mit verdeckter Beteiligung einiger weniger Mitglieder der Maidan-Oligarchen und Mitglieder rechtsextremer Organisationen durchgeführt wurden. Verschiedene Beweise zeigen, dass die US-Regierung beim politischen Übergang in der Ukraine während des Maidan beteiligt war, um die prorussische durch eine prowestliche Regierung zu ersetzen und die Ukraine zu einen Satellitenstaat zu machen, um Russland einzudämmen.

Umfragen zu der Zeit zeigten, dass die ukrainische Bevölkerung hinsichtlich des Maidan gespalten gewesen ist. Die eine Hälfte neigte sich eher Europa und dem Westen zu, die andere eher Russland, während die Spaltung geographisch den Westen und das Zentrum vom Osten und dem Süden abgrenzte.

Der gewaltsame Sturz der ukrainischen Regierung mit Unterstützung der USA legitimiere natürlich nicht die russische Invasion in 2022, stellt Katchanovski klar. Aber andersherum rechtfertige der russische Krieg auch nicht den gewaltsamen Staatscoup. Beide Ereignisse seien vielmehr eng miteinander verbunden. Ohne den Konflikt und die politische Gewalt am Anfang seien die folgenden Ereignisse bis zum russischen Angriff schlicht nicht einzuordnen.

So endete der Umsturz in der russischen Annexion der Krim und im Bürgerkrieg in der Ostukraine, bei dem seit 2014 vier- bis fünftausend Zivilisten getötet wurden, was die Eskalation weiter antrieb. Aber Demokratie, so Katchanovski, zog nicht ins Land ein. Die Ukraine sei "keine Demokratie", sondern größtenteils undemokratisch – anders als von westlichen und ukrainischen Regierungen und Medien behauptet.

Nach einer kurzen Phase von relativer Demokratisierung nach der Wahl Selenskyjs, regiere der neue Präsident nun autoritär, habe das Verfassungsgericht geblockt und gehe hart gegen Oppositionsführer vor –, mit Gerichtsbeschlüssen und Landesverrats-Vorwürfen. Die Regierung ließ zudem vier Oppositions-Sender schließen.

Das Fazit von Katchanovski ist für beide Seiten wenig schmeichelhaft.

Viele Behauptungen, die von den russischen, separatistischen, ukrainischen und westlichen Regierungen und den Medien verbreitet werden, werden nicht durch Beweise gestützt. Dazu gehören die Behauptungen zu einem ukrainischen Völkermord im Donbass, einem russischen Völkermord in der Ukraine, über das Neonazi-Regime in Kiew und Morde wie Angriffe unter falscher Flagge in Buchta, Mariupol, dem Atomkraftwerk Saporischschja und dem von Separatisten kontrollierten Donbass. Der Maidan wurde von den Regierungen und den meisten Medien in der Ukraine, im Westen, in Russland und im separatistischen Donbass ebenso in unterschiedlichem Maße falsch dargestellt. Dazu gehören die Darstellungen der ukrainischen und westlichen Regierungen und – mit einigen Ausnahmen – der Medien, dass das Massaker auf dem Maidan von der Janukowitsch-Regierung und ihren Streitkräften verübt wurde. Auch die russische und separatistische Donbass-Regierung wie die Medien dort hätten die Abläufe falsch dargestellt. Die Wahrheit wurde zum großen Opfer des russisch-ukrainischen Krieges und des gewalttätigen Maidan-Konflikts.

Die Kriegslügen von Russland werden im Westen zu Recht als Lügen dargestellt. Aber was ist mit den Fehldarstellungen und falschen Narrativen bei uns in Europa, aber auch in den USA? Russland jenseits der Fakten zu dämonisieren, die Konfliktgeschichte auszublenden oder umzuschreiben, die Rolle des Westens im Konflikt schön zu färben und Verhandeln als moralisches Versagen zu diskreditieren, hält die Menschen im Westen davon ab, sich ein klares Bild von der Lage zu machen. Aber das wird dringend gebraucht.

Denn die Bevölkerung ist im Zweifelsfall der einzige Garant dafür, irrationaler Kriegstreiberei und militärischem Absolutismus ihrer Regierungen entgegen zu treten. Darum steht Propaganda in Kriegszeiten derart hoch im Kurs, wenn Mäßigung nicht erwünscht ist.

"Krieg vergiftet alles", hat einmal der US-Historiker Howard Zinn geschrieben, der im Zweiten Weltkrieg als Kampfpilot in den "guten Krieg" zog, Bomben über angebliche Nazi-Nester in Frankreich abwarf und später herausfand, dass er dort französische Mütter, Väter und Kinder tötete. Auch der Ukraine-Krieg ist toxisch und vergiftet alles, nicht zuletzt die Wahrheit. Ein gefährlicher Effekt und eine schwer zu kontrollierende Dynamik vor dem Hintergrund der allzu realen Atomkriegsgefahr am Rand Europas.

Empfohlener redaktioneller Inhalt

Mit Ihrer Zustimmmung wird hier eine externe Buchempfehlung (Amazon Affiliates) geladen.

Ich bin damit einverstanden, dass mir externe Inhalte angezeigt werden. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen (Amazon Affiliates) übermittelt werden. Mehr dazu in unserer Datenschutzerklärung.